ÜNIV.Of TORONTD LlBRAR> WM FORUM-BÜCHER BERATENDES KOMITEE THOMAS MANN- RENE SCHICKELE FRANZ WERFEL - STEFAN ZWEIG D.e FORUM-Bücber werden gemeinschaftlich herausgegeben von den Verlagt BERMANN-FISCHER, STOCKHOLM ALLERT DE LANGE, AMSTERDAM QUERIDO, AMSTERDAM Copyright 1938 hy Querido Verlag N.V Amsterdam j Printed in the Netherlands Druk: NV. Drukkery en Uitgevery J. H. de Bussj, Amsterdam LUDWIG TIECK. Der blonde Eckbert. In einer Gegend des Harzes wohnte ein Ritter, den man gewöhnlich nur den blonden Eckbert nannte. Er war ungefähr vierzig Jahr alt, kaum von mittlerer Größe, und kurze hellblonde Haare lagen schlicht und dicht an seinem blassen ein- gefallenen Gesichte. Er lebte sehr ruhig für sich und war niemals in den Fehden seiner Nachbarn verwickelt, man sah ihn nur selten außerhalb der Ringmauern seines kleinen Schlosses. Sein Weib liebte die Einsamkeit ebensosehr, und beide schienen sich von Herzen zu Heben, nur klagten sie gewöhnlich darüber, daß der Himmel ihre Ehe mit keinen Kindern segnen wolle. Nur selten wurde Eckbert von Gästen besucht, und wenn es auch geschah, so wurde ihretwegen fast nichts in dem gewöhnlichen Gange des Lebens geändert, die Mäßigkeit wohnte dort, und die Sparsamkeit selbst schien alles anzuordnen. Eckbert war alsdann heiter und aufgeräumt, nur wenn er allein war, bemerkte man an ihm eine gewisse Verschlossenheit, eine stille zurück- haltende Melancholie. Niemand kam so häufig auf die Burg, als Phi- lipp Walther, ein Mann, an den sich Eckbert sehr gehängt hatte, weil er an ihm ungefähr dieselbe Art zu denken fand, die er selbst hatte. Er wohnte eigentlich in Franken, hielt sich aber oft über ein halbes Jahr in der Nähe von Eckberts Burg auf, sammelte Kräuter und Steine und beschäftigte sich damit, sie in Ordnung zu bringen, er lebte voni einem kleinen Vermögen und war daher von nie- mand abhängig. Eckbert begleitete ihn oft auf seinen einsamen Spaziergängen, und mit jedem Jahre entspann sich zwischen ihnen eine genauere Freundschaft. Es gibt Stunden, in denen es den Menschen ängstigt, wenn er vor seinem Freunde ein Geheim- nis haben soll, was er bis dahin oft mit vieler Sorgfalt versteckt hat, die Seele fühlt dann einen unwiderstehHchen Trieb, sich ganz mitzuteilen, dem Freunde auch das Innerste aufzuschüeßen, damit er um so mehr unser Freund werde. In diesen Augenblicken geben sich die zarten Seelen einander zu erkennen, und zuweilen geschieht es wohl auch, daß einer vor der Bekanntschaft des andern zurückschreckt. Es war schon im Herbst, als Eckbert an einem nebligen Abend mit seinem Freunde und seinem Weibe Bertha um das Feuer eines Kamines saß. Die Flamme warf einen hellen Schein durch das Gemach und spielte oben an der Decke, die Nacht sah finster zu den Fenstern hinein, und die Bäume draußen schüttelten sich vor nasser Kälte. Wal- ther klagte über den weiten Rückweg, den er habe, und Eckbert schlug ihm vor, bei ihm zu bleiben, die halbe Nacht unter traulichen Gesprächen zu- zubringen, und dann noch in einem Gemache des Hauses bis am Morgen zu schlafen. Walther ging den Vorschlag ein, und nun ward Wein und die Abendmahlzeit hereingebracht, das Feuer durch Holz vermehrt, und das Gespräch der Freunde ward immer heiterer und vertraulicher. Als das Abendessen abgetragen war und sich die Knechte wieder entfernt hatten, nahm Eckbert die Hand Walthers und sagte 2u ihm: „Freund, Ihr solltet Euch einmal von meiner Frau die Ge- schichte ihrer Jugend erzählen lassen, die seltsam genug ist." — ,,Gern," sagte Walther, und man setzte sich wieder um den Kamin. Es war jetzt gerade Mitternacht, der Mond sah abwechselnd durch die vorüberflatternden Wol- ken. ,,Ihr müßt mir verzeihen," fing Bertha an, ,,aber mein Mann sagt, daß Ihr so edel denkt, daß es unrecht ist. Euch etwas zu verhehlen. Nur müßt Ihr meine Erzählung für kein Märchen halten, so sonderbar sie auch klingen mag. ,,Ich bin in einem Dorfe geboren, mein Vater war ein armer Hirte. Die Haushaltung bei meinen Eltern war nicht zum besten bestellt, sie wußten sehr oft nicht, wo sie das Brot hernehmen sollten. Was mich aber noch weit mehr jammerte, war, daß mein Vater und meine Mutter sich oft über ihre Armut entzweiten, und einer dem anderen dann bittere Vorwürfe machte. Sonst hört' ich beständig von mir, daß ich ein einfältiges dummes Kind sei, das nicht das unbedeutendste Geschäft auszurichten wisse, und wirklich war ich äußerst ungeschickt und unbeholfen, ich ließ alles aus den Händen fallen, ich lernte weder nähen noch spin- nen, ich konnte nichts in der Wirtschaft helfen, nur die Not meiner Eltern verstand ich außer- ordentlich gut. Oft saß ich dann im Winkel und füllte meine Vorstellungen damit an, wie ich ihnen helfen wollte, wenn ich plötzlich reich würde, wie ich sie mit Gold und Silber überschütten und mich an ihrem Erstaunen laben wollte, dann sah ich Geister heraufschweben, die mir unterirdische Schätze entdeckten oder mir kleine Kiesel gaben, die sich nachher in Edelsteine verwandelten, kurz, die wunderbarsten Phantasieen beschäftigten mich dann, und wenn ich nun aufstehen mußte, um irgend etwas zu helfen oder zu tragen, so zeigte ich mich noch viel ungeschickter, weil mir der Kopf von allen den seltsamen Vorstellungen schwindelte. ,,Mein Vater war immer sehr ergrimmt auf mich, daß ich eine so ganz unnütze Last des Haus- wesens sei, er behandelte mich daher oft sehr grau- sam, und es war selten, daß ich ein freundliches Wort von ihm vernahm. So war ich ungefähr acht Jahre alt geworden, und es wurden nun ernstliche Anstalten gemacht, daß ich etwas thun oder lernen sollte. Mein Vater glaubte, es wäre nur Eigensinn oder Trägheit von mir, um meine Tage in Müßig- gang hinzubringen, genug, er setzte mir mit Drohungen unbeschreiblich zu, da diese aber doch nichts fruchteten, züchtigte er mich auf die grau- samste Art und fügte hinzu, daß diese Strafe mit jedem Tage wiederkehren sollte, weil ich doch nur ein unnützes Geschöpf sei. „Die ganze Nacht hindurch weint' ich herzlich, ich fühlte mich so außerordentlich verlassen, ich hatte ein solches Mitleid mit mir selber, daß ich zu sterben wünschte. Ich fürchtete den Anbruch des Tages, ich wußte durchaus nicht, was ich anfangen sollte; ich wünschte mir alle mögliche Geschicklichkeit und konnte gar nicht begreifen, warum ich einfältiger war als die übrigen Kinder 8 von meiner Bekanntschaft. Ich war der Verzweif- lung nahe. „Als der Tag graute, stand ich auf und öffnete, fast ohne daß ich es wußte, die Thür unserer kleinen Hütte. Ich stand auf dem freien Felde, bald darauf war ich in einem Walde, in den der Tag fast noch gar nicht hineinschien. Ich lief immer- fort, ohne mich umzusehen, ich fühlte keine Müdigkeit, denn ich glaubte immer, mein Vater würde mich doch wieder einholen und durch meine Flucht noch grausamer gegen mich werden. „Als ich aus dem Walde wieder heraustrat, stand die Sonne schon ziemhch hoch, ich sah jetzt etwas Dunkles vor mir Hegen, auf dem ein dichter Nebel lag. Bald mußte ich über Hügel klettern, bald durch einen zwischen Felsen gewundenen Weg gehen, und ich erriet nun, daß ich mich wohl in dem benachbarten Gebirge befinden müsse, und ich fing an, mich in der Einsamkeit zu fürchten. Denn ich hatte in der Ebene noch keine Berge gesehen, und das bloße Wort Gebirge, wenn ich davon hatte reden hören, hatte meinem kindi- schen Ohre äußerst fürchterHch geklungen. Ich hatte nicht das Herz, zurückzugehen, sondern eben meine Angst trieb mich vorwärts; oft sah ich mich erschrocken um, wenn der Wind über mir weg durch die Bäume fuhr oder ein ferner Holzschlag weit durch den stillen Morgen hin- tönte. Als mir Köhler und Bergleute endHch be- gegneten und ich eine fremde Aussprache hörte, wäreich vor Entsetzen fast in Ohnmacht gesunken. „Ihr vergebt mir meine Weitschweifigkeit; so oft ich von dieser Geschichte spreche, werde ich wider Willen geschwätzig, und Eckbert, der ein- zige Mensch, dem ich sie erzählt habe, hat mich durch seine Aufmerksamkeit verwöhnt. „Ich kam durch mehrere Dörfer und bettelte, weil ich jetzt Hunger und Durst empfand, ich half mir so ziemlich mit meinen Antworten durch, wenn ich gefragt ward. — So war ich ungefähr vier Tage fortgewandert, als ich auf einen kleinen Fußsteig geriet, der mich von der großen Straße immer mehr entfernte. Die Felsen um mich her gewannen jetzt eine andere, weit seltsamere Ge- stalt. Es waren Klippen, die aufeinander gepackt waren und das Ansehen hatten, als wenn sie der erste Windstoß durcheinander werfen würde. Ich wußte nicht, ob ich weiter gehen sollte. Ich hatte des Nachts immer im Walde geschlafen, denn es war gerade zur schönsten Jahreszeit, oder in ab- gelegenen Schäferhütten; hier traf ich aber gar keine menschHche Wohnung und konnte auch nicht vermuten, in dieser Wildnis auf eine zu stoßen, die Felsen wurden immer furchtbarer, ich mußte oft dicht an schwindlichten Abgründen vorbeigehen, und endlich hörte sogar der Weg unter meinen Füßen auf. Ich war ganz trostlos, ich weinte und schrie, und in den Felsenthälern hallte meine Stimme auf eine schreckliche Art zurück. Nun brach die Nacht herein, und ich suchte mir eine Moosstelle aus, um dort zu ruhen. Ich konnte nicht schlafen, die Nacht hindurch hörte ich die seltsamsten Töne, bald hielt ich es für wilde Tiere, bald für den Wind, der durch die Felsen klagte, bald für fremde Vögel. Ich betete und schlief nur spät gegen Morgen ein. 10 „Ich erwachte, als mir der Tag ins Gesicht schien. Vor mir war ein steiler Felsen, ich kletterte in der Hoffnung hinauf, von dort den Ausgang aus der Wildnis zu entdecken und vielleicht Woh- nungen oder Menschen gewahr zu werden. Als ich aber oben stand, war alles so, wie um mich her, so weit nur mein Auge reichte, alles war mit einem trüben Dufte überzogen, der Tag war grau und trübe, und keinen Baum, keine Wiese, kein Gebüsch selbst konnte mein Auge entdecken, ein- zelne Sträucher ausgenommen, die einsam und betrübt in einigen Felsenritzen emporgeschossen waren. Es ist unbeschreibHch, welche Sehnsucht ich empfand, nur eines Menschen ansichtig zu werden, wäre es auch der fremdeste, hätte ich mich auch vor ihm fürchten müssen. Zugleich empfand ich einen peinigenden Hunger, ich setzte mich nieder und beschloß zu sterben. Aber nach einiger Zeit trug die Lust zu leben dennoch den Sieg da- von, ich raffte mich auf und ging unter Thränen, unter abgebrochenen Ausrufungen den ganzen Tag hindurch, am Ende war ich mich meiner kaum noch bewußt, ich war müde und erschöpft, ich wünschte kaum noch zu leben und fürchtete doch den Tod. ,, Gegen Abend schien die Gegend umher etwas freundlicher zu werden, meine Gedanken, meine Wünsche lebten wieder auf, die Lust zum Leben erwachte in allen meinen Adern. Ich glaubte jetzt das Gesause einer Mühle aus der Ferne zu hören, ich verdoppelte meine Schritte, und wie wohl, wie leicht ward mir, als ich endlich wirklich die Grenze der öden Felsen erreichte: Wälder und 11 Wiesen mit fernen angenehmen Bergen lagen wieder vor mir. Mir war, als wenn ich aus der Hölle in ein Paradies getreten wäre, die Einsam- keit, meine Hilflosigkeit schien mir nun gar nicht fürchterlich. „Statt der gehofften Mühle stieß ich auf einen Wasserfall, der meine Freude freilich um vieles minderte, ich schöpfte mit der Hand einen Trunk aus dem Flusse, als mir plötzlich war, als hörte ich in einiger Entfernung ein leises Husten. Nie bin ich so angenehm überrascht worden als in diesem Augenblick, ich ging näher und ward an der Ecke des Waldes eine alte Frau gewahr, die sich aus- zuruhen schien. Sie war fast ganz schwarz geklei- det, eine schwarze Kappe bedeckte ihren Kopf und einen großen Teil des Gesichts, in der Hand hielt sie einen Krückenstock. „Ich näherte mich ihr und bat um ihre Hilfe, sie ließ mich neben sich niedersitzen und gab mir Brot und etwas Wein. Indem ich aß, sang sie mit kreischendem Ton ein geistliches Lied. Als sie geendet hatte, sagte sie mir, ich möchte ihr folgen. „Ich war über diesen Antrag sehr erfreut, so wunderlich mir auch die Stimme und das Wesen der Alten vorkam. Mit ihrem Krückenstock ging sie ziemlich behende, und bei jedem Schritte verzog sie ihr Gesicht, worüber ich im Anfange lachen mußte. Die wilden Felsen traten immer weiter hinter uns zurück, wir gingen über eine angenehme Wiese, und dann durch einen ziem- lich langen Wald. Als wir heraustraten, ging die Sonne gerade unter, und ich werde den Anblick und die Empfindung dieses Abends nie vergessen. 12 In das sanfteste Rot und Gold war alles ver- schmolzen, die Bäume standen mit ihren Wipfeln in der Abendröte, und über den Feldern lag der entzückende Schein, die Wälder und die Blätter der Bäume standen still, der reine Himmel sah aus wie ein aufgeschlossenes Paradies, und die Abendglocken der Dörfer tönten seltsam weh- mütig über die Flur hin. Meine junge Seele bekam jetzt zuerst eine Ahnung von der Welt und ihren Begebenheiten. Ich vergaß mich und meine Füh- rerin, mein Geist und meine Augen schwärmten nur zwischen den goldenen Wolken. „Wir stiegen nun einen Hügel hinan, der mit Birken bepflanzt war, von oben sah man in ein kleines Thal voller Birken, mitten in den Bäumen lag eine kleine Hütte. Ein munteres Bellen kam uns entgegen, und bald sprang ein kleiner be- hender Hund die Alte an und wedelte, dann kam er zu mir, besah mich von allen Seiten und kehrte dann mit freundlichen Gebärden zur Alten zurück. ,,Als wir vom Hügel hinunter gingen, hörte ich einen wunderbaren Gesang, der aus der Hütte zu kommen schien, wie von einem Vogel; es sang also: »Waldeinsamkeit, Die mich erfreut, So morgen wie heut. In ew'ger Zeit, — O wie mich freut Waldeinsamkeit.' ,, Diese wenigen Worte wurden beständig wie- derholt; wenn ich es beschreiben soll, so war es 13 fast, als wenn Waldhorn und Schaln^ei durchein- ander spielen. „Meine Neugier war außerordentlich gespannt; ohne daß ich auf den Befehl der Alten wartete, trat ich mit in die Hütte. Die Dämmerung war schon eingebrochen, alles war ordentlich auf- geräumt, einige Becher standen auf einem Wand- schranke, fremdartige Gefäße auf einem Tische, in einem kleinen glänzenden Käfig hing ein Vogel am Fenster, und er war es wirklich, der die Worte sang. — Die Alte keuchte und hustete, sie schien sich gar nicht wieder erholen 2u können, bald streichelte sie den kleinen Hund, bald sprach sie mit dem Vogel, der ihr nur mit seinen gewöhn- lichen Worten Antwort gab; übrigens that sie gar nicht, als wenn ich zugegen wäre. Indem ich sie so betrachtete, überUef mich mancher Schauer, denn ihr Gesicht war in einer ewigen verzerrten Bewegung, indem sie dazu wie vor Alter mit dem Kopfe schüttelte, so daß man gar nicht wissen konnte, wie ihr eigentliches Aussehen war. „Als sie sich erholt hatte, zündete sie Licht an, deckte einen ganz kleinen Tisch und trug das Abendessen auf. Jetzt sah sie sich nach mir um und hieß mir einen von den geflochtenen Rohr- stühlen zu nehmen. So saß ich ihr nun dicht ge- genüber, und das Licht stand zwischen uns. Sie faltete ihre knöchernen Hände und betete laut, indem sie immer ihre Gesichtsverzerrungen mach- te, so daß es mich beinahe zum Lachen gebracht hätte; aber ich nahm mich sehr in acht, um sie nicht boshaft zu machen. „Nach dem Abendessen betete sie wieder, und 14 dann wies sie mir in einer ganz kleinen Kammer ein Bett an; sie schlief in der Stube. Ich wachte nicht lange, ich war halb betäubt, aber in der Nacht wacht' ich einigemal auf, und dann hörte ich die Alte husten und mit dem Hunde sprechen und den Vogel dazwischen, der im Traum zu sein schien und immer nur einzelne Worte von seinem Liede sang. Das machte mit den Birken, die dicht vor dem Fenster rauschten, und mit dem Gesang einer entfernten Nachtigall ein so wunderbares Gemisch, daß es mir immer gar nicht war, als sei ich erwacht, sondern als fiele ich nur in einen anderen noch seltsameren Traum. „Am Morgen weckte mich die Alte und wies mich bald nachher zur Arbeit an, ich mußte näm- lich spinnen, und ich lernte es nun auch bald, dabei hatte ich noch für den Hund und für den Vogel zu sorgen. Ich lernte mich bald in die Wirt- schaftfinden, und alle Gegenstände umher wurden mir bekannt ; nun war mir, als müßte alles so sein, ich dachte gar nicht mehr daran, daß die Alte etwas Seltsames an sich habe, daß die Wohnung etwas abenteuerlich Hege, und daß an dem Vogel etwas außerordentHches sei. Seine Schönheit fiel mir zwar immer auf, denn seine Federn glänzten mit allen mögHchen Farben, das schönste Hell- blau und das brennendste Rot wechselte an ihm, und wenn er sang, blähte er sich stolz auf, so daß sich seine Federn noch prächtiger zeigten. „Oft ging die Alte aus und kam erst am Abend zurück, ich ging ihr dann mit dem Hunde ent- gegen, und sie nannte mich Kind und Tochter. 15 Ich ward ihr endlich von Herzen gut, wie sich unser Sinn denn an alles, besonders in der Kind- heit, gewöhnt. In den Abendstunden lehrte sie mich lesen, ich begriff es bald, und es ward nach- her in meiner Einsamkeit eine Quelle von unend- lichem Vergnügen, denn sie hatte einige alte ge- schriebene Bücher, die wunderbare Geschichten enthielten. „Die Erinnerung an meine damalige Lebensart ist mir noch bis jetzt immer seltsam, von keinem menschlichen Geschöpfe besucht, nur in einem so kleinen FamiHenzirkel einheimisch, denn der Hund und der Vogel machten denselben Eindruck auf mich, den sonst nur längst gekannte Freunde hervorbringen. Ich habe mich immer nicht wieder auf den seltsamen Namen des Hundes besinnen können, so oft ich ihn auch damals nannte. „Vier Jahre hatte ich so mit der Alten gelebt, und ich mochte überhaupt ungefähr zwölf Jahre alt sein, als sie mir endlich mehr vertraute und mir ein Geheimnis entdeckte. Der Vogel legte nämUch an jedem Tage ein Ei, in dem sich eine Perle oder ein Edelstein befand. Ich hatte schon immer bemerkt, daß sie heimlich in dem Käfige wirtschafte, ich hatte mich aber nie darum genau bekümmert. Sie trug mir jetzt das Geschäft auf, in ihrer Abwesenheit diese Eier zu nehmen und in die fremdartigen Gefäße wohl zu verwahren. Sie ließ mir meine Nahrung zurück und blieb nun länger aus, Wochen, Monate; mein Rädchen schnurrte, der Hund bellte, der wunderbare Vogel sang, und dabei war alles so still in der Gegend 16 umher, daß ich mich in der ganzen Zeit keines Sturmwinds, keines Gewitters erinnere. Kein Mensch verirrte sich dorthin, kein Wild kam un- serer Behausung nahe, ich war zufrieden und sang und arbeitete mich von einem Tage zum andern hinüber. — Der Mensch wäre vielleicht recht glücküch, wenn er so ungesehen sein Leben bis ans Ende fortführen könnte. „Aus dem Wenigen, was ich las, bildete ich mir ganz wunderliche Vorstellungen von der Welt und den Menschen, alles war von mir und meiner Gesellschaft hergenommen; wenn von launigen Menschen die Rede war, konnte ich sie mir nicht anders vorstellen wie den kleinen Spitz, prächtige Frauenzimmer sahen immer wie der Vogel aus, alle alte Frauen wie meine wunderliche Alte. — Ich hatte auch von Liebe etwas gelesen und spielte nun in meiner Phantasie seltsame Geschichten mit mir selber. Ich dachte mir den schönsten Ritter von der Welt, ich schmückte ihn mit allen Vor- trefflichkeiten aus, ohne eigentlich zu wissen, wie er nun nach allen meinen Bemühungen aussah: aber ich konnte ein rechtes Mitleid mit mir selber haben, wenn er mich nicht wieder liebte; dann sagte ich lange rührende Reden in Gedanken her, zuweilen auch wohl laut, um ihn nur zu gewinnen. — Ihr lächelt, wir sind jetzt alle über diese Zeit der Jugend hinüber. „Es war mir jetzt lieber, wenn ich allein war, denn dann war ich selbst die Gebieterin im Hause. Der Hund liebte mich sehr und that alles, was ich wollte, der Vogel antwortete mir mit seinem Liede auf alle meine Fragen, mein Rädchen drehte 17 sich immer munter, und so fühlte ich im Grunde nie einen Wunsch nach Veränderung. Wenn die Alte von ihren langen Wanderungen zurückkam, lobte sie immer meine Aufmerksamkeit, sie sagte, daß ihre Haushaltung, seit ich dazu gehöre, weit ordentlicher geführt werde, sie freute sich über mein Wachstum und mein gesundes Aussehen, kurz, sie ging ganz mit mir wie mit einer Tochter um. ,, ,Du bist brav, mein Kind !' sagte sie einst zu mir, mit einem schnarrenden Tone; ,wenn du so fortfährst, wird es dir auch immer gut gehen; aber nie gedeiht es, wenn man von der rechten Bahn abweicht, die Strafe folgt nach, wenn auch noch so spät.' — Indem sie das sagte, achtete ich eben nicht sehr darauf, denn ich war in allen meinen Bewegungen sehr lebhaft; aber in der Nacht fiel es mir wieder ein, und ich konnte nicht begreifen, was sie damit hatte sagen wollen. Ich überlegte alle Worte genau, ich hatte wohl von Reichtümern gelesen, und am Ende fiel mir ein, daß ihre Perlen und Edelsteine wohl etwas Kost- bares sein könnten. Dieser Gedanke wurde mir bald noch deutlicher. Aber was konnte sie mit der rechten Bahn meinen? Ganz konnte ich den Sinn ihrer Worte noch immer nicht fassen. ,,Ich war jetzt vierzehn Jahr alt, und es ist ein Unglück für den Menschen, daß er seinen Ver- stand nur darum bekommt, um die Unschuld seiner Seele zu verlieren. Ich begriff nämlich wohl, daß es nur auf mich ankomme, in der Abwesenheit der Alten den Vogel und die Kleinodien zu neh- men und damit die Welt, von der ich gelesen 18 hatte, aufzusuchen. Zugleich war es mir dann vielleicht mögüch, den überaus schönen Ritter anzutreffen, der mir immer noch im Gedächtnisse lag. ,,Im Anfange war dieser Gedanke nichts weiter als jeder andere Gedanke, aber wenn ich so an meinem Rade saß, so kam er mir immer wider Willen zurück, und ich verlor mich so darin, daß ich mich schon geputzt sah und Ritter und Prinzen um mich her. Wenn ich mich dann so verloren hatte, konnte ich ordenthch betrübt werden, wenn ich wieder aufsah und mich in der kleinen engen Wohnung antraf. Wenn ich meine Geschäfte that, bekümmerte sich die Alte nicht weiter um mich. „An einem Tage ging meine Wirtin wieder fort und sagte mir, daß sie diesmal länger als gewöhn- Hch ausbleiben würde, ich solle ja auf alles recht acht geben und mir die Zeit nicht lang werden lassen. Ich nahm mit einer gewissen Bangigkeit von ihr Abschied, denn es war mir, als würde ich sie nicht wiedersehen. Ich sah ihr lange nach und wußte selbst nicht, warum ich so beängstigt war, es war fast, als wenn mein Vorhaben schon vor mir stünde, ohne mich dessen deutUch bewußt zu sein. ,,Nie hab' ich des Hundes und des Vogels mit einer solchen Emsigkeit gepflegt, sie lagen mir näher am Herzen als sonst. Die Alte war schon einige Tage abwesend, als ich mit dem festen Vor- satze aufstand, mit dem Vogel die Hütte zu ver- lassen und die sogenannte Welt aufzusuchen. Es war mir enge und bedrängt zu Sinne, ich wünschte 19 wieder da 2u bleiben, und doch war mir der Gedanke widerwärtig; es war ein seltsamer Kampf in meiner Seele, wie ein Streiten von zwei wider- spenstigen Geistern in mir. In dem einen Augen- blick kam mir die ruhige Einsamkeit so schön vor, dann entzückte mich wieder die Vorstellung einer neuen Welt mit allen ihren wunderbaren Mannig- faltigkeiten. „Ich wußte nicht, was ich aus mir selber machen sollte, der Hund sprang mich unaufhörlich freund- lich an, der Sonnenschein breitete sich munter über die Felder aus, die grünen Birken funkelten; ich hatte die Empfindung, als wenn ich etwas sehr Eiliges zu thun hätte, ich nahm also den kleinen Hund, band ihn in der Stube fest und nahm dann den Käfig mit dem Vogel unter den Arm. Der Hund krümmte sich und winselte über diese ungewohnte Behandlung, er sah mich mit bitten- den Augen an, aber ich fürchtete mich, ihn mit mir zu nehmen. Noch nahm ich eins von den Gefäßen, das mit Edelsteinen angefüllt war, und steckte es zu mir, die übrigen ließ ich stehen. „Der Vogel drehte den Kopf auf eine wunder- liche Weise, als ich mit ihm zur Thür hinaustrat, der Hund strengte sich sehr an, mir nachzukom- men, aber er mußte zurückbleiben. „Ich vermied den Weg nach den wilden Felsen, sondern ging nach der entgegengesetzten Seite. Der Hund bellte und winselte immerfort, und es rührte mich recht inniglich; der Vogel wollte einigemal zu singen anfangen, aber da er getragen ward, mußte es ihm unbequem sein. ,, Sowie ich weiter ging, hörte ich das Bellen 20 immer schwächer, und endlich hörte es ganz auf. Ich weinte und wäre beinahe wieder umgekehrt, aber die Sucht, etwas Neues zu sehen, trieb mich vorwärts. „Schon war ich über Berge und durch einige Wälder gekommen, als es Abend ward und ich in einem Dorfe einkehren mußte. Ich war sehr blöde, als ich in die Schenke trat; man wies mir eine Stube und ein Bette an, ich schlief ziemlich ruhig, nur daß ich von der Alten träumte, die mir drohte. ,, Meine Reise war ziemlich einförmig, aber je weiter ich ging, je mehr ängstigte mich die Vor- stellung von der Alten und dem kleinen Hunde; ich dachte daran, daß er wahrscheinlich ohne meine Hilfe verhungern müsse, im Walde glaubt' ich oft, die Alte würde mir plötzlich entgegen- treten. So legte ich unter Thränen und Seufzern den Weg zurück; so oft ich ruhte und den Käfig auf den Boden stellte, sang der Vogel sein wunder- liches Lied, und ich erinnerte mich dabei recht lebhaft des schönen verlassenen Aufenthalts. Wie die menschliche Natur vergeßlich ist, so glaubt' ich jetzt, meine vormalige Reise in der Kindheit sei nicht so trübselig gewesen als meine jetzige, ich wünschte mich wieder in derselben Lage zu sein. „Ich hatte einige Edelsteine verkauft und kam nun nach einer Wanderschaft von vielen Tagen in einem Dorfe an. Schon beim Eintritt ward mir wundersam zu Mute, ich erschrak und wußte nicht worüber; aber bald erkannt' ich mich, denn es war dasselbe Dorf, in welchem ich geboren war. 21 Wie ward ich überrascht ! wie liefen mir vor Freude, wegen tausend seltsamen Erinnerungen, die Thränen von den Wangen 1 Vieles war ver- ändert, es waren neue Häuser entstanden, andere, die man damals erst errichtet hatte, waren jetzt in einem baufälligen Zustande, ich traf auf Brand- stellen; alles war weit kleiner, gedrängter, als ich erwartet hatte. Unendlich freute ich mich darauf, meine Eltern nun nach so manchen Jahren wieder- zusehen; ich fand das kleine Haus, die wohl- bekannte Schwelle, der Griff der Thür war noch ganz so wie damals, es war mir, als hätte ich sie nur gestern erst angelehnt, mein Herz klopfte ungestüm, ich öffnete sie hastig — aber ganz fremde Gesichter saßen in der Stube umher und stierten mich an. Ich fragte nach dem Schäfer Martin, und man sagte mir, er sei schon seit drei Jahren mit seiner Frau gestorben. — Ich trat schnell zurück und ging laut weinend aus dem Dorfe hinaus. ,,Ich hatte es mir so schön gedacht, sie mit meinem Reichtume zu überraschen, durch den seltsamsten Zufall war das nun wirklich gewor- den, was ich in der Kindheit immer nur träumte — und jetzt war alles umsonst, sie konnten sich nicht mit mir freuen, und das, worauf ich am meisten immer im Leben gehofft hatte, war für mich auf ewig verloren. „In einer angenehmen Stadt mietete ich mir ein kleines Haus mit einem Garten und nahm eine Aufwärterin zu mir. So wunderbar, als ich es vermutet hatte, kam mir die Welt nicht vor, aber ich vergaß die Alte und meinen ehemaligen Auf- 22 enthalt etwas mehr, und so lebt' ich im ganzen recht zufrieden, „Der Vogel hatte schon seit lange nicht mehr gesungen, ich erschrak daher nicht wenig, als er in einer Nacht plötzlich wieder anfing, und zwar mit einem veränderten Liede. Er sang: , Waldeinsamkeit, Wie liegst du weit ! O, dir gereut Einst mit der Zeit. Ach einz'ge Freud', Waldeinsamkeit !' „Ich konnte die Nacht hindurch nicht schlafen, alles fiel mir von neuem in die Gedanken, und mehr als jemals fühlt' ich, daß ich unrecht gethan hatte. Als ich aufstand, war mir der AnbÜck des Vogels ordentlich zuwider, er sah immer nach mir hin, und seine Gegenwart ängstigte mich. Er hörte nun mit seinem Liede gar nicht wieder auf, und er sang es lauter und schallender, als er sonst gewohnt gewesen war. Je mehr ich ihn betrachtete, je bänger machte er mich, ich öffnete endlich den Käfig, streckte die Hand hinein und faßte seinen Hals, herzhaft drückte ich die Finger zusammen, und er sah mich bittend an, ich ließ los, aber er war schon gestorben. — Ich begrub ihn im Garten. „Jetzt wandelte mich oft eine Furcht vor meiner Aufwärterin an, ich dachte an mich selbst zurück und glaubte, daß sie mich auch einst berauben oder wohl gar ermorden könne. — Schon lange kannt' ich einen jungen Ritter, der mir überaus 23 gefiel, ich gab ihm meine Hand — und hiermit Herr Walther, ist meine Geschichte geendigt." — „Ihr hättet sie damals sehen sollen," fiel Eck- bert hastig ein; ,,ihre Jugend, ihre Unschuld, ihre Schönheit, und welch einen unbegreiflichen Reiz ihr ihre einsame Erziehung gegeben hatte. Sie kam mir vor wie ein Wunder, und ich hebte sie ganz unbeschreibHch. Ich hatte kein Vermögen, aber durch ihre Liebe kam ich in diesen Wohl- stand, wir zogen hierher, und unsere Verbindung hat uns bis jetzt noch keinen Augenblick gereut." „Aber über mein Schwatzen," fing Bertha wie- der an, ,,ist es schon tief in die Nacht geworden, — wir wollen uns schlafen legen !" Sie stand auf und ging nach ihrer Kammer, Walther wünschte ihr mit einem Handkusse eine gute Nacht und sagte: ,,Edle Frau, ich danke Euch, ich kann mir Euch recht vorstellen, mit dem seltsamen Vogel, und wie Ihr den kleinen Strohmi füttertet." — Ohne Antwort ging sie hinein. Auch Walther legte sich schlafen, nur Eckbert ging noch unruhig im Saale auf und ab. — ,,Ist der Mensch nicht ein Thor?" fing er endUch an; ,,ich bin erst die Veranlassung, daß meine Frau ihre Geschichte erzählt, und jetzt gereut mich diese Vertraulichkeit ! — Wird er sie nicht miß- brauchen? Wird er sie nicht andern mitteilen? Wird er nicht vielleicht, denn das ist die Natur des Menschen, eine unselige Habsucht nach un- seren Edelsteinen empfinden und deswegen Pläne anlegen und sich verstellen?" Es fiel ihm ein, daß Walther nicht so herzlich 24 von ihm Abschied genommen hatte, als es nach einer solchen Vertraulichkeit wohl natürlich ge- wesen wäre. Wenn die Seele erst einmal zum Arg- wohn gespannt ist, so trifft sie auch in allen Kleinigkeiten Bestätigungen an. Dann warf sich Eckbert wieder sein unedles Mißtrauen gegen seinen wackeren Freund vor und konnte doch nicht davon zurückkehren. Er schlug sich die ganze Nacht mit diesen Vorstellungen herum und schlief nur wenig. Bertha war krank und konnte nicht zum Früh- stück erscheinen, Walther schien sich nicht viel darum zu kümmern und verließ auch den Ritter ziemlich gleichgültig. Eckbert konnte sein Be- tragen nicht begreifen, er besuchte seine Gattin, sie lag in einer Fieberhitze und sagte, die Erzäh- lung in der Nacht müsse sie auf diese Art gespannt haben. Seit diesem Abende besuchte Walther nur selten die Burg seines Freundes, und wenn er auch kam, ging er nach einigen unbedeutenden Worten wieder weg. Eckbert ward durch dieses Betragen im äußersten Grade gepeinigt, er ließ sich zwar gegen Bertha und Walther nichts davon merken, aber jeder mußte doch seine innerliche Unruhe an ihm gewahr werden. Mit Berthas Krankheit ward es immer bedenk- licher, der Arzt schüttelte den Kopf, die Röte von ihren Wangen war verschwunden, und ihre Augen wurden immer glühender. — An einem Morgen ließ sie ihren Mann an ihr Bette rufen, die Mägde mußten sich entfernen. „Lieber Mann," fing sie an, „ich muß dir etwas 25 entdecken, das mich fast um meinen Verstand ge- bracht hat, das meine Gesundheit zerrüttet, so eine unbedeutende Kleinigkeit es auch scheinen mag. — Du wirst dich erinnern, daß ich mich immer nicht, so oft ich von meiner Geschichte sprach, trotz aller angewandten Mühe auf den Na- men des kleinen Hundes besinnen konnte, mit dem ich so lange umging. — An jenem Abende sagte Walther beim Abschiede plötzlich zu mir: ,,Ich kann mir Euch recht vorstellen, wie Ihr den kleinen Strohmi füttertet.' — Ist das Zufall? Hat er den Namen erraten, oder hat er ihn mit Vor- satz genannt? Und wie hängt dieser Mensch dann mit meinem Schicksale zusammen? — Zuweilen ist es mir eingefallen, ich bilde mir diesen Zufall nur ein, aber es ist gewiß, nur zu gewiß. — Ein gewaltiges Entsetzen befiel mich, als mich ein fremder Mensch so auf meine Erinnerungen half. — Was sagst du, Eckbert?" Eckbert sah seine leidende Gattin mit einem tiefen Gefühle an, er schwieg und dachte bei sich nach, dann sagte er ihr einige tröstende Worte und verließ sie. — In einem abgelegenen Gemache ging Eckbert in einer unbeschreiblichen Unruhe auf und ab, Walther war seit vielen Jahren sein einziger Umgang gewesen, und doch war dieser Mensch jetzt der einzige in der Welt, dessen Da- sein ihn drückte und peinigte. Es schien ihm, als würde ihm froh und leicht sein, wenn nur dieser einzige Mensch aus dem Wege geschafft wäre. — Er nahm seine Armbrust, um sich zu zerstreuen und auf die Jagd zu gehen. Es war ein rauher stürmischer Wintertag, tiefer 26 Schnee lag auf den Bergen und bog die Zweige der Bäume nieder. Er streifte umher, der Schweiß stand ihm auf der Stirne, er traf auf kein Wild, und das vermehrte seinen Unmut. Plötzlich sah er sich in der Ferne etwas bewegen, es war Wal- ther, der Moos von den Bäumen sammelte; ohne zu wissen, was er that, legte er an, Walther sah sich um und drohte mit einer stummen Gebärde, aber indem flog der Bolzen fort, und Walther stürzte nieder. Eckbert fühlte sich leicht und beruhigt, und doch trieb ihn ein Schauder nach seiner Burg zurück; er hatte einen großen Weg zu machen, denn er hatte sich weit hinein in die Wälder ver- irrt. — Als er ankam, war Bertha schon gestorben, sie hatte vor ihrem Tode noch viel von Walther und der Alten gesprochen. Eckbert lebte nun eine lange Zeit in der größten Einsamkeit, er war schon sonst immer etwas schwermütig gewesen, weil ihn die seltsame Ge- schichte seiner Gattin etwas beunruhigte, er hatte immer schon einen unglücklichen Vorfall be- fürchtet, der sich ereignen könnte, aber jetzt war er ganz mit sich selber zerfallen. Die Ermordung seines Freundes stand ihm unaufhörlich vor Au- gen, er lebte unter ewigen Innern Vorwürfen. Um sich zu zerstreuen, begab er sich zuweilen nach der nächsten großen Stadt, wo er Gesell- schaften und Feste besuchte. Er wünschte durch irgend einen Freund die Leere in seiner Seele aus- zufüllen, und wenn er dann wieder an Walther zurückdachte, so erschrak er schon vor dem Wor- te Freund; er war überzeugt, daß es ihm not- 27 wendig mit allen seinen Freunden unglücklich gehen müsse. Er hatte so lange mit Bertha in einer schönen Ruhe gelebt, die Freundschaft Walthers hatte ihn so manches Jahr hindurch be- glückt, und jetzt waren beide so plötzlich dahin- gerafft, daß ihm sein Leben in manchen Augen- bUcken mehr wie ein seltsames Märchen als wie ein wirkÜcher Lebenslauf erschien. Ein Ritter, Hugo von Wolfs berg, hing sich an den stillen betrübten Eckbert, er schien eine wahrhafte Zuneigung gegen ihn zu empfinden. Eckbert fand sich auf eine wunderbare Art über- rascht, er kam der Freundschaft des Ritters um so schneller entgegen, je weniger er sie vermutet hatte. Beide waren nun häufig zusammen, der Fremde erzeigte Eckbert alle möglichen Gefällig- keiten, einer ritt fast nicht mehr ohne den andern aus, in allen Gesellschaften trafen sie sich, kurz, sie schienen beide unzertrennlich voneinander zu sein. Eckbert war immer nur auf kurze Augenblicke froh, denn er fühlte es deutlich, daß ihn Hugo nur aus einem Irrtume liebe; er kannte ihn nicht, er wußte seine Geschichte nicht, und er fühlte wieder denselben Drang, sich ihm ganz mitzuteilen, da- mit er versichert sein könne, inwiefern jener Freund sei. Dann hielten ihn wieder Bedenklich- keiten und die Furcht, verabscheuet zu werden, zurück. In manchen Stunden war er so sehr von seiner Nichtswürdigkeit überzeugt, daß er glaub- te, kein Mensch könnte ihn seiner Achtung wür- digen, der ihn nur etwas näher kenne. Aber er konnte sich nicht widerstehen; auf einem ein- 28 Samen Spazierritt entdeckte er seinem Freunde seine ganze Geschichte und sagte ihm, ob er wohl einen Mörder lieben könne. Hugo war gerührt und suchte ihn zu trösten, Eckbert folgte ihm mit leichterem Herzen zur Stadt. Es schien aber seine Verdammnis zu sein, ge- rade in der Stunde des Vertrauens Argwohn zu schöpfen, denn kaum waren sie in den Saal ge- treten, als ihm beim Schein der vielen Lichter die Mienen seines Freundes nicht gefielen. Er glaubte ein hämisches Lächeln zu bemerken, es fiel ihm auf, daß er nur wenig mit ihm sprach, daß er mit den Anwesenden viel redete und seiner gar nicht zu achten schien. Ein alter Ritter war in der Ge- sellschaft, der immer sich als den Gegner Eckberts gezeigt und sich oft nach seinem Reichtum, nach seiner Frau auf eine eigene Art erkundigt hatte; zu diesem ging jetzt Hugo, und beide sprachen eine Zeitlang heimlich, indem sie beständig nach Eckbert hinsahen. Dieser sah jetzt seinen Argwohn bestätigt, er glaubte sich verraten, und eine schreckliche Wut bemeisterte sich seiner. Indem er noch immer hinstarrte, sah er plötzlich Walthers Kopf, alle seine Mienen, die ganze, ihm so wohl- bekannte Gestalt; er sah noch immer hin und ward überzeugt, daß niemand als Walther mit dem Alten spreche. — Sein Entsetzen war un- beschreibhch, außer sich stürzte er hinaus, verließ noch in der Nacht die Stadt und kehrte nach vielen Irrwegen auf seine Burg zurück. Wie ein unruhiger Geist eilte er jetzt von Ge- mach zu Gemach, kein Gedanke hielt ihm stand, er eilte von entsetzlichen Vorstellungen zu noch 29 entsetzlicheren, und kein Schlaf kam in seine Augen. Oft fiel er auf den Gedanken, daß er wahn- sinnig sei und sich nur selber durch seine Einbil- dungskraft alles erschaffe, dann erinnerte er sich wieder der Züge Walthers, und alles ward ihm immer mehr ein Rätsel. Er beschloß, eine Reise 2u machen, um seine Vorstellungen wieder 2u ordnen; den Gedanken an Freundschaft, den Wunsch nach Umgang hatte er nun auf ewig auf- gegeben. Er zog fort, ohne sich einen bestimmten Weg vorzusetzen, ja er betrachtete die Gegenden nur wenig, die vor ihm lagen. Als er mit seinem Pferde einige Tage durchtrabt hatte, sah er sich plötzlich in einem Gewinde von Felsen verirrt, in denen sich nirgends ein Ausweg entdecken Heß. Endlich traf er auf einen alten Bauer, der ihm einen Aus- weg, einem Wasserfall vorüber, zeigte; er wollte ihm zur Danksagung einige Münzen geben, der Bauer aber schlug sie aus. — ,,Was gilt's?" sagte Eckbert zu sich selber, ,,ich könnte mir wieder einbilden, daß dies niemand anders als Walther sei" — und indem sah er sich noch einmal um, und es war niemand anders als Walther. — Eckbert spornte sein Roß, so schnell es nur laufen konnte, durch Wiesen und Wälder, bis es erschöpft unter ihm zusammenstürzte. — Unbekümmert setzte er nun seine Reise zu Fuß fort. Er stieg träumend einen Hügel hinan, es war, als wenn er ein nahes munteres Bellen hörte, Birken säuselten dazwischen, und er hörte mit wunderlichen Tönen ein Lied singen: 30 Waldeinsamkeit Mich wieder freut, Mir geschieht kein Leid, Hier wohnt kein Neid — Von neuem mich freut Waldeinsamkeit. Jetzt war es um das Bewußtsein, um die Sinne Eckberts geschehen, er konnte sich nicht aus dem Rätsel herausfinden, ob er jetzt träume oder ehe- mals von einem Weibe Bertha geträumt habe, das Wunderbarste vermischte sich mit dem Gewöhn- lichsten, die Welt um ihn her war verzaubert, und er keines Gedankens, keiner Erinnerung mächtig. Eine krummgebückte Alte schUch hustend mit einer Krücke den Hügel heran. — „Bringst du meinen Vogel? meine Perlen? meinen Hund?" schrie sie ihm entgegen. ,, Siehe, das Unrecht be- straft sich selbst. Niemand als ich war dein Freund Walther, dein Hugo." — „Gott im Himmel!" sagte Eckbert stille vor sich hin, — „in welcher entsetzlichen Einsamkeit hab' ich denn mein Leben hingebracht !" — ,,Und Bertha war deine Schwester." Eckbert fiel zu Boden. ,, Warum verließ sie mich tückisch? Sonst hätte sich alles gut und schön geendet, ihre Probezeit war ja schon vorüber. Sie war die Tochter eines Ritters, die er bei einem Hirten erziehen ließ, die Tochter deines Vaters." ,, Warum hab' ich diesen schrecklichen Gedan- ken immer geahnet?" rief Eckbert aus. „Weil du in früher Jugend deinen Vater einst 31 davon erzählen hörtest; er durfte seiner Frau wegen diese Tochter nicht bei sich erziehen lassen, denn sie war von einem andern Weibe." — Eckbert lag wahnsinnig in den letzten Zügen; dumpf und verworren hörte er die Alte sprechen, den Hund bellen und den Vogel sein Lied wieder- holen. 32 W. H. WACKENRODER. Ehrengedächtnis unseres ehrwürdigen Ahnherrn Albrecht Dürers. Von einem kunstliebenden Klosterbruder. Nürnberg ! du vormals weltberühmte Stadt ! Wie gerne durchwanderte ich deine krummen Gassen; mit welcher kindlichen Liebe betrachtete ich deine altvaterischen Häuser und- Kirchen, denen die feste Spur von unsrer alten vaterlän- dischen Kunst eingedrückt ist ! Wie innig lieb ich die Bildungen jener Zeit, die eine so derbe, kräf- tige und wahre Sprache führen ! Wie 2iehen sie mich zurück in jenes graue Jahrhundert, da du, Nürnberg, die lebendigwimmelnde Schule der vaterländischen Kunst warst, und ein recht frucht- barer, überfließender Kunstgeist in deinen Mauern lebte und webte: — da Meister Hans Sachs und Adam Kraft, der Bildhauer, und vor allen, Al- brecht Dürer mit seinem Freunde, Wilibaldus Pirckheimer, und so viel andre hochgelobte Eh- renmänner noch lebten ! Wie oft hab ich mich in jene Zeit zurückgewünscht ! Wie oft ist sie in meinen Gedanken wieder von neuem vor mir hervorgegangen, wenn ich in deinen ehrwürdigen Büchersälen, Nürnberg, in einem engen Winkel, beim Dämmerlicht der kleinen, rundscheibigen Fenster saß, und über den Folianten des wackern Hans Sachs, oder über anderem alten, gelben, wurmgefressenen Papier brütete; — oder wenn ich unter den kühnen Gewölben deiner düstern Kirchen wandelte, wo der Tag durch bunt- 2 Romantiker 33 bemalte Fenster all das Bildwerk und die Male- reien der alten Zeit wunderbar beleuchtet ! Ihr wundert euch wieder, und sehet mich an, ihr Engherzigen und Kleingläubigen ! O ich kenne , sie ja, die Myrtenwälder Italiens, — ich kenne sie ja, die himmlische Glut in den begeisterten Män- nern des beglückten Südens: — was ruft ihr mich hin, wo immer Gedanken meiner Seele wohnen, wo die Heimat der schönsten Stunden meines Lebens ist ! — ihr, die ihr überall Grenzen sehet, wo keine sind ! Liegt Rom und Deutschland nicht auf einer Erde? Hat der himmlische Vater nicht Wege von Norden nach Süden, wie von Westen nach Osten über den Erdkreis geführt? Ist ein Menschenleben zu kurz? Sind die Alpen unüber- steiglich? — Nun so muß auch mehr als eine Liebe in der Brust des Menschen wohnen können. Aber jetzt wandelt mein trauernder Geist auf der geweiheten Stätte vor deinen Mauern, Nürnberg; auf dem Gottesacker, wo die Gebeine Albrecht Dürers ruhen, der einst die Zierde von Deutsch- land, ja von Europa war. Sie ruhen, von wenigen besucht, unter zahllosen Grabsteinen, deren jeder mit einem ehernen Bildwerk, als dem Gepräge der alten Kunst, bezeichnet ist, und zwischen denen sich hohe Sonnenblumen in Menge erhe- ben, welche den Gottesacker zu einem lieblichen Garten machen. So ruhen die vergessenen Gebeine unsers alten Albrecht Dürers, um dessentwillen es mir lieb ist, daß ich ein Deutscher bin. Wenigen muß es gegeben sein, die Seele in dei- nen Bildern so zu verstehen, und das Eigne und Besondere darin mit solcher Innigkeit zu genießen^ 34 als der Himmel es mir vor vielen andern vergönnt zu haben scheinet; denn ich sehe mich um, und finde wenige, die mit so herzlicher Liebe, mit sol- cher Verehrung vor dir verweilten, als ich. Ist es nicht, als wenn die Figuren in diesen dei- nen Bildern wirkliche Menschen wären, welche zusammen redeten? Ein jeglicher ist so eigentüm- Uch gestempelt, daß man ihn aus einem großen Haufen herauskennen würde; ein jeglicher so aus der Mitte der Natur genommen, daß er ganz und gar seinen Zweck erfüllt. Keiner ist mit halber Seele da, wie man es öfters bei sehr zierlichen Bil- dern neuerer Meister sagen möchte; jeder ist im vollen Leben ergriffen, und so auf die Tafel hin- gestellt. Wer klagen soll, klagt; wer zürnen soll, zürnt; und wer beten soll, betet. Alle Figuren reden, und reden laut und vernehmlich. Kein Arm bewegt sich unnütz, oder bloß zum Augen- spiel und zur Füllung des Raums; alle Glieder, alles spricht uns gleichsam mit Macht an, daß wir den Sinn und die Seele des Ganzen recht fest im Gemüte fassen. Wir glauben alles, was der kunst- reiche Mann uns darstellt; und es verwischt sich nie aus unserm Gedächtnis. Wie ists, daß mir die heutigen Künstler unsers Vaterlands so anders erscheinen, als jene preis- würdigen Männer der alten Zeit, und du vornehm- lich, mein geliebter Dürer? Wie ists, daß es mir vorkommt, als wenn ihr alle die Malerkunst weit ernsthafter, wichtiger und würdiger gehandhabt hättet als diese zierlichen Künstler unsrer Tage? Mich dünkt, ich sehe euch, wie ihr nachdenkend vor eurem angefangenen Bilde stehet, — wie die 35 Vorstellung, die ihr sichtbar machen wollt, ganz lebendig eurer Seele vorschwebt, — wie ihr be- dächtig überlegt, welche Mienen und welche Stellungen den Zuschauer wohl am stärksten und sichersten ergreifen, und seine Seele beim An- sehen am mächtigsten bewegen möchten, — und wie ihr dann, mit inniger Teilnahme und freund- lichem Ernst, die eurer lebendigen Einbildung befreundeten Wesen, auf die Tafel treu und lang- sam auftraget. — Aber die Neueren scheinen gar nicht 2u wollen, daß man ernsthaft an dem, was sie uns vorstellen, teilnehmen solle; sie arbeiten für vornehme Herren, welche von der Kunst nicht gerührt und veredelt, sondern aufs höchste ge- blendet und gekitzelt sein wollen; sie bestreben sich, ihr Gemälde zu einem Probestück von recht vielen lieblichen und täuschenden Farben zu machen; sie prüfen ihren Witz in Ausstreuung des Lichtes und Schattens; — aber die Menschen- figuren scheinen öfters bloß um der Farben und um des Lichtes willen, wahrlich ich möchte sagen, als ein notwendiges Übel im Bilde zu stehen. Wehe muß ich rufen über unser Zeitalter, daß es die Kunst so bloß als ein leichtsinniges Spiel- werk der Sinne übt, da sie noch wahrlich etwas sehr Ernsthaftes und Erhabenes ist. Achtet man den Menschen nicht mehr, daß man ihn in der Kunst vernachlässigt, und artige Farben und allerhand Künstlichkeit mit Lichtern, der Betrachtung wür- diger findet? — In den Schriften des von unserm Albrecht sehr hochgeschätzten und verteidigten Martin Luthers, worin ich, wie ich nicht ungern gestehe, einiges 36 aus Wißbegier wohl gelesen habe, und in welchen viel Gutes verborgen sein mag, habe ich über die Wichtigkeit der Kunst eine merkwürdige Stel- le gefunden, die mir jetzt lebhaft ins Gemüt kommt. Denn es behauptet dieser Mann irgendwo ganz dreist und ausdrücklich: daß nächst der Theologie, unter allen Wissenschaften und Kün- sten des menschlichen Geistes, die Musik den ersten Platz einnehme. Und ich muß offenherzig bekennen, daß dieser kühne Ausspruch meine Blicke sehr auf den ausgezeichneten Mann hin- gerichtet hat. Denn die Seele, aus welcher ein sol- cher Ausspruch kommen konnte, mußte für die Kunst grade diejenige tiefe Verehrung empfin- den, welche, ich weiß nicht woher, in so wenigen Gemütern wohnt, und welche, nach meinem Bedünken, doch so sehr natürlich und so be- deutend ist. Wenn nun die Kunst (ich meine, ihr Haupt- und wesentlicher Teil) wirklich von solcher Wichtigkeit ist; so ist es sehr unwürdig und leicht- sinnig, sich von den sprechenden und lehrreichen Menschenfiguren unsers alten Albrecht Dürers hinwegzuwenden, weil sie nicht mit der gleißen- den äußeren Schönheit, welche die heutige Welt für das Einzige und Höchste in der Kunst hält, ausgestattet sind. Es verrät nicht ein ganz gesun- des und reines Gemüt, wenn sich jemand vor einer geistlichen Betrachtung, welche an sich trif- tig und eindringend ist, die Ohren zuhält, weil der Redner seine Worte nicht in zierlicher Ordnung stellet, oder weil er eine üble, fremde Aussprache, oder ein schlechtes Spiel mit Händen an sich hat. 37 Hindern mich aber dergleichen Gedanken, diese äußere, und sozusagen bloß körperliche Schön- heit der Kunst, wo ich sie finde, nach Verdienst zu schätzen und zu bewundern? Auch wird dir das, mein geliebter Albrecht Dürer, als ein grober Verstoß angerechnet, daß du deine Menschenfiguren nur so bequem neben- einander hinstellst, ohne sie künstlich durchein- ander zu verschränken, daß sie ein methodisches Gruppo bilden. Ich liebe dich in dieser deiner un- befangenen Einfalt, und hefte mein Auge un- willkürHch zuerst auf die Seele und tiefe Bedeu- tung deiner Menschen, ohne daß mir dergleichen Tadelsucht nur in den Sinn kommt. Viele Per- sonen aber scheinen von derselben, wie von einem bösen, quälenden Geiste, so geplagt, daß sie da- durch zu verachten und zu verhöhnen angereizt werden, ehe sie ruhig betrachten können — und am allerwenigsten über die Schranken der Gegen- wart sich in die Vorzeit hinüberzusetzen vermö- gen. Gern will ich euch zugeben, ihr eifrigen Neu- linge, daß ein junger Schüler jetzt klüger und ge- lehrter von Farben, Licht und Zusammenfügung der Figuren reden mag, als der alte Dürer es ver- stand; spricht aber sein eigener Geist aus dem Knaben, oder nicht vielmehr die Kunstweisheit und Erfahrung der vergangenen Zeiten? Die eigentliche, innere Seele der Kunst fassen nur ein- zelne auserwählte Geister auf einmal, mag auch schon die Führung des Pinsels noch sehr mangel- haft sein; alle die Außen werke der Kunst hingegen werden nach und nach, durch Erfindung, Übung und Nachdenken zur Vollkommenheit gebracht. 38 Es ist aber eine schnöde und betrauernswerte Eitelkeit, die das Verdienst der Zeiten ihrem eige- nen schwachen Haupte zur Krone aufsetzt und ihre Nichtigkeit unter erborgtem Glänze ver- stecken will. Hinweg, ihre weisen Knaben, von dem alten Künstler von Nürnberg ! — und daß keiner verspottend ihn zu richten sich vermesse, der noch kindisch darüber naserümpfen kann, daß er nicht Tizian und Correggio zu Lehrmeistern hatte, oder, daß man zu seiner Zeit so seltsam altfränkische Kleidung trug ! Denn auch um deswillen wollen die heutigen Lehrer ihn, sowie manchen andern guten Maler seines Jahrhunderts, nicht schön und edel nennen, weil sie die Geschichte aller Völker und wohl selbst die geistlichen Historien unserer Religion in die Tracht ihrer Zeiten kleiden. Allein ich denke dabei, wie doch ein jeder Künstler, der die Wesen vergangener Jahrhunderte durch seine Brust gehen läßt, sie mit dem Geist und Atem seines Alters beleben muß; und wie es doch billig und natürlich ist, daß die Schöpfungskraft des Menschen alles Fremde und Entfernte, und also auch selbst die himmlischen Wesen, sich hebend nahebringt und in die wohlbekannten und gelieb- ten Formen seiner Welt und seines Gesichts- kreises hüllt. Als Albrecht den Pinsel führte, da war der Deutsche auf dem Völkerschauplatz unsers Welt- teils noch ein eigentümlicher und ausgezeichneter Charakter von festem Bestand; und seinen Bildern ist nicht nur in Gesichtsbildung und im ganzen Äußeren, sondern auch im inneren Geiste, dieses 39 ernsthafte, gerade und kräftige Wesen des deut- schen Charakters treu und deutUch eingeprägt. In unsern Zeiten ist dieser festbestimmte deutsche Charakter, und ebenso die deutsche Kunst, ver- lorengegangen. Der junge Deutsche lernt die Sprachen aller Völker Europas und soll prüfend und richtend aus dem Geiste aller Nationen Nah- rung ziehen; — und der Schüler der Kunst wird belehrt, wie er den Ausdruck Raffaels, und die Farben der venezianischen Schule, und die Wahr- heit der Niederländer, und das ZauberUcht des Correggio, alles zusammen nachahmen, und auf diesem Wege zur alles übertreffenden Vollkom- menheit gelangen solle. — O traurige Afterweis- heit ! O bünder Glaube des Zeitalters, daß man jede Art der Schönheit, und jedes Vorzügliche aller großen Künstler der Erde, zusammensetzen, und durch das Betrachten aller, und das Erbetteln von ihren mannigfachen großen Gaben, ihrer aller Geist in sich vereinigen, und sie alle besiegen könne ! — Die Periode der eigenen Kraft ist vor- über, man will durch ärmliches Nachahmen und klügelndes Zusammensetzen das versagende Ta- lent erzwingen, und kalte, geleckte, charakterlose Werke sind die Frucht. — Die deutsche Kunst war ein frommer Jüngling in den Ringmauern einer kleinen Stadt unter Blutsfreunden häuslich erzogen; — nun sie älter ist, ist sie zum allgemei- nen Weltmanne geworden, der mit den klein- städtischen Sitten zugleich sein Gefühl und sein eigentümliches Gepräge von der Seele weg- gewischt hat. Ich möchte um alles nicht, daß der zauberhafte 40 Correggio, oder der prächtige Paolo Veronese, oder der gewaltige Buonarotti ebenso gemalt hätten als Raffael. Und eben auch stimme ich keineswegs in die Redensarten derer mit ein, welche sprechen: „Hätte Albrecht Dürer nur in Rom eine Zeitlang gehauset, und die echte Schön- heit und das Idealische vom Raffael abgelernt, so wäre er ein großer Maler geworden; man muß ihn bedauern, und sich nur wundern, wie er es in seiner Lage noch so weit gebracht hat." Ich finde hier nichts zu bedauern, sondern freue mich, daß das Schicksal dem deutschen Boden an diesem Manne einen echtvaterländischen Maler gegönnt hat. Er würde nicht er selber geblieben sein; sein Blut war kein italienisches Blut. Er war für das Idealische und die erhabene Hoheit eines Raffaels nicht geboren; er hatte daran seine Lust, uns die Menschen 2u zeigen, wie sie um ihn herum wirk- lich waren, und es ist ihm gar trefflich gelungen. Dennoch aber fiel es mir, als ich in meinen jüngeren Jahren die ersten Gemälde vom Raffael sowohl als von dir, mein geHebter Dürer, in einer herrlichen Bildergalerie sah, wunderbar in den Sinn, wie unter allen andern Malern, die ich kann- te, diese beiden eine ganz besonders nahe Ver- wandtschaft zu meinem Herzen hätten. Bei beiden gefiel es mir so sehr, daß sie so einfach und grade, ohne die zierlichen Umschweife anderer Maler, uns die Menschheit in voller Seele so klar und deutHch vor Augen stellen. Allein ich getraute mich damals nicht, meine Meinung jemandem zu entdecken, weil ich glaubte, daß jeder mich ver- lachen würde, und wohl wußte, daß die mehresten 41 in dem alten deutschen Maler nichts als etwas sehr Steifes und Trockenes erkennen. Ich war indes an dem Tage, da ich jene Bildergalerie ge- sehen hatte, so voll von diesem neuen Gedanken, daß ich damit einschlief, und mir in der Nacht ein entzückendes Traumgesicht vorkam, welches mich noch fester in meinem Glauben bestärkte. Es dünkte mich nämUch, als wenn ich, nach Mitter- nacht, von dem Gemach des Schlosses, worin ich schlief, durch die dunklen Säle des Gebäudes, ganz allein mit einer Fackel nach der Bildergalerie zuginge. Als ich an die Tür kam, hörte ich drinnen ein leises Gemurmel; — ich öffnete sie, — und plötzlich fuhr ich zurück, denn der ganze große Saal war von einem seltsamen Lichte erleuchtet, und vor mehreren Gemälden standen ihre ehr- würdigen Meister in leibhafter Gestalt da, und in ihrer alten Tracht, wie ich sie in Bildnissen gesehen hatte, Einer von ihnen, den ich nicht kannte, sagte mir, daß sie manche Nacht vom Himmel herunterstiegen, und hier und dort auf Erden in Bildersälen bei der nächtUchen Stille umherwankten, und die noch immer geliebten Werke ihrer Hand betrachteten. Viele itaüenische Maler erkannt ich; von Niederländern sah ich sehr wenige. Ehrfurchtsvoll ging ich zwischen ihnen durch; — und siehe ! da standen, abgeson- dert von allen, Raffael und Albrecht Dürer Hand in Hand leibhaftig vor meinen Augen und sahen in freundhcher Ruhe schweigend ihre beisammen- hängenden Gemälde an. Den göttHchen Raffael anzureden hatte ich nicht den Mut; eine heim- liche ehrerbietige Furcht verschloß mir die Lip- 42 pen. Aber meinen Albrecht wollte ich soeben begrüßen, und meine Liebe vor ihm ausschütten; — allein in dem Augenblick verwirrte sich mit einem Getöse alles vor meinen Augen, und ich erwachte mit heftiger Bewegung. Dieses Traumgesicht hatte meinem Gemüt innige Freude gemacht, und diese ward noch vollkommener, als ich bald nachher in dem alten Vasari las, wie die beiden herrlichen Künstler auch bei ihren Leb2eiten wirklich, ohne sich 2u kennen, durch ihre Werke, Freunde gewesen, und wie die redlichen und treuen Arbeiten des alten Deutschen vom Raffael mit Wohlgefallen angesehen wären, und er sie seiner Liebe nicht unwert geachtet hätte. Das aber kann ich freilich nicht verschweigen, daß mir nachher bei den Werken der beiden Maler immer so wie in jenem Traum 2umute war, daß ich nämlich bei denen des Albrecht Dürer wohl manchmal mich daran versuchte, ihr echtes Verdienst jemandem 2u erklären, und über ihre Vortrefflichkeiten mich in Worte aus2ubreiten wagte; bei den Werken RafFaels aber immer von der himmlischen Schönheit so erfüllt und be- drängt ward, daß ich nicht wohl darüber reden noch jemandem deutlich auseinanderset2en konn- te, woraus mir überall das Göttliche hervor- leuchte. Aber ich will jet2t meine Blicke von dir nicht abwenden, mein Albrecht. Vergleichung ist ein gefährlicher Feind des Genusses; auch die höchste Schönheit der Kunst übt nur dann, wie sie soll, ihre volle Gewalt an uns aus, wenn unser Auge nicht zugleich seitwärts auf andere Schönheit blickt. Der Himmel hat seine Gaben unter die großen Künstler der Erde so verteilet, daß wir durchaus genötiget werden, vor einem jeglichen stillezustehen und jeglichem seinen Anteil unsrer Verehrung zu opfern. Nicht bloß unter italienischem Himmel, unter majestätischen Kuppeln und korinthischen Säu- len; — auch unter Spitzgewölben, kraus ver- zierten Gebäuden und gotischen Türmen wächst wahre Kunst hervor. Friede sei mit deinen Gebeinen, mein Albrecht Dürer ! und möchtest du wissen, wie ich dich lieb- habe, und hören, wie ich unter der heutigen, dir fremden Welt der Herold deines Namens bin. — Gesegnet sei mir deine goldene Zeit, Nürnberg ! die einzige Zeit, da Deutschland eine eigene vater- ländische Kunst zu haben sich rühmen konnte. — Aber die schönen Zeitalter ziehen über die Erde hinweg und verschwinden, wie glänzende Wolken über das Gewölbe des Himmels wegziehn. Sie sind vorüber, und ihrer wird nicht gedacht; nur wenige rufen sie aus innerer Liebe in ihr Gemüt zurück, aus bestäubten Büchern und bleibenden Werken der Kunst. 44 FRIEDRICH VON SCHLEGEL. Treue und Scher^. Du bist doch allein, Lucinde? — Ich weiß nicht... vielleicht. . . ich glaube — Bitte, bitte, liebe Lucinde 1 Weißt du wohl, wenn die kleine Wilhelmine „bitte, bitte !" sagt, und man tut's nicht gleich, so schreit sie's immer lauter und ernst- hafter, bis ihr Wille geschieht. — Also das hast du mir sagen wollen, darum stürzest du so außer Atem ins Zimmer und hast mich so erschreckt? — Sei nicht böse, süßes Weib ! o laß mich, meinKind 1 du Schöne 1 mach' mir keine Vorwürfe, gutes Mädchen ! — Nun, wirst du noch nicht bald sagen: schließ die Türen zu? — So?. . . Gleich will ich dir antworten. Nur erst einen recht langen Kuß, und wieder einen, dann noch einige und viele an- dere mehr. — O, du mußt mich nicht so küssen, wenn ich vernünftig bleiben soll. Das macht böse Gedanken. — Die verdienst du. Kannst du wirk- lich lachen, meine verdrießliche Dame? Wer hätte das denken sollen ! aber ich weiß wohl, du lachst bloß, weil du mich auslachen kannst. Aus Lust tust du es nicht. Denn wer sah nur eben so ernst- haft aus wie ein römischer Senator? Recht ent- zückend hättest du aussehen können, liebes Kind 1 mit deinen heiligen dunkeln Augen, mit deinem langen schwarzen Haar im glänzenden Wider- schein der Abendsonne, wenn du nicht dagesessen hättest, als säßest du zu Gericht. Bei Gott ! du hast mich so angeblickt, daß ich ordentHch zurück- fuhr. Ich hätte bald das Wichtigste vergessen, und bin ganz in Konfusion geraten. Aber warum 45 sprichst du denn gar nicht? Bin ich dir zuwider? — Nun, das ist komisch, du närrischer Julius 1 wen läßt du zum Reden kommen? Deine Zärtlichkeit fließt heute ja wie ein Platzregen. — Wie dein Gespräch in der Nacht. — O das Halstuch lassen Sie nur, mein Herr. — Lassen? Nichts weniger als das. Was soll so ein elendes, dummes Hals- tuch? Vorurteile ! Aus der Welt muß es. — Wenn uns nur nicht jemand stört ! — Sieht sie nicht schon wieder aus, als ob sie weinen wollte I Du bist doch wohl? Warum schlägt dein Herz so un- ruhig? Komm, laß mich's küssen. Ja, du sagtest vorhin von Türenzuschließen. Gut, aber so nicht, nicht hier. Geschwind herunter durch den Garten, nach dem Pavillon, wo die Blumen stehen. Komm 1 o laß mich nicht so lange warten. — Wie Sie be- fehlen, mein Herr ! — Ich weiß nicht, du bist heute so sonderbar. — Wenn du anfängst zu mo- ralisieren, lieber Freund, so könnten wir eben- sogut wieder zurückkehren. Lieber gebe ich dir noch einen Kuß und laufe voran. — O fliehen Sie nicht so schnell, Lucinde, die Moral wird Sie doch nicht einholen. Du wirst fallen, Liebe ! — Ich habe dich nicht länger warten lassen wollen. Nun sind wir ja da. Und du bist auch eilig. — Und du sehr gehorsam. Aber jetzt ist nicht Zeit zu strei- ten. — Ruhig, ruhig ! — Siehst du, hier kannst du weichUch ruhen und wie es recht ist. Nun, wenn du diesmal nicht. . . so hast du gar keine Entschuldigung. — Wirst du nicht wenigstens erst den Vorhang niederlassen? — Du hast recht, die Beleuchtung wird so viel reizender. Wie schön glänzt diese weiße Hüfte in dem roten Schein 1 . . . 46 Warum so kalt, Lucinde? — Lieber, setze die Hyazinthen weiter weg, der Geruch betäubt mich. — Wie fest und selbständig, wie glatt und wie fein. Das ist harmonische Ausbildung. — O nein, Julius ! laß, ich bitte dich, ich will nicht. — Darf ich nicht fühlen, ob du glühst wie ich? O so laß mich doch die Schläge deines Herzens lauschen, die Lippen in dem Schnee des Busens kühlen ! . . . Kannst du mich wegdrücken? Ich werde mich rächen. Umarme mich fester. Kuß gegen Kuß; nein ! nicht mehrere, einen ewigen. Nimm meine Seele ganz und gib mir deine ! . . . O schönes, herrliches Zugleich! Sind wir nicht Kinder? Sprich doch ! wie konntest du nur erst so gleich- gültig und kalt sein, und nachher, als du mich endlich fester an dich zogst, machtest du in dem- selben Augenblick ein Gesicht, als wenn dir etwas weh täte, als ob es dir leid wäre, daß du meine Glut erwidertest. Was ist dir? Du weinst? Verbirg nicht dein Gesicht ! Sieh mich an, Geliebte ! — O laß mich hier an dich liegen, ich kann dir nicht in die Augen sehen. Es war recht schlecht von mir, Julius ! Kannst du mir verzeihen, du liebens- würdiger Mann ! Wirst du mich nicht verlassen? kannst du mich noch lieben? — Komm zu mir, mein süßes Weib ! hier an meinem Herzen. Weißt du noch neulich, wie schön es war, wie du in meinen Armen weintest? wie leicht dir wurde? Aber sprich nun auch, was ist dir, Liebe? bist du böse auf mich? — Auf mich bin ich böse. Ich könnte mich schlagen. . . Dir freilich wäre ganz recht geschehen; und wenn Sie sich künftig wie- der einmal ehemännlich betragen, mein Herr I 47 so werde ich schon besser dafür sorgen, daß Sie mich auch wie eine Ehefrau finden sollen. Darauf kannst du dich verlassen. Ich muß lachen, wie es mich überrascht hat. Aber bilden Sie sich nur nicht ein, mein Herr, daß du so unmenschlich liebens- würdig bist. Diesmal war es eigener Wille, daß ich meinen Vorsatz brach. — Der erste und der letzte Wille ist immer der beste. Dafür, daß die Frauen meistens weniger sagen als sie meinen, tun sie bisweilen mehr als sie wollen. Das ist nicht mehr als billig: der gute Wille verführt euch. Der gute Wille ist etwas sehr Gutes, aber das ist schlimm an ihm, daß er immer da ist, auch wenn man ihn nicht will. — Das ist ein schöner Fehler. Aber ihr seid voll von bösem Willen und ver- stockt euch darin. — O nein 1 wenn wir verstockt scheinen, so ist's bloß, weil wir nicht anders kön- nen, und also nicht böse. Wir können nicht, weil wir nicht recht wollen; es ist also nicht böser Wille, sondern Mangel an Willen. Und an wem liegt da wieder die Schuld, als an euch, daß ihr uns nichts mitteilen wollt von eurem Überfluß, und den guten Willen allein behalten wollt? Übrigens ist's ganz wider Willen geschehen, daß ich hier so in den Willen geraten bin, und ich weiß selbst nicht, was wir damit wollen. Indessen ist's immer besser, wenn ich mein Mütchen an einigen Worten kühle, als wenn ich das schöne Porzellan zerschlüge. Bei dieser Gelegenheit habe ich mich doch von meinem ersten Erstaunen über Ihr unerwartetes Pathos, Ihre vortreffliche Rede und Ihren rühmlichen Vorsatz etwas erholen können. In der Tat ist dies einer der seltsamsten 48 Streiche von denen, die Sie mir die Ehre verschafft haben kennen 2u lernen; und soviel ich mich er- innern kann, haben Sie schon seit einigen Wochen bei Tagen nicht in so gesetzten und vollen Perioden geredet, wie in Ihrer gegenwärtigen Predigt. Ist es Ihnen gefälHg, Ihre Meinung in Prosa zu über- setzen? — Hast du den gestrigen Abend und die interessante Gesellschaft wirklich schon ganz vergessen? Freilich, das wußte ich nicht. — Also darüber bist du böse, weil ich zuviel mit AmaUen gesprochen habe? — Sprechen Sie doch soviel Sie wollen und mit wem Sie wollen. Aber artig sollst du mir begegnen, das will ich haben. — Du sprachst so sehr laut, der Fremde stand gleich daneben, ich war ängstlich und wußte mir nicht anders zu helfen. — Als unartig zu sein, weil du ungeschickt warst? — Verzeih mir nur 1 Ich be- kenne mich schuldig, du weißt, wie verlegen ich mit dir in Gesellschaft bin. Es tut mir leid, in Gegenwart der anderen mit dir zu sprechen. — Wie schön weiß er sich herauszureden ! — Laß mir so etwas nie hingehen, und sei recht aufmerk- sam und strenge. Aber sieh, was du nun getan hast 1 — Ist es nicht Entweihung? O nein 1 es ist nicht möglich, es ist mehr als das. Gesteh mir's nur, es war Eifersucht. — Den ganzen Abend hattest du mich unfreundlich vergessen. Ich wollte dir heute früh alles schreiben, aber ich habe es wieder zerrissen. — Und da ich eben kam? — Ver- droß mich deine gewaltige Eil'. — Könntest du mich lieben, wenn ich nicht so brennbar und elek- trisch wäre? bist du es nicht auch? hast du unsere erste Umarmung vergessen? In einem AugenbHck 49 ist die Liebe da, ganz und ewig, oder gar nicht. Alles Göttliche und alles Schöne ist schnell und leicht. Oder sammelt die Freude sich etwa so wie Geld und andere Materien durch ein konsequen- tes Betragen? Wie eine Musik aus der Luft über- rascht uns das hohe Glück, erscheint und ver- schwindet. — So bist du mir erschienen, du Teu- rer ! Aber willst du mir verschwinden? Das sollst du nicht, ich sage es dir. — Ich will nicht. Ich will bei dir bleiben, überhaupt, und auch jetzt. Höre, ich habe große Lust, einen langen Diskurs über die Eifersucht mit dir zu halten: aber eigent- hch sollten wir erst die beleidigten Götter ver- söhnen. — Lieber erst den Diskurs, und hernach die Götter. — Du hast recht, wir sind noch nicht würdig, und du fühlst es lange nach, wann du gestört und verstimmt wurdest. Wie schön ist es, daß du so empfindhch bist ! — Ich bin nicht empfindlicher wie du, nur anders. — Nun so sage mir: ich bin nicht eifersüchtig: wie kommt's, daß du eifersüchtig bist? — Bin ich's denn ohne Ur- sache? Antworten Sie mir! — Ich weiß ja nicht, was du meinst. — Nun eifersüchtig bin ich eigent- lich nicht; aber sage mir, was ihr den ganzen Abend zusammen gesprochen habt? — Auf Ama- lien also? ist das möglich? So eine Kinderei ! Von gar nichts habe ich mit ihr gesprochen, und darum war es amüsant. Und habe ich nicht ebensolange mit Antonio gesprochen, den ich doch eine Zeit her fast alle Tage sah? — Ich soll also wohl glauben, du spricht mit der koketten Amalia wie mit dem stillen ernsthaften Antonio? Nicht wahr, es ist nichts wie klare reine Freundschaft? — O 50 nein, das sollst du nicht glauben, und mußt es auch nicht glauben; so ist es gar nicht. Wie kannst du mir eine solche Albernheit zutrauen? denn et- was recht Albernes ist es, wenn so zwei Personen von verschiedenem Geschlecht sich ein Verhält- nis ausbilden und einbilden wie reine Freund- schaft. Mit Amalien ist es gar nichts, als daß ich sie zum Scherz Hebe. Ich möchte sie gar nicht, wenn sie nicht ein wenig kokett wäre. Gäbe es nur mehr solche in unserem Zirkel ! eigentlich muß man alle Frauen im Scherze lieben. — Julius ! ich glaube, du wirst ganz närrisch. — Nun ver- steh mich wohl: nicht eigentlich alle, sondern nur alle, die Hebenswürdig sind und die einem eben vorkommen. — Das ist also weiter nichts, als was die Franzosen Galanterie und kokett nennen. — Weiter nichts, außer daß ich's mir schön und witzig denke. Und dann müssen die Menschen wissen, was sie tun und was sie wollen, und das ist selten der Fall. Der feine Scherz verwandelt sich in ihren Händen gleich wieder in groben Ernst. — Dieses Im-Scherz-Heben ist nur gar nicht scherzhaft zuzusehen. — Daran ist der Scherz unschuldig; das ist nichts wie die fatale Eifer- sucht. Verzeih mir, Liebe ! ich will nicht auffahren, aber ich begreife durchaus nicht, wie man eifer- süchtig sein kann: denn Beleidigungen finden ja nicht statt unter Liebenden, so wenig wie Wohl- taten. Also muß es Unsicherheit sein, Mangel an Liebe und Untreue gegen sich selbst. Für mich ist das Glück gewiß und die Liebe eins mit der Treue. FreiHch wie die Menschen so Heben, ist es etwas anderes. Da Hebt der Mann in der Frau 51 nur die Gattung, die Frau im Mann nur den Grad seiner natürlichen Qualitäten und seiner bürger- lichen Existenz, und beide in den Kindern nur ihr Machwerk und ihr Eigentum. Da ist die Treue ein Verdienst und eine Tugend; und da ist auch die Eifersucht an ihrer Stelle. Denn darin fühlen sie ungemein richtig, daß sie stillschweigend glau- ben, es gäbe ihresgleichen viele, und einer sei als Mensch ungefähr so viel wert wie der andere, und alle zusammen nicht eben sonderlich viel. — Du hältst also die Eifersucht für nichts anderes als leere Roheit und Unbildung? — Ja, oder für Mißbildung und Verkehrtheit, was ebenso arg oder noch ärger ist. Nach jenem System ist es noch das beste, wenn man mit Absicht aus bloßer Gefällig- keit und Höflichkeit heiratet; und gewiß muß es für solche Subjekte ebenso bequem als unter- haltend sein, im Verhältnis der Wechselverach- tung nebeneinander weg zu leben. Besonders die Frauen können eine ordentliche Passion für die Ehe bekommen; und wenn eine solche erst Ge- schmack daran findet, so geschieht es leicht, daß sie ein halbes Dutzend nacheinander heiratet, gei- stig oder leiblich; wo es denn nie an Gelegenheit gebricht, mit Abwechslung delikat zu sein und viel von der Freundschaft zu reden. — Du hast schon vorhin so gesprochen, als hieltest du uns zur Freundschaft unfähig. Ist das wirklich deine Meinung? — Ja ! aber die Unfähigkeit, glaube ich, liegt mehr in der Freundschaft als in euch. Ihr liebt alles, was ihr hebt, ganz, wie den Geliebten und das Kind. Diesen Charakter würde selbst ein schwesterliches Verhältnis bei euch annehmen. — 52 Darin hast du recht. — Die Freundschaft ist für euch zu vielseitig und zu einseitig. Sie muß ganz geistig sein und durchaus bestimmte Grenzen haben. Diese Absonderung würde euer Wesen nur auf eine feinere Art ebenso vollkommen zer- stören wie bloße Sinnlichkeit ohne Liebe. Für die Gesellschaft aber ist sie zu ernst, zu tief und zu heilig. — Können denn Menschen nicht mit- einander reden, ohne danach zu fragen, ob sie Männer oder Frauen sind? Das dürfte sehr ernst- haft ausfallen. Aufs höchste möchte es einen in- teressanten Klub geben. Du verstehst, was ich meine. Es wäre schon viel, wenn man da frei und witzig reden dürfte, und weder zu wild noch zu steif wäre. Das Feinste und das Beste würde immer fehlen, was überall, wo sich ein bißchen gute Gesellschaft zeigt, Geist und Seele davon ist. Und das ist der Scherz mit der Liebe und die Liebe zum Scherz, der ohne den Sinn für jenen zum Spaß herabsinkt. Aus diesem Grunde nehme ich auch die Zweideutigkeiten in Schutz. — Tust du das im Scherz oder zum Spaß? — Nein, nein ! ich tue es im vollen Ernst. — Aber doch nicht so ernsthaft und so feierlich wie Pauline und ihr Liebhaber? — Gott behüte 1 ich glaube, die ließen die Betglocken anziehen, wenn sie sich umarmen, falls es nur schicklich wäre. O 1 es ist wahr, meine Freundin, der Mensch ist von Natur eine ernst- hafte Bestie. Man muß diesem schändlichen und leidigen Hange aus allen Kräften und von allen Seiten entgegenarbeiten. Dazu sind die Zwei- deutigkeiten auch gut, nur sind sie so selten zwei- deutig, und wenn sie es nicht sind und nur einen 53 Sinn zulassen, das ist eben nicht unsittlich, aber zudringlich und platt. Leichtfertige Gespräche müssen geistig und zierlich und bescheiden sein, so viel wie möglich; übrigens aber ruchlos genug. — Das ist gut, aber was sollen sie gerade in der Gesellschaft? — Sie sollen das Gespräch frisch erhalten, wie das Salz an den Speisen. Es fragt sich gar nicht, warum man sie sagen soll, sondern nur, wie man sie sagen soll. Denn lassen kann und darf man's doch nicht. Es wäre ja grob, mit einem reizenden Mädchen so zu reden, als ob sie ein geschlechtsloses Amphibium wäre. Es ist Pflicht und Schuldigkeit, immer auf das anzuspielen, was sie ist und sein wird; und so unzart, steif und schuldig, wie die Gesellschaft einmal besteht, ist es wirklich eine komische Situation, ein unschul- diges Mädchen zu sein. — Das erinnert mich an den berühmten Buffo, der selbst oft sehr traurig war, während er alle zu lachen machte. — Die Gesellschaft ist ein Chaos, das nur durch Witz zu bilden und in Harmonie zu bringen ist; und wenn man nicht scherzt und tändelt mit den Elementen der Leidenschaft, so ballt sie sich in dicke Massen und verfinstert alles. — So mögen hier wohl Leidenschaften in der Luft sein: denn es ist bei- nahe finster. — Gewiß haben Sie Ihre Augen zu- geschlossen, Dame meines Herzens ! Sonst würde eine allgemeine Klarheit unfehlbar das Zimmer durchstrahlen. — Wer ist wohl leidenschaftlicher, Julius ! ich oder du? — Wir sind's beide genug. Ohne das möchte ich nicht leben. Und sieh 1 dar- um könnte ich mich mit der Eifersucht aussöhnen. Es ist alles in der Liebe: Freundschaft, schöner 54 Umgang, Sinnlichkeit und auch Leidenschaft; und es muß alles darin sein, und eins das andere ver- stärken und lindern, beleben und erhöhen. — Laß dich umarmen, du Treuer ! — Aber nur unter einer Bedingung kann ich dir die Eifersucht er- lauben. Ich habe oft gefühlt, daß eine kleine Dosis von gebildetem, verfeinertem Zorn einen Mann nicht übel kleidet. Vielleicht ist's dir so mit der Eifersucht. — Getroffen 1 und also brauche ich sie nicht ganz abzuschwören. — Wenn sie sich nur immer so schön und so witzig äußerte wie heute bei dir ! — Findest du das ? Nun, wenn du das nächste Mal schön und witzig auffährst, werde ich dir's auch sagen und dich loben. — Sind wir nun nicht würdig, die beleidigten Götter zu ver- söhnen? — Ja, wenn dein Diskurs ganz zu Ende ist, sonst sage noch das übrige. — 55 NOVALIS. Klingsohrs Märchen. Abends waren einige Gäste da; der Großvater trank die Gesundheit des jungen Brautpaares, und versprach bald ein schönes Hochzeitfest auszu- richten. Was hilft das lange Zaudern, sagte der Alte. Frühe Hochzeiten, lange Liebe. Ich habe immer gesehen, das Ehen, die früh geschlossen wurden, am glücklichsten waren. In späteren Jah- ren ist gar keine solche Andacht mehr im Ehe- stande, als in der Jugend. Eine gemeinschaftlich genossene Jugend ist ein unzerreißliches Band. Die Erinnerung ist der sicherste Grund der Liebe. Nach Tische kamen mehrere. Heinrich bat seinen neuen Vater um die Erfüllung seines Versprechens. Klingsohr sagte zu der Gesellschaft: Ich habe heu- te Heinrichen versprochen ein Märchen zu erzäh- len; wenn ihr es zufrieden seid, so bin ich bereit. Das ist ein kluger Einfall von Heinrich, sagte Schwaning. Ihr habt lange nichts von Euch hören lassen. Alle setzten sich um das lodernde Feuer im Kamin. Heinrich saß dicht bei Mathilden, und schlang seinen Arm um sie. Klingsohr begann: Die lange Nacht war eben angegangen. Der alte Held schlug an seinen Schild, daß es weit um- her in den öden Gassen der Stadt erklang. Er wiederholte das Zeichen dreimal. Da fingen die hohen bunten Fenster des Palastes an von innen heraus helle zu werden, und ihre Figuren beweg- ten sich. Sie bewegten sich lebhafter, je stärker das rötliche Licht ward, das die Gassen zu er- 56 J leuchten begann. Auch sah man allmählich die gewaltigen Säulen und Mauern selbst sich erhel- len; endlich standen sie im reinsten milchblauen Schimmer, und spielten mit den sanftesten Farben. Die ganze Gegend ward nun sichtbar, und der Widerschein der Figuren, das Getümmel der Spieße, der Schwerter, der Schilder und der Helme, die sich nach hier und da erscheinenden Kronen von allen Seiten neigten, und endlich wie diese verschwanden, und einem schlichten, grü- nen Kranze Platz machten, um diesen her einen weiten Kreis schlössen: alles dies spiegelte sich in dem starren Meere, das den Berg umgab, auf dem die Stadt lag, und auch der ferne hohe Berggürtel, der sich rund um das Meer herzog, ward bis in die Mitte mit einem milden Abglanz überzogen. Man konnte nichts deutlich unterscheiden; doch hörte man ein wunderliches Getöse herüber, wie aus einer fernen ungeheuren Werkstatt. Die Stadt er- schien dagegen hell und klar. Ihre glatten, durch- sichtigen Mauern warfen die schönen Strahlen zurück, und das vortreffliche Ebenmaß, der edle Stil aller Gebäude, und ihre schöne Zusammen- ordnung kam zum Vorschein. Vor allen Fenstern standen zierliche Gefäße von Ton, voll der man- nigfaltigsten Eis- und Schneeblumen, die auf das anmutigste funkelten. Am herrlichsten nahm sich auf dem großen Platze vor dem Palaste der Garten aus, der aus Metallbäumen und Kristallpflanzen bestand, und mit bunten Edelsteinblüten und Früchten über- sät war. Die Mannigfaltigkeit und Zierlichkeit der Gestalten und die Lebhaftigkeit der Lichter und 57 Farben gewährten das herrlichste Schauspiel, des- sen Pracht durch einen hohen Springquell in der Mitte des Gartens, der zu Eis erstarrt war, voll- endet wurde. Der alte Held ging vor den Toren des Palastes langsam vorüber. Eine Stimme rief seinen Namen im Innern. Er lehnte sich an das Tor, das mit einem sanften Klange sich öffnete, und trat in den Saal. Seinen Schild hielt er vor die Augen. Hast du noch nichts entdeckt? sagte die schöne Tochter Arcturs mit klagender Stimme. Sie lag an seidnen Polstern auf einem Throne, der von einem großen Schwefelkristall künstlich er- baut war, und einige Mädchen rieben emsig ihre zarten Glieder, die wie aus Milch und Purpur zu- sammengeflossen schienen. Nach allen Seiten strömte unter den Händen der Mädchen das rei- zende Licht von ihr aus, was den Palast so wunder- sam erleuchtete. Ein duftender Wind wehte im Saale. Der Held schwieg. Laß mich deinen Schild berühren, sagte sie sanft. Er näherte sich dem Throne und betrat den kösthchen Teppich. Sie ergriff seine Hand, drückte sie mit Zärtlichkeit an ihren himmlischen Busen und rührte seinen Schild an. Seine Rüstung klang, und eine durchdringende Kraft beseelte seinen Körper. Seine Augen bUtzten, und das Herz pochte hörbar an den Panzer. Die schöne Freia schien heiterer, und das Licht ward brennender, das von ihr ausströmte. Der König kommt, rief ein prächtiger Vogel, der im Hinter- grunde des Thrones saß. Die Dienerinnen legten eine himmelblaue Decke über die Prinzessin, die sie bis über den Busen bedeckte. Der Held senkte seinen Schild und sah nach der Kuppel hinauf, zu 58 welcher zwei breite Treppen von beiden Seiten des Saales sich hinaufschlangen. Eine leise Musik ging dem Könige voran, der bald mit einem zahl- reichen Gefolge in der Kuppel erschien und her- unter kam. Der schöne Vogel entfaltete seine glänzenden Schwingen, bewegte sie sanft und sang, wie mit tausend Stimmen, dem Könige entgegen: Nicht lange wird der schöne Fremde säumen. Die Wärme naht, die Ewigkeit beginnt. Die Königin erwacht aus langen Träumen, Wenn Meer und Land in Liebesglut zerrinnt. Die kalte Nacht wird diese Stätte räumen, Wenn Fabel erst das alte Recht gewinnt. In Freias Schoß wird sich die Welt entzünden Und jede Sehnsucht ihre Sehnsucht finden. Der König umarmte seine Tochter mit Zärt- lichkeit. Die Geister der Gestirne stellten sich um den Thron, und der Held nahm in der Reihe seinen Platz ein. Eine unzählige Menge Sterne füllten den Saal in zierlichen Gruppen. Die Dienerinnen brachten einen Tisch und ein Kästchen, worin eine Menge Blätter lagen, auf denen heilige, tief- sinnige Zeichen standen, die aus lauter Sternbil- dern zusammengesetzt waren. Der König küßte ehrfurchtsvoll diese Blätter, mischte sie sorg- fältig untereinander, und reichte seiner Tochter einige zu. Die andern behielt er für sich. Die Prin- zessin zog sie nach der Reihe heraus und legte sie auf den Tisch, dann betrachtete der König die seinigen genau, und wählte mit vielem Nach- denken, ehe er eins dazu hinlegte. Zuweilen schien 59 er gezwungen zu sein, dies oder jenes Blatt zu wählen. Oft aber sah man ihm die Freude an, wenn er durch ein gutgetroffenes Blatt eine schöne Harmonie der Zeichen und Figuren legen konnte. Wie das Spiel anfing, sah man an allen Umstehen- den Zeichen der lebhaftesten Teilnahme, und die sonderbarsten Mienen und Gebärden, gleichsam als hätte jeder ein unsichtbares Werkzeug in Händen, womit er eifrig arbeite. Zugleich ließ sich eine sanfte, aber tief bewegende Musik in der Luft hören, die von den im Saal sich wunderlich durch- einander schlingenden Sternen, und den übrigen sonderbaren Bewegungen zu entstehen schien. Die Sterne schwangen sich, bald langsam, bald schnell, in beständig veränderten Linien umher, und bildeten, nach dem Gange der Musik, die Figuren der Blätter auf das kunstreichste nach. Die Musik wechselte, wie die Bilder auf dem Tische, unaufhörlich, und so wunderlich und hart auch die Übergänge nicht selten waren, so schien doch nur ein einfaches Thema das Ganze zu ver- binden. Mit einer unglaublichen Leichtigkeit flogen die Sterne den Bildern nach. Sie waren bald alle in einer großen Verschlingung, bald wieder in einzelne Haufen schön geordnet, bald zer- stäubte der lange Zug wie ein Strahl in unzählige Funken, bald kam durch immer wachsende klei- nere Kreise und Muster wieder eine große, über- raschende Figur zum Vorschein. Die bunten Gestalten in den Fenstern blieben während dieser Zeit ruhig stehen. Der Vogel bewegte unaufhör- lich die Hülle seiner kostbaren Federn auf die mannigfaltigste Weise. Der alte Held hatte bisher 60 auch sein unsichtbares Geschäft emsig betrieben, als auf einmal der König voll Freuden ausrief: Es wird alles gut. Eisen, wirf du dein Schwert in die Welt, daß sie erfahren, wo der Friede ruht. Der Held riß das Schwert von der Hüfte, stellte es mit der Spitze gen Himmel, dann ergriff er es und warf es aus dem geöffneten Fenster über die Stadt und das Eismeer. Wie ein Komet flog es durch die Luft und schien an dem Berggürtel mit hellem Klange zu zersplittern, denn es fiel in lauter Fun- ken herunter. Zu der Zeit lag der schöne Knabe Eros in seiner Wiege und schlummerte sanft, während Ginni- stan, seine Amme, die Wiege schaukelte und seiner Milchschwester Fabel die Brust reichte. Ihr buntes Halstuch hatte sie über die Wiege ausgebreitet, daß die hellbrennende Lampe, die der Schreiber vor sich stehen hatte, das Kind mit ihrem Scheine nicht beunruhigen möchte. Der Schreiber schrieb unverdrossen, sah sich nur zuweilen mürrisch nach den Kindern um, und schnitt der Amme finstere Gesichter, die ihn gutmütig anlächelte und schwieg. Der Vater der Kinder ging immer ein und aus, indem er jedesmal die Kinder betrachtete und Ginnistan freundlich begrüßte. Er hatte unauf- hörlich dem Schreiber etwas zu sagen. Dieser vernahm ihn genau, und wenn er es aufgezeichnet hatte, reichte er die Blätter einer edlen, götter- gleichen Frau hin, die sich an einen Altar lehnte, auf welchem eine dunkle Schale mit klarem Was- ser stand, in welches sie mit heiterem Lächeln blickte. Sie tauchte die Blätter jedesmal hinein, 61 und wenn sie beim Herausziehen gewahr wurde, daß einige Schrift stehen geblieben und glänzend geworden war, so gab sie das Blatt dem Schreiber zurück, der es in ein großes Buch heftete und oft verdrießlich zu sein schien, wenn seine Mühe vergeblich gewesen und alles ausgelöscht war. Die Frau wandte sich zuzeiten gegen Ginnistan und die Kinder, tauchte den Finger in die Schale und spritzte einige Tropfen auf sie hin, die, sobald sie die Amme, das Kind oder die Wiege berühr- ten, in einen blauen Dunst zerrannen, der tausend seltsame Bilder zeigte und beständig um sie her- zog und sich veränderte. Traf einer davon zufällig auf den Schreiber, so fielen eine Menge Zahlen und geometrische Figuren nieder, die er mit vieler Emsigkeit auf einen Faden zog und sich zum Zierat um den mageren Hals hing. Die Mutter des Knaben, die wie die Anmut und Lieblichkeit selbst aussah, kam oft herein. Sie schien beständig beschäftigt und trug immer irgend ein Stück Hausgeräte mit sich hinaus; bemerkte es der arg- wöhnische und mit spähenden Blicken sie ver- folgende Schreiber, so begann er eine lange Straf- rede, auf die aber kein Mensch achtete. Alle schienen seiner unnützen Widerreden gewohnt. Die Mutter gab auf einige Augenblicke der kleinen Fabel die Brust; aber bald ward sie wieder abge- rufen und dann nahm Ginnistan das Kind zurück, das an ihr lieber zu trinken schien. Auf einmal brachte der Vater ein zartes eisernes Stäbchen herein, das er im Hofe gefunden hatte. Der Schreiber besah es und drehte es mit vieler Leb- haftigkeit herum und brachte bald heraus, daß 62 CS sich von selbst, in der Mitte an einem Faden aufgehängt, nach Norden drehe. Ginnistan nahm es auch in die Hand, bog es, drückte es, hauchte es an und hatte ihm bald die Gestalt einer Schlange gegeben, die sich nun plötzlich in den Schwanz biß. Der Schreiber ward bald des Betrachtens überdrüssig. Er schrieb alles genau auf und war sehr weitläufig über den Nutzen, den dieser Fund gewähren könne. Wie ärgerlich war er aber, als sein ganzes Schreibwerk die Probe nicht bestand und das Papier weiß aus der Schale hervorkam. Die Amme spielte fort. Zufällig berührte sie die Wiege damit, da fing der Knabe an wach zu wer- den, schlug die Decke zurück, hielt die eine Hand gegen das Licht und langte mit der andern nach der Schlange. Wie er sie erhielt, sprang er rüstig, daß Ginnistan erschrak und der Schreiber beinah vor Entsetzen vom Stuhl fiel, aus der Wiege, stand, nur von seinen langen goldenen Haaren bedeckt, im Zimmer, und betrachtete mit unaussprechli- cher Freude das Kleinod, das sich in seinen Händen nach Norden ausstreckte und ihn hef- tig im Innern zu bewegen schien. Zusehends wuchs er. Sophie, sagte er mit rührender Stimme zu der Frau, laß mich aus der Schale trinken. Sie reichte sie ihm ohne Anstand, und er konnte nicht auf- hören zu trinken, indem die Schale sich immer voll zu erhalten schien. Endlich gab er sie zurück, in- dem er die edle Frau innig umarmte. Er herzte Ginnistan und bat sie um das bunte Tuch, das er sich anständig um die Hüften band. Die kleine Fabel nahm er auf den Arm. Sie schien unendli- 63 ches Wohlgefallen an ihm zu haben und fing zu plaudern an. Ginnistan machte sich viel um ihn zu schaffen. Sie sah äußerst reizend und leicht- fertig aus und drückte ihn mit der Innigkeit einer Braut an sich. Sie zog ihn mit heimlichen Worten nach der Kammertür, aber Sophie winkte ernst- haft und deutete nach der Schlange; da kam die Mutter herein, auf die er sogleich zuflog und sie mit heißen Tränen bewillkommte. Der Schreiber war ingrimmig fortgegangen. Der Vater trat her- ein, und wie er Mutter und Sohn in stiller Um- armung sah, trat er hinter ihren Rücken zur rei- zenden Ginnistan und liebkoste ihr. Sophie stieg die Treppe hinauf. Die kleine Fabel nahm die Feder des Schreibers und fing zu schreiben an. Mutter und Sohn vertieften sich in ein leises Ge- spräch, und der Vater schlich sich mit Ginnistan in die Kammer, um sich von den Geschäften des Tages in ihren Armen zu erholen. Nach geraumer Zeit kam Sophie zurück. Der Schreiber trat her- ein. Der Vater kam aus der Kammer und ging an seine Geschäfte. Ginnistan kam mit glühenden Wangen zurück. Der Schreiber jagte die kleine Fabel mit vielen Schmähungen von seinem Sitze und hatte einige Zeit nötig, seine Sachen in Ord- nung zu bringen. Er reichte Sophien die von Fabel vollgeschriebenen Blätter, um sie rein zurück zu erhalten, geriet aber bald in den äußersten Un- willen, wie Sophie die Schrift völlig glänzend und unversehrt aus der Schale zog und sie ihm hinleg- te. Fabel schmiegte sich an ihre Mutter, die sie an die Brust nahm und das Zimmer aufputzte, die Fenster öffnete, frische Luft hereinließ und 64 Zubereitungen zu einem köstlichen Mahle machte. Man sah durch die Fenster die herrlichsten Aus- sichten und einen heiteren Himmel über die Erde gespannt. Auf dem Hofe war der Vater in voller Tätigkeit. Wenn er müde war, sah er hinauf ans Fenster, wo Ginnistan stand und ihm allerhand Näschereien herunterwarf. Die Mutter und der Sohn gingen hinaus, um überall zu helfen und den gefaßten Entschluß vorzubereiten. Der Schreiber rührte die Feder und machte immer eine Fratze, wenn er genötigt war, Ginnistan um etwas zu fragen, die ein sehr gutes Gedächtnis hatte und alles behielt, was sich zutrug. Eros kam bald in schöner Rüstung, um die das bunte Tuch wie eine Schärpe gebunden war, zurück, und bat Sophie um Rat, wann und wie er seine Reise an- treten solle. Der Schreiber war vorlaut und wollte gleich mit einem ausführlichen Reiseplan dienen, aber seine Vorschläge wurden überhört. Du kannst sogleich reisen; Ginnistan mag dich be- gleiten, sagte Sophie; sie weiß mit den Wegen Bescheid und ist überall gut bekannt. Sie wird die Gestalt deiner Mutter annehmen, um dich nicht in Versuchung zu führen. Findest du den König, so denke an mich; dann komme ich, um dir zu helfen. Ginnistan tauschte ihre Gestalt mit der Mutter, worüber der Vater sehr vergnügt zu sein schien; der Schreiber freute sich, daß die beiden fort- gingen; besonders da ihm Ginnistan ihr Taschen- buch zum Abschiede schenkte, worin die Chronik des Hauses umständlich aufgezeichnet war; nur blieb ihm die kleine Fabel ein Dorn im Auge, und 3 Romantiker 03 er hätte, um seiner Ruhe und Zufriedenheit willen, nichts mehr gewünscht, als daß auch sie unter der Zahl der Abreisenden sein möchte. Sophie segnete die Niederknieenden ein, und gab ihnen ein Ge- fäß voll Wasser aus der Schale mit; die Mutter war sehr bekümmert. Die kleine Fabel wäre gern mit- gegangen, und der Vater war 2u sehr außer dem Hause beschäftigt, als daß er lebhaften Anteil hätte nehmen sollen. Es war Nacht, wie sie ab- reisten, und der Mond stand hoch am Himmel. Lieber Eros, sagte Ginnistan, wir müssen eilen, daß wir 2u meinem Vater kommen, der mich lange nicht gesehen und so sehnsuchtsvoll mich überall auf der Erde gesucht hat. Siehst du wohl sein bleiches abgehärmtes Gesicht? Dein Zeugnis wird mich ihm in der fremden Gestalt kenntlich machen. Die Liebe ging auf dunkler Bahn, Vom Monde nur erblickt, Das Schattenreich war aufgetan, Und seltsam aufgeschmückt. Ein blauer Dust umschwebte sie Mit einem goldnen Rand, Und eilig zog die Phantasie Sie über Strom und Land. Es hob sich ihre volle Brust In wunderbarem Mut; Ein Vorgefühl der künft'gen Lust Besprach die wilde Glut. 66 Die Sehnsucht klagt' und wüßt' es nicht. Daß Liebe näher kam; Und tiefer grub in ihr Gesicht Sich hoffnungsloser Gram. Die kleine Schlange blieb getreu, Sie wies nach Norden hin. Und beide folgten sorgenfrei Der schönen Führerin. Die Liebe ging durch Wüstenein Und durch der Wolken Land, Trat in den Hof des Mondes ein. Die Tochter an der Hand. Er saß auf seinem Silberthron, Allein mit seinem Harm; Da hört er seines Kindes Ton, Und sank in ihren Arm. Eros stand gerührt bei den zärtlichen Umar- mungen. EndHch sammelte sich der alte, erschüt- terte Mann und bewillkommte seinen Gast. Er ergriif sein großes Hörn und stieß mit voller Macht hinein. Ein gewaltiger Ruf dröhnte durch die uralte Burg. Die spitzen Türme mit ihren glänzenden Knöpfen und die tiefen schwarzen Dächer schwankten. Die Burg stand still, denn sie war auf das Gebirge jenseits des Meeres ge- kommen. Von allen Seiten strömten seine Diener herzu, deren seltsame Gestalten und Trachten Ginnistan unendHch ergötzten und den tapferen Eros nicht erschreckten. Erstere grüßte ihre alten 67 Bekannten, und alle erschienen vor ihr mit neuer Stärke und in der ganzen Herrlichkeit ihrer Na- turen. Der ungestüme Geist der Flut folgte der sanften Ebbe. Die alten Orkane legten sich an die klopfende Brust der heißen leidenschaftlichen Erdbeben. Die zärtlichen Regenschauer sahen sich nach dem bunten Bogen um, der von der Sonne, die ihn mehr anzieht, entfernt, bleich da stand. Der rauhe Donner schalt über die Torheiten der Blitze hinter den unzähligen Wolken hervor, die mit tausend Reizen dastanden und die feurigen Jünglinge lockten. Die beiden lieblichen Schwe- stern, Morgen und Abend, freuten sich vorzüglich über die beiden Ankömmlinge. Sie weinten sanf- te Tränen in ihren Umarmungen. Unbeschreiblich war der Anblick dieses wunderlichen Hofstaats. Der alte König konnte sich an seiner Tochter nicht satt sehen. Sie fühlte sich zehnfach glücklich in ihrer väterlichen Burg, und ward nicht müde, die bekannten Wunder und Seltenheiten zu be- schauen. Ihre Freude war ganz unbeschreiblich, als ihr der König den Schlüssel zur Schatzkammer und die Erlaubnis gab, ein Schauspiel für Eros darin zu veranstalten, das ihn so lange unterhalten könnte, bis das Zeichen des Aufbruchs gegeben würde. Die Schatzkammer war ein großer Garten, dessen Mannigfaltigkeit und Reichtum alle Be- schreibung übertraf. Zwischen den ungeheuren Wetterbäumen lagen unzählige Luftschlösser von überraschender Bauart, eins immer köstlicher als das andere. Große Herden von Schäfchen, mit silberweißer, goldner und rosenfarbener Wolle irrten umher, und die sonderbarsten Tiere beleb- 68 ten den Hain. Merkwürdige Bilder standen hie und da, und die festlichen Aufzüge, die seltsamen Wagen, die überall zum Vorschein kamen, be- schäftigten die Aufmerksamkeit unaufhörlich. Die Beete standen voll der buntesten Blumen. Die Gebäude waren gehäuft voll von Waffen aller Art, voll der schönsten Teppiche, Tapeten, Vor- hänge, Trinkgeschirre und aller Arten von Ge- räten und Werkzeugen, in unübersehlichen Rei- hen. Auf einer Anhöhe erblickten sie ein roman- tisches Land, das mit Städten und Burgen, mit Tempeln und Begräbnissen übersät war, und alle Anmut bewohnter Ebenen mit den furchtbaren Reizen der Einöde und schroffer Felsengegenden vereinigte. Die schönsten Farben waren in den glücklichsten Mischungen. Die Bergspitzen glänz- ten wie Lustfeuer in ihren Eis- und Schneehüllen. Die Ebene lachte im frischesten Grün. Die Ferne schmückte sich mit allen Veränderungen von Blau, und aus der Dunkelheit des Meeres wehten un- zählige bunte Wimpel von zahlreichen Flotten. Hier sah man einen Schiffbruch im Hintergrunde, und vorne ein ländHches fröhliches Mahl von Landleuten; dort den schrecklich schönen Aus- bruch eines Vulkans, die Verwüstungen des Erd- bebens, und im Vordergrunde ein Hebendes Paar unter schattenden Bäumen, in den süßesten Lieb- kosungen. Abwärts eine fürchterUche Schlacht, und unter ihr ein Theater voll der lächerHchsten Masken. Nach einer anderen Seite im Vorder- grunde einen jugendlichen Leichnam auf der Bahre, die ein trostloser GeHebter festhielt, und die weinenden Eltern daneben; im Hintergrunde 69 eine liebliche Mutter mit dem Kinde an der Brust, und Engel sitzend zu ihren Füßen, und aus den Zweigen über ihrem Haupte herunterblickend. Die Szenen verwandelten sich unaufhörlich und flössen endlich in eine große geheimnisvolle Vor- stellung zusammen. Himmel und Erde waren in vollem Aufruhr. Alle Schrecken waren losgebro- chen. Eine gewaltige Stimme rief zu den Waffen. Ein entsetzliches Heer von Totengerippen, mit schwarzen Fahnen, kam wie ein Sturm von dun- keln Bergen herunter, und griff das Leben an, das mit seinen jugendlichen Scharen in der hellen Ebene in munteren Festen begriffen war und sich keines Angriffs versah. Es entstand ein entsetz- liches Getümmel, die Erde zitterte; der Sturm brauste, und die Nacht ward von fürchterlichen Meteoren erleuchtet. Mit unerhörten Grausam- keiten zerriß das Heer der Gespenster die zarten Glieder der Lebendigen. Ein Scheiterhaufen türm- te sich empor, und unter dem grausenvollsten Geheul wurden die Kinder des Lebens von den Flammen verzehrt. Plötzlich brach aus dem dunk- len Aschenhaufen ein milchblauer Strom nach allen Seiten aus. Die Gespenster wollten die Flucht ergreifen, aber die Flut wuchs zusehends und ver- schlang die scheußliche Brut. Bald waren alle Schrecken vertilgt. Himmel und Erde flössen in süße Musik zusammen. Eine wunderschöne Blume schwamm glänzend auf den sanften Wogen. Ein glänzender Bogen schloß sich über die Flut, auf welchem göttliche Gestalten auf prächtigen Thro- nen, nach beiden Seiten herunter, saßen. Sophie saß zu oberst, die Schale in der Hand, neben einem 70 herrlichen Manne, mit einem Eichenkranze um die Locken und einer Friedenspalme statt des Zepters in der Rechten. Ein Lilienblatt bog sich über den Kelch der schwimmenden Blume; die kleine Fabel saß auf demselben, und sang zur Harfe die süßesten Lieder. In dem Kelche lag Eros selbst, über ein schönes schlummerndes Mädchen hergebeugt, die ihn fest umschlungen hielt. Eine kleinere Blüte schloß sich um beide her, so daß sie von den Hüften an in eine Blume verwandelt zu sein schienen. Eros dankte Ginnistan mit tausend Entzücken. Er umarmte sie zärtlich, und sie erwiderte seine Liebkosungen. Ermüdet von der Beschwerde des Weges und den mannigfaltigen Gegenständen, die er gesehen hatte, sehnte er sich nach Bequem- lichkeit und Ruhe. Ginnistan, die sich von dem schönen JüngUng lebhaft angezogen fühlte, hütete sich wohl des Trankes zu erwähnen, den Sophie ihm mitgegeben hatte. Sie führte ihn zu einem abgelegenen Bade, zog ihm die Rüstung aus, und zog selbst ein Nachtkleid an, in welchem sie fremd und verführerisch aussah. Eros tauchte sich in die gefährlichen Wellen, und stieg berauscht wieder heraus. Ginnistan trocknete ihn, und rieb seine starken, von Jugendkraft gespannten Glieder. Er gedachte mit glühender Sehnsucht seiner Gelieb- ten, und umfaßte in süßem Wahne die reizende Ginnistan. Unbesorgt überließ er sich seiner un- gestümen Zärtlichkeit, und schlummerte endlich nach den wollüstigsten Genüssen an dem reizen- den Busen seiner Begleiterin ein. Unterdessen war zu Hause eine traurige Ver- 71 änderung vorgegangen. Der Schreiber hatte das Gesinde in eine gefährliche Verschwörung ver- wickelt. Sein feindseliges Gemüt hatte längst Gelegenheit gesucht, sich des Hausregiments zu bemächtigen und sein Joch abzuschütteln. Er hatte sie gefunden. Zuerst bemächtigte sich sein Anhang der Mutter, die in eiserne Bande gelegt wurde. Der Vater ward bei Wasser und Brot eben- falls hingesetzt. Die kleine Fabel hörte den Lärm im Zimmer. Sie verkroch sich hinter dem Altare, und wie sie bemerkte, daß eine Tür an seiner Rückseite verborgen war, so öffnete sie dieselbe mit vieler Behendigkeit, und fand, daß eine Trep- pe in ihm hinunterging. Sie zog die Tür nach sich, und stieg im Dunkeln die Treppe hinunter. Der Schreiber stürzte mit Ungestüm herein, um sich an der kleinen Fabel zu rächen und Sophien ge- fangen zu nehmen. Beide waren nicht zu finden. Die Schale fehlte auch, und in seinem Grimme zerschlug er den Altar in tausend Stücke, ohne jedoch die heimliche Treppe zu entdecken. Die kleine Fabel stieg geraume Zeit. Endhch kam sie auf einen freien Platz hinaus, der rund herum mit einer prächtigen Kolonnade geziert und durch ein großes Tor geschlossen war. Alle Figuren waren hier dunkel. Die Luft war wie ein ungeheurer Schatten; am Himmel stand ein schwarzer strahlender Körper. Man konnte alles auf das deutlichste unterscheiden, weil jede Figur einen anderen Anstrich von Schwarz zeigte, und einen lichten Schein hinter sich warf; Licht und Schatten schienen hier ihre Rollen vertauscht zu haben. Fabel freute sich in einer neuen Welt zu 72 sein. Sie besah alles mit kindlicher Neugierde. Endlich kam sie an das Tor, vor welchem auf einem massiven Postament eine schöne Sphinx lag. Was suchst du? sagte die Sphinx; mein Eigen- tum, erwiderte Fabel. — Wo kommst du her? — Aus alten Zeiten. — Du bist noch ein Kind. — Und werde ewig ein Kind sein. — Wer wird dir beistehen? — Ich stehe für mich. Wo sind die Schwestern? fragte Fabel. — Überall und nir- gends, gab die Sphinx zur Antwort. — Kennst du mich? — Noch nicht. — Wo ist die Liebe? — In der Einbildung. — Und Sophie? — Die Sphinx murmelte unvernehmlich vor sich hin, und rausch- te mit den Flügeln. Sophie und Liebe ! rief trium- phierend Fabel, und ging durch das Tor. Sie trat in die ungeheure Höhle, und ging fröhlich auf die alten Schwestern zu, die bei der kärgUchen Nacht einer schwarzbrennenden Lampe ihr wunderliches Geschäft trieben. Sie taten nicht, als ob sie den kleinen Gast bemerkten, der mit artigen Lieb- kosungen sich geschäftig um sie erzeigte. EndHch krächzte die eine mit rauhen Worten und scheelem Gesicht: Was willst du hier. Müßiggängerin? wer hat dich eingelassen? Dein kindisches Hüpfen bewegt die stille Flamme. Das Öl verbrennt un- nützerweise. Kannst du dich nicht hinsetzen und etwas vornehmen? — Schöne Base, sagte Fabel, am Müßiggehen ist mir nichts gelegen. Ich mußte recht über eure Türhüterin lachen. Sie hätte mich gern an die Brust genommen, aber sie mußte zu viel gegessen haben, sie konnte nicht aufstehen. Laßt mich vor der Tür sitzen, und gebt mir etwas 73 zu spinnen; denn hier kann ich nicht gut sehen, und wenn ich spinne, muß ich singen und plau- dern dürfen, und das könnte euch in euren ernst- haften Gedanken stören. — Hinaus sollst du nicht, aber in der Nebenkammer bricht ein Strahl der Oberwelt durch die Felsenritzen, da magst du spinnen, wenn du so geschickt bist; hier liegen ungeheure Haufen von alten Enden, die drehe zusammen, aber hüte dich: wenn du saumselig spinnst, oder der Faden reißt, so schlingen sich die Fäden um dich her und ersticken dich. — Die Alte lachte hämisch und spann. Fabel raffte einen Arm voll Fäden zusammen, nahm Wocken und Spindel, und hüpfte singend in die Kammer. Sie sah durch die Öffnung hinaus, und erblickte das Sternbild des Phönixes. Froh über das glückliche Zeichen fing sie an lustig zu spinnen, ließ die Kammertür ein wenig offen, und sang halbleise: Erwacht in euren Zellen, Ihr Kinder alter Zeit; Laßt eure Ruhestellen, Der Morgen ist nicht weit. Ich spinne eure Fäden In einen Faden ein; Aus ist die Zeit der Fehden, Ein Leben sollt' ihr sein. Ein jeder lebt in allen, Und air in jedem auch; Ein Herz wird in euch wallen. Von einem Lebenshauch. 74 Noch seid ihr nichts als Seele, Nur Traum und Zauberei. Geht furchtbar in die Höhle, Und neckt die heil'ge Drei. Die Spindel schwang sich mit unglaublicher Behendigkeit zwischen den kleinen Füßen, wäh- rend sie mit beiden Händen den zarten Faden drehte. Unter dem Liede wurden unzählige Lich- terchen sichtbar, die aus der Türspalte schlüpften und durch die Höhle in scheußlichen Larven sich verbreiteten. Die Alten hatten während der Zeit immer mürrisch fortgesponnen und auf das Jam- mergeschrei der kleinen Fabel gewartet, aber wie entsetzten sie sich, als auf einmal eine erschreck- Hche Nase über ihre Schultern guckte, und wie sie sich umsahen, die ganze Höhle voll der gräßlich- sten Figuren war, die tausenderlei Unfug trieben. Sie fuhren ineinander, heulten mit fürchterlicher Stimme und wären vor Schrecken zu Stein ge- worden, wenn nicht in diesem Augenblicke der Schreiber in die Höhle getreten wäre und eine Alraunwurzel bei sich gehabt hätte. Die Lichter- chen verkrochen sich in die Felsenklüfte, und die Höhle wurde ganz hell, weil die schwarze Lampe in der Verwirrung umgefallen und ausgelöscht war. Die Alten waren froh, wie sie den Schreiber kommen hörten, aber voll Ingrimms gegen die kleine Fabel. Sie riefen sie heraus, schnarchten sie fürchterlich an und verboten ihr fortzuspinnen. Der Schreiber schmunzelte höhnisch, weil er die kleine Fabel nun in seiner Gewalt zu haben glaubte und sagte : Es ist gut, daß du hier bist und 75 zur Arbeit angehalten werden kannst. Ich hoffe, daß es an Züchtigungen nicht fehlen soll. Dein guter Geist hat dich hergeführt. Ich wünsche dir langes Leben und viel Vergnügen. Ich danke dir für deinen guten Willen, sagte Fabel; man sieht dir jetzt die gute Zeit an; dir fehlt nur noch das Stundenglas und die Hippe, so siehst du ganz wie der Bruder meiner schönen Basen aus. Wenn du Gänsespulen braucht, so zupfe ihnen nur eine Handvoll zarten Flaum aus den Wangen. Der Schreiber schien Miene zu machen, über sie her- zufallen. Sie lächelte und sagte: Wenn dir dein schöner Haarwuchs und dein geistreiches Auge lieb sind, so nimm dich in acht; bedenke meine Nägel, du hast nicht viel mehr zu verlieren. Er wandte sich mit verbissener Wut zu den Alten, die sich die Augen wischten und nach ihren Wocken umhertappten. Sie konnten nichts finden, da die Lampe ausgelöscht war, und ergossen sich in Schimpfreden gegen Fabel. Laßt sie doch gehen, sprach er tückisch, daß sie euch Taranteln fange zur Bereitung eures Öls. Ich wollte euch zu euerm Tröste sagen, daß Eros ohne Rast umherfliegt und eure Schere fleißig beschäftigen wird. Seine Mutter, die euch so oft zwang, die Fäden länger zu spinnen, wird morgen ein Raub der Flammen, Er kitzelte sich, um zu lachen, wie er sah, daß Fabel einige Tränen bei dieser Nachricht vergoß, gab ein Stück von der Wurzel der Alten und ging naserümpfend von dannen. Die Schwestern hie- ßen der Fabel mit zorniger Stimme Taranteln suchen, ungeachtet sie noch öl vorrätig hatten, und Fabel eilte fort. Sie tat, als öfine sie das Tor, 76 warf es ungestüm wieder 2u und schlich sich leise nach dem Hintergrunde der Höhle, wo eine Leiter herunterhing. Sie kletterte schnell hinauf und kam bald vor eine Falltür, die sich in Arcturs Gemach öffnete. Der König saß umringt von seinen Räten, als Fabel erschien. Die nördliche Krone zierte sein Haupt. Die Lilie hielt er mit der Linken, die Wage in der Rechten. Der Adler und Löwe saßen zu seinen Füßen. Monarch, sagte die Fabel, indem sie sich ehrfurchtsvoll vor ihm neigte: Heil dei- nem festgegründeten Throne ! Frohe Botschaft deinem verwundeten Herzen ! Baldige Rückkehr der Weisheit ! Ewiges Erwachen dem Frieden ! Ruhe der rastlosen Liebe ! Verklärung des Her- zens ! Leben dem Altertum und Gestalt der Zu- kunft ! Der König berührte ihre offene Stirn mit der Lilie: Was du bittest, sei dir gewährt. — Dreimal werde ich bitten, wenn ich zum vierten- mal komme, so ist die Liebe vor der Tür. Jetzt gib mir die Leier. — Eridanus ! Bringe sie her, rief der König. Rauschend strömte Eridanus von der Decke und Fabel zog die Leier aus seinen blinkenden Fluten. Fabel tat einige weissagende Griffe; der König ließ ihr den Becher reichen, aus dem sie nippte und mit vielen Danksagungen hinwegeilte. Sie glitt in reizenden Bogenschwüngen über das Eis- meer, indem sie fröhliche Musik aus den Saiten lockte. Das Eis gab unter ihren Tritten die herrlichsten Töne von sich. Der Felsen der Trauer hielt sie für Stimmen seiner suchenden rückkehrenden 77 Kinder und antwortete in einem tausendfachen Echo. Fabel hatte bald das Gestade erreicht. Sie be- gegnete ihrer Mutter, die abgezehrt und bleich aussah, schlank und ernst geworden war und in edlen Zügen die Spuren eines hoffnungslosen Grams und rührender Treue verriet. Was ist aus dir geworden, liebe Mutter? sagte Fabel, du scheinst mir gänzlich verändert; ohne inneres Anzeichen hätt' ich dich nicht erkannt. Ich hoffte mich an deiner Brust einmal wieder zu erquicken; ich habe lange nach dir geschmachtet. Ginnistan liebkoste sie zärtlich und sah heiter und freundlich aus. Ich dachte es gleich, sagte sie, daß dich der Schreiber nicht würde gefangen haben. Dein Anblick erfrischt mich. Es geht mir schlimm und knapp genug, aber ich tröste mich bald. Vielleicht habe ich einen Augenblick Ruhe. Eros ist in der Nähe, und wenn er dich sieht und du ihm vorplauderst, verweilt er vielleicht einige Zeit. Indes kannst du dich an meine Brust legen; ich will dir geben, was ich habe. Sie nahm die Kleine auf den Schoß, reichte ihr die Brust und fuhr fort, indem sie lächelnd auf die Kleine hin- untersah, die es sich gut schmecken ließ: Ich bin selbst Ursach', daß Eros so wild und unbeständig geworden ist. Aber mich reut es dennoch nicht, denn jene Stunden, die ich in seinen Armen zu- brachte, haben mich zur Unsterblichen gemacht. Ich glaubte unter seinen feurigen Liebkosungen zu zerschmelzen. Wie ein himmlischer Räuber schien er mich grausam vernichten und stolz über sein bebendes Opfer triumphieren zu wollen. Wir 78 erwachten spät aus dem verbotenen Rausche, in einem sonderbar vertauschten Zustande. Lange silberweiße Flügel bedeckten seine weißen Schul- tern und die reizende Fülle und Biegung seiner Gestalt. Die Kraft, die ihn so plötzlich aus einem Knaben zum Jünglinge quellend getrieben, schien sich ganz in die glänzenden Schwingen gezogen zu haben, und er war wieder zum Kna- ben geworden. Die stille Glut seines Gesichts war in das tändelnde Feuer eines IrrHchts, der heilige Ernst in verstellte Schalkheit, die bedeutende Ruhe in kindische Unstetigkeit, der edle Anstand in drollige Beweglichkeit verwandelt. Ich fühlte mich von einer ernsthaften Leidenschaft unwider- stehlich zu dem mutwilligen Knaben gezogen und empfand schmerzlich seinen lächelnden Hohn und seine Gleichgültigkeit gegen meine rührendsten Bitten. Ich sah meine Gestalt verändert. Meine sorglose Heiterkeit war verschwunden und hatte einer traurigen Bekümmernis, einer zärtlichen Schüchternheit Platz gemacht. Ich hätte mich mit Eros vor allen Augen verbergen mögen. Ich hatte nicht das Herz, in seine beleidigenden Augen zu sehen und fühlte mich entsetzlich beschämt und erniedrigt. Ich hatte keinen andern Gedanken als ihn und hätte mein Leben hingegeben, um ihn von seinen Unarten zu befreien. Ich mußte ihn anbeten, so tief er auch alle meine Empfindungen kränkte. Seit der Zeit, wo er sich aufmachte und mir entfloh, so rührend ich auch mit den heißesten Tränen ihn beschwor, bei mir zu bleiben, bin ich ihm überall gefolgt. Er scheint es ordentlich dar- 79 auf anzulegen, mich zu necken. Kaum habe ich ihn erreicht, so fliegt er tückisch weiter. Sein Bogen richtet überall Verwüstungen an. Ich habe nichts zu tun, als die Unglücklichen zu trösten, und habe doch selbst Trost nötig. Ihre Stimmen, die mich rufen, zeigen mir seinen Weg, und ihre wehmütigen Klagen, wenn ich sie wieder ver- lassen muß, gehen mir tief zu Herzen. Der Schreiber verfolgt uns mit entsetzUcher Wut und rächt sich an den armen Getroffenen. Die Frucht jener geheimnisvollen Nacht waren eine zahl- reiche Menge wunderlicher Kinder, die ihrem Großvater ähnlich sehen und nach ihm genannt sind. Geflügelt wie ihr Vater begleiten sie ihn beständig und plagen die Armen, die sein Pfeil trifft. Doch da kommt der fröhliche Zug. Ich muß fort; lebe wohl, süßes Kind. Seine Nähe erregt meine Leidenschaft. Sei glücklich in deinem Vorhaben. — Eros zog weiter, ohne Ginnistan, die auf ihn zueilte, einen zärtlichen Blick zu gön- nen. Aber zu Fabel wandte er sich freundlich, und seine kleinen Begleiter tanzten fröhlich um sie her. Fabel freute sich, ihren Milchbruder wiederzuse- hen und sang zu ihrer Leier ein munteres Lied. Eros schien sich besinnen zu wollen und ließ den Bogen fallen. Die Kleinen entschliefen auf dem Rasen. Ginnistan konnte ihn fassen, und er htt ihre zärtHchen Liebkosungen. Endhch fing Eros auch an zu nicken, schmiegte sich an Ginnistans Schoß und schlummerte ein, indem er seine Flügel über sie ausbreitete. Unendhch froh war die müde Ginnistan und verwandte kein Auge von dem holden Schläfer. Während des Gesanges waren 80 von allen Seiten Taranteln zum Vorschein ge- kommen, die über die Grashalme ein glänzendes Netz zogen und lebhaft nach dem Takte sich an ihren Fäden bewegten. Fabel tröstete nun ihre Mutter und versprach ihr baldige Hilfe. Vom Felsen tönte der sanfte Widerhall der Musik und wiegte die Schläfer ein. Ginnistan sprengte aus dem wohlverwahrten Gefäß einige Tropfen in die Luft, und die anmutigsten Träume fielen auf sie nieder. Fabel nahm das Gefäß mit und setzte ihre Reise fort. Ihre Saiten ruhten nicht, und die Taranteln folgten auf schnellgesponnenen Fäden den bezaubernden Tönen. Sie sah bald von weitem die hohe Flamme des Scheiterhaufens, die über den grünen Wald em- porstieg. Traurig sah sie gen Himmel und freute sich, wie sie Sophiens blauen Schleier erblickte, der wallend über der Erde schwebte und auf ewig die ungeheure Gruft bedeckte. Die Sonne stand feuerrot vor Zorn am Himmel, die gewaltige Flamme sog an ihrem geraubten Lichte, und so heftig sie es auch an sich zu halten schien, so ward sie doch immer bleicher und fleckiger. Die Flamme ward weißer und mächtiger, je fahler die Sonne ward. Sie zog das Licht immer stärker in sich, und bald war die Glorie um das Gestirn des Tages verzehrt, und nur als eine matte, glänzende Scheibe stand es noch da, indem jede neue Re- gung des Neides und der Wut den Ausbruch der entfliehenden Lichtwellen vermehrte. Endlich war nichts von der Sonne mehr übrig, als eine schwarze ausgebrannte Schlacke, die herunter ins Meer fiel. Die Flamme war über allen Ausdruck 81 glänzend geworden. Der Scheiterhaufen war ver- zehrt. Sie hob sich langsam in die Höhe und zog nach Norden. Fabel trat in den Hof, der verödet aussah; das Haus war unterdes verfallen. Dorn- sträuche wuchsen in den Ritzen der Fenstergesimse und Ungeziefer aller Art kribbelte auf den zer- brochenen Stiegen. Sie hörte im Zimmer einen entsetzlichen Lärm; der Schreiber und seine Gesellen hatten sich an dem Flammentode der Mutter geweidet, waren aber gewaltig erschrok- ken, wie sie den Untergang der Sonne wahr- genommen hatten. Sie hatten sich vergeblich angestrengt, die Flamme zu löschen und waren bei dieser Gelegen- heit nicht ohne Beschädigungen geblieben. Der Schmerz und die Angst preßte ihnen entsetzliche Verwünschungen und Klagen aus. Sie erschraken noch mehr, als Fabel ins Zimmer trat, und stürmten mit wütendem Geschrei auf sie ein, um an ihr den Grimm auszulassen. Fabel schlüpfte hinter die Wiege und ihre Verfolger traten un- gestüm in das Gewebe der Taranteln, die sich durch unzählige Bisse an ihnen rächten. Der ganze Haufen fing nun toll an zu tanzen, wozu Fabel ein lustiges Lied spielte. Mit vielem Lachen über ihre possierlichen Fratzen ging sie auf die Trümmer des Altars zu und räumte sie weg, um die ver- borgene Treppe zu finden, auf der sie mit ihrem Tarantelgefolge hinunterstieg. Die Sphinx fragte: Was kommt plötzUcher als der Blitz ? — Die Rache, sagte Fabel. — Was ist am vergänglichsten? — Unrechter Besitz. — Wer kennt die Welt? — Wer sich selbst kennt. — Was ist das ewige Geheim- 82 nis? — Die Liebe. — Bei wem ruht es? — Bei Sophien. Die Sphinx krümmte sich kläglich und Fabel trat in die Höhle. Hier bringe ich euch Taranteln, sagte sie zu den Alten, die ihre Lampe wieder angezündet hatten und sehr emsig arbeiteten. Sie erschraken, und die eine lief mit der Schere auf sie zu, um sie zu erstechen. Unversehens trat sie auf eine Tarantel, und diese stach sie in den Fuß. Sie schrie erbärm- lich. Die andern wollten ihr zu Hilfe kommen und wurden ebenfalls von den erzürnten Taran- teln gestochen. Sie konnten sich nun nicht an Fabel vergreifen und sprangen wild umher. Spinn' uns gleich, riefen sie grimmig der Kleinen zu, leichte Tanzkleider. Wir. können uns in den steifen Röcken nicht rühren und vergehen fast vor Hitze, aber mit Spinnensaft mußt du den Faden einweichen, daß er nicht reißt, und wirke Blumen hinein, die im Feuer gewachsen sind, sonst bist du des Todes. Recht gern, sagte Fabel und ging in die Nebenkammer. Ich will euch drei tüchtige Fliegen verschaffen, sagte sie zu den Kreuzspinnen, die ihre, lustigen Gewebe rundum an der Decke und den Wänden angeheftet hatten, aber ihr müßt mir gleich drei hübsche, leichte Kleider spinnen. Die Blumen, die hineingewirkt werden sollen, will ich auch gleich bringen. Die Kreuzspinnen waren bereit und fingen rasch zu weben an. Fabel schlich sich zur Leiter und begab sich zu Arctur. Monarch, sagte sie, die Bösen tanzen, die Guten ruhen. Ist die Flamme angekommen? Sie ist angekommen, sagte der König. Die Nacht ist vorbei und das 83 Eis schmilzt. Meine Gattin zeigt sich von weitem. Meine Feindin ist versenkt. Alles fängt zu leben an. Noch darf ich mich nicht sehen lassen, denn allein bin ich nicht König. Bitte, was du willst. — Ich brauche, sagte Fabel, Blumen, die im Feuer gewachsen sind. Ich weiß, du hast einen geschick- ten Gärtner, der sie zu ziehen versteht. — Zink, rief der König, gib uns Blumen. Der Blumen- gärtner trat aus der Reihe, holte einen Topf voll Feuer und säte glänzenden Samenstaub hinein. Es währte nicht lange, so flogen die Blumen empor. Fabel sammelte sie in ihre Schürze und machte sich auf den Rückweg. Die Spinnen waren fleißig gewesen, und es fehlte nichts mehr als das Anheften der Blumen, welches sie so- gleich mit vielem Geschmack und Behendigkeit begannen. Fabel hütete sich wohl, die Enden abzureißen, die noch an den Weberinnen hingen. Sie trug die Kleider den ermüdeten Tänzerinnen hin, die triefend von Schweiß umgesunken waren und sich einige Augenblicke von der ungewohn- ten Anstrengung erholten. Mit vieler Geschick- lichkeit entkleidete sie die hageren Schönheiten, die es an Schmähungen der kleinen Dienerin nicht fehlen ließen, und zog ihnen die neuen Kleider an, die sehr niedlich gemacht waren und vortreff- lich paßten. Sie pries während dieses Geschäftes die Reize und den liebenswürdigen Charakter ihrer Gebieterinnen, und die Alten schienen or- dentlich erfreut über die Schmeicheleien und die Zierlichkeit des Anzuges. Sie hatten sich unterdes erholt und fingen von neuer Tanzlust beseelt wieder an, sich munter umherzudrehen, indem sie 84 heimtückisch der Kleinen langes Leben und große Belohnungen versprachen. Fabel ging in die Kammer zurück und sagte 2u den Kreuzspinnen: Ihr könnt nun die Fliegen getrost verzehren, die ich in eure Weben gebracht habe. Die Spinnen waren so schon ungeduldig über das Hin- und Herreißen, da die Enden noch in ihnen waren und die Alten so toll umhersprangen; sie rannten also hinaus und fielen über die Tänzerinnen her; diese wollten sich mit der Schere verteidigen, aber Fabel hatte sie in aller Stille mitgenommen. Sie unterlagen also ihren hungrigen Handwerksgenos- sen, die lange keine so köstlichen Bissen ge- schmeckt hatten und sie bis auf das Mark aus- saugten. Fabel sah durch die Felsenkluft hinaus und erblickte den Perseus mit dem großen eiser- nen Schilde. Die Schere flog von selbst dem Schilde zu und Fabel bat ihn, Eros' Flügel damit zu verschneiden und dann mit seinem Schilde die Schwestern zu verewigen und das große Werk zu vollenden. Sie verließ nun das unterirdische Reich und stieg fröhlich zu Arcturs Palaste. Der Flachs ist versponnen. Das Leblose ist wie- der entseelt. Das Lebendige wird regieren und das Leblose bilden und gebrauchen. Das Innere wird offenbart und das Äußere verborgen. Der Vor- hang wird sich bald heben und das Schauspiel seinen Anfang nehmen. Noch einmal bitte ich, dann spinne ich Tage der Ewigkeit. — Glück- liches Kind, sagte der gerührte Monarch, du bist unsere Befreierin. Ich bin nichts als Sophiens Pate, sagte die Kleine. Erlaube, daß Turmalin, der 85 Blumengärtner, und Gold mich begleiten. Die Asche meiner Pflegemutter muß ich sammeln und der alte Träger muß wieder aufstehen, daß die Erde wieder schwebe und nicht auf dem Chaos liege. Der König rief allen dreien und befahl ihnen, die Kleine zu begleiten. Die Stadt war hell und auf den Straßen war ein lebhafter Verkehr, Das Meer brach sich brausend an der hohlen Klippe und Fabel fuhr auf des Königs Wagen mit ihren Be- gleitern hinüber. Turmalin sammelte sorgfältig die auffliegende Asche. Sie gingen rund um die Erde, bis sie an den alten Riesen kamen, an dessen Schultern sie hinunterklimmten. Er schien vom Schlage gelähmt und konnte kein Glied rühren. Gold legre ihm eine Münze in den Mund und der Blumengärtner schob eine Schüssel unter seine Lenden. Fabel berührte ihm die Augen und goß das Gefäß auf seiner Stirn aus. Sowie das Wasser über das Auge in den Mund und herunter über ihn in die Schüssel floß, zuckte ein Blitz des Lebens ihm in allen Muskeln. Er schlug die Augen auf und hob sich rüstig empor. Fabel sprang zu ihren Begleitern auf die steigende Erde und bot ihm freundlich guten Morgen. Bist du wieder da, liebliches Kind? sagte der Alte; habe ich doch immer von dir geträumt. Ich dachte immer, du würdest erscheinen, ehe mir die Erde und die Augen zu schwer würden. Ich habe wohl lange geschlafen. Die Erde ist wieder leicht, wie sie es immer den Guten war, sagte Fabel. Die alten Zeiten kehren zurück. In kurzem bist du wieder unter alten Bekannten. Ich will dir fröhliche Tage 86 spinnen, und an einem Gehilfen soll es auch nicht fehlen, damit du zuweilen an unsern Freuden teil- nehmen und im Arm einer Freundin Jugend und Stärke einatmen kannst. Wo sind unsere alten Gastfreundinnen, die Hesperiden? — An Sophiens Seite. Bald wird ihr Garten wieder blühen und die goldene Frucht duften. Sie gehen umher und sam- meln die schmachtenden Pflanzen. Fabel entfernte sich und eilte dem Hause zu. Es war zu völligen Ruinen geworden. Efeu umzog die Mauern. Hohe Büsche beschatteten den ehe- maligen Hof und weiches Moos polsterte die alten Stiegen. Sie trat ins Zimmer. Sophie stand am Altar, der wieder aufgebaut war. Eros lag zu ihren Füßen in voller Rüstung, ernster und edler als jemals. Ein prächtiger Kronleuchter hing von der Decke. Mit bunten Steinen war der Fußboden ausgelegt und zeigte einen großen Kreis um den Altar her, der aus lauter edlen bedeutungsvollen Figuren bestand. Ginnistan bog sich über ein Ruhebett, worauf der Vater in tiefem Schlummer zu liegen schien, und weinte. Ihre blühende An- mut war durch einen Zug von Andacht und Liebe unendlich erhöht. Fabel reichte die Urne, worin die Asche gesammelt war, der heiligen Sophie, die sie zärtlich umarmte. Liebliches Kind, sagte sie, dein Eifer und deine Treue haben dir einen Platz unter den ewigen Sternen erworben. Du hast das Unsterbliche in dir gewählt. Der Phönix gehört dir. Du wirst die Seele unseres Lebens sein. Jetzt wecke den Bräu- tigam auf. Der Herold ruft, und Eros soll Freia suchen und aufwecken. a? Fabel freute sich unbeschreiblich bei diesen Worten. Sie rief ihren Begleitern Gold und Zink, und nahte sich dem Ruhebette. Ginnistan sah er- wartungsvoll ihrem Beginnen zu. Gold schmolz die Münze und füllte das Behältnis, worin der Vater lag, mit einer glänzenden Flut. Zink schlang um Ginnistans Busen eine Kette. Der Körper schwamm auf den zitternden Wellen. Bücke dich, liebe Mutter, sagte Fabel, und lege die Hand auf das Herz des Geliebten. Ginnistan bückte sich. Sie sah ihr vielfaches Bild. Die Kette berührte die Flut, ihre Hand sein Herz; er erwachte und zog die entzückte Braut an seine Brust. Das Metall gerann, und ward ein heller Spiegel. Der Vater erhob sich, seine Augen blitzten, und so schön und bedeutend auch seine Gestalt war, so schien doch sein ganzer Körper eine feine unendlich bewegliche Flüssigkeit zu sein, die jeden Eindruck in den mannigfaltigsten und reizendsten Bewegungen verriet. Das glückliche Paar näherte sich Sophien, die Worte der Weihe über sie aussprach, und sie er- mahnte, den Spiegel fleißig zu Rate zu ziehen, der alles in seiner wahren Gestalt zurückwerfe, jedes Blendwerk vernichte, und ewig das ur- sprüngliche Bild festhalte. Sie ergriff nun die Urne und schüttete die Asche in die Schale auf dem Altar. Ein sanftes Brausen verkündigte die Auf- lösung, und ein leiser Wind wehte in den Gewän- dern und Locken der Umstehenden. Sophie reichte die Schale dem Eros, und die- ser den andern. Alle kosteten den göttlichen Trank, und vernahmen die freundliche Begrü- 88 ßung der Mutter in ihrem Innern mit unsäg- licher Freude. Sie war jedem gegenwärtig, und ihre geheimnisvolle Anwesenheit schien alle zu verklären. Die Erwartung war erfüllt und übertrofFen. Alle merkten, was ihnen gefehlt habe, und das Zimmer war ein Aufenthalt der Seligen geworden. Sophie sagte: das große Geheimnis ist allen offen- bart, und bleibt ewig unergründHch. Aus Schmer- zen wird die neue Welt geboren, und in Tränen wird die Asche zum Trank des ewigen Lebens aufgelöst. In jedem wohnt die himmlische Mutter, um jedes Kind ewig zu gebären. Fühlt ihr die süße Geburt im Klopfen eurer Brust? Sie goß in den Altar den Rest aus der Schale hinunter. Die Erde bebte in ihren Tiefen. Sophie sagte: Eros, eile mit deiner Schwester zu deiner Geliebten. Bald seht ihr mich wieder. Fabel und Eros gingen mit ihrer Begleitung schnell hinweg. Es war ein mächtiger FrühUng über die Erde verbreitet. Alles hob und regte sich. Die Erde schwebte näher unter dem Schleier. Der Mond und die Wolken zogen mit fröhlichem Getümmel nach Norden. Die Königsburg strahl- te mit herrÜchem Glänze über das Meer, und auf ihren Zinnen stand der König in voller Pracht mit seinem Gefolge. Überall erblickten sie Staub- wirbel, in denen sich bekannte Gestalten zu bilden schienen. Sie begegneten zahlreichen Scharen von Jünglingen und Mädchen, die nach der Burg strömten, und sie mit Jauchzen bewillkommten. Auf manchen Hügeln saß ein glückliches, eben erwachtes Paar in lang entbehrter Umarmung, 89 hielt die neue Welt für einen Traum, und konnte nicht aufhören, sich von der schönen Wahrheit zu überzeugen. Die Blumen und Bäume wuchsen und grünten mit Macht. Alles schien beseelt. Alles sprach und sang. Fabel grüßte überall alte Bekannte. Die Tiere nahten sich mit freundlichen Grüßen den erwachten Menschen. Die Pflanzen bewirteten sie mit Früchten und Düften, und schmückten sie auf das zierlichste. Kein Stein lag mehr auf einer Menschenbrust, und alle Lasten waren in sich selbst zu einem festen Fußboden zusammen- gesunken. Sie kamen an das Meer. Ein Fahrzeug von geschHff"enem Stahl lag am Ufer festgebunden. Sie traten hinein und lösten das Tau. Die Spitze richtete sich nach Norden, und das Fahrzeug durchschnitt wie im Fluge die buhlenden Wellen. Lispelndes Schilf hielt seinen Ungestüm auf, und es stieß leise an das Ufer. Sie eilten die breiten Treppen hinan. Die Liebe wunderte sich über die königliche Stadt und ihre Reichtümer. Im Hofe sprang der lebendig gewordene Quell, der Hain bewegte sich mit den süßesten Tönen, und ein wunderbares Leben schien in seinen heißen Stäm- men und Blättern, in seinen funkelnden Blumen und Früchten .'^u quellen und zu treiben. Der alte Held empfing sie an den Toren des Palastes. Ehr- würdiger Alter, sagte Fabel, Eros bedarf dein Schwert. Gold hat ihm eine Kette gegeben, die mit einem Ende in das Meer hinunterreicht, und mit dem andern um seine Brust geschlungen ist. Fasse sie mit mir an und führe uns in den Saal, wo die Prinzessin ruht. Eros nahm aus der Hand 90 des Alten das Schwert, setzte den Knopf auf seine Brust und neigte die Spitze vorwärts. Die Flügel- türen des Saales flogen auf, und Eros nahte sich entzückt der schlummernden Freia. Plötzlich ge- schah ein gewaltiger Schlag. Ein heller Funken fuhr von der Prinzessin nach dem Schwerte; das Schwert und die Kette leuchteten, der Held hielt die kleine Fabel, die beinah umgesunken wäre. Eros' Helmbusch wallte empor. Wirf das Schwert weg, rief Fabel, und erwecke deine Ge- liebte. Eros ließ das Schwert fallen, flog auf die Prinzessin zu, und küßte feurig ihre süßen Lippen. Sie schlug ihre großen dunklen Augen auf und erkannte den Geliebten. Ein langer Kuß ver- siegelte den ewigen Bund. Von der Kuppel herunter kam der König mit Sophien an der Hand. Die Gestirne und die Geister der Natur folgten in glänzenden Reihen. Ein unaussprechlich heiterer Tag erfüllte den Saal, den Palast, die Stadt und den Himmel. Eine zahllose Menge ergoß sich in den weiten könig- lichen Saal, und sah mit stiller Andacht die Liebenden vor dem Könige und der Königin knien, die sie feierlich segneten. Der König nahm sein Diadem vom Haupte und band es um Eros' goldene Locken. Der alte Held zog ihm die Rüstung ab, und der König warf seinen Mantel um ihn her. Dann gab er ihm die Lilie in die linke Hand, und Sophie knüpfte ein köstliches Arm- band um die verschlungenen Hände der Lieben- den, indem sie zugleich ihre Krone auf Freias braune Haare setzte. Heil unsern alten Beherrschern, rief das Volk. 91 Sie haben immer unter uns gewohnt, und wir haben sie nicht erkannt ! Heil uns ! Sie werden uns ewig beherrschen ! Segnet uns auch 1 Sophie sagte zu der neuen Königin: Wirf du das Arm- band eures Bundes in die Luft, daß das Volk und die Welt euch verbunden bleiben. Das Armband zerfloß in der Luft, und bald sah man lichte Ringe um jedes Haupt, und ein glänzendes Band zog sich über die Stadt und das Meer und die Erde, die ein ewiges Fest des Frühlings feierte. Perseus trat herein und trug eine Spindel und ein Körb- chen. Er brachte dem neuen Könige das Körb- chen. Hier, sagte er, sind die Reste deiner Feinde. Eine steinerne Platte mit schwarzen und weißen Feldern lag darin, und daneben eine Menge Fi- guren von Alabaster und schwarzem Marmor. Es ist ein Schachspiel, sagte Sophie; aller Krieg ist auf diese Platte und in diese Figuren gebannt. Es ist ein Denkmal der alten trüben Zeit. Perseus wandte sich zu Fabel und gab ihr die Spindel. In deinen Händen wird diese Spindel uns ewig er- freuen, und aus dir selbst wirst du uns einen goldenen, unzerreißlichen Faden spinnen. Der Phönix flog mit melodischem Geräusch zu ihren Füßen, spreizte seine Fittiche vor ihr aus, auf die sie sich setzte, und schwebte mit ihr über den Thron, ohne sich wieder niederzulassen. Sie sang ein himmlisches Lied, und fing zu spinnen an, indem der Faden aus ihrer Brust sich hervor- zuwinden schien. Das Volk geriet in neues Ent- zücken, und aller Augen hingen an dem lieb- lichen Kinde. Ein neues Jauchzen kam von der Tür her. Der alte Mond kam mit seinem wunder- 92 liehen Hofstaat herein, und hinter ihm trug das Volk Ginnistan und ihren Bräutigam wie im Triumph einher. Sie waren mit Blumenkränzen umwunden; die königliche Familie empfing sie mit der herzlich- sten Zärtlichkeit, und das neue Königspaar rief sie zu seinen Statthaltern auf Erden aus. Gönnet mir, sagte der Mond, das Reich der Parzen, dessen seltsame Gebäude eben auf dem Hofe des Palastes aus der Erde gestiegen sind. Ich will euch mit Schauspielen darin ergötzen, wozu die kleine Fabel mir behilflich sein wird. Der König willigte in die Bitte, die kleine Fabel nickte freundlich, und das Volk freute sich auf den seltsamen unterhaltenden Zeitvertreib. Die Hesperiden ließen zur Thronbesteigung Glück wünschen und um Schutz in ihren Gärten bitten. Der König ließ sie bewillkommen, und so folgten sich unzählige fröhüche Botschaften. Unterdessen hatte sich unmerkHch der Thron verwandelt, und war ein prächtiges Hochzeitsbett geworden, über dessen Himmel der Phönix mit der kleinen Fabel schwebte. Drei Karyatiden aus dunklem Porphyr trugen es hinten, und vorn ruhte dasselbe auf einer Sphinx aus Basalt. Der König umarmte seine errötende Gehebte, und das Volk folgte dem Beispiel des Königs, und Uebkoste sich unterein- ander. Man hörte nichts als zärtliche Namen und ein Kußgeflüster. Endlich sagte Sophie: die Mut- ter ist unter uns, ihre Gegenwart wird uns ewig beglücken. Folgt uns in unsere Wohnung, in dem Tempel dort werden wir ewig wohnen und das 93 Geheimnis der Welt bewahren. Die Fabel spann emsig, und sang mit lauter Stimme: Gegründet ist das Reich der Ewigkeit, In Lieb' und Frieden endigt sich der Streit, Vorüber ging der lange Traum der Schmerzen, Sophie ist ewig Priesterin der Herzen. 94 CLEMENS BRENTANO. Geschichte vom braven Kasperlunddem schönen Annerl. Es war Sommersfrühe, die Nachtigallen sangen erst seit einigen Tagen durch die Straßen und ver- stummten heut in einer kühlen Nacht, welche von fernen Gewittern zu uns herwehte: der Nacht- wächter rief die elfte Stunde an, da sah ich, nach Hause gehend, vor der Tür eines großen Gebäu- des einen Trupp von allerlei Gesellen, die vom Biere kamen, um jemand, der auf den Türstufen saß, versammelt. Ihr Anteil schien mir so lebhaft, daß ich irgendein Unglück besorgte und mich näherte. Eine alte Bäuerin saß auf der Treppe, und so lebhaft die Gesellen sich um sie bekümmerten, so wenig ließ sie sich von den neugierigen Fragen und gutmütigen Vorschlägen derselben stören. Es hatte etwas sehr Befremdendes, ja schier Gro- ßes, wie die gute alte Frau so sehr wußte, was sie wollte, daß sie, als sei sie ganz allein in ihrem Kämmerlein, mitten unter den Leuten es sich un- ter freiem Himmel zur Nachtruhe bequem machte. Sie nahm ihre Schürze als ein Mäntelchen um, zor ihren großen, schwarzen, wachsleinenen Hut tie- fer in die Augen, legte sich ihr Bündel unter den Kopf zurecht und gab auf keine Frage Antwort. „Was fehlt dieser alten Frau?" fragte ich einen der Anwesenden, da kamen Antworten von allen Seiten: „Sie kömmt sechs Meilen Weges vom Lande, sie kann nicht weiter, sie weiß nicht Be- scheid in der Stadt, sie hat Befreundete am anderen 95 Ende der Stadt und kann nicht hinfinden." — „Ich wollte sie führen," sagte einer, „aber es ist ein weiter Weg, und ich habe meinen Hausschlüs- sel nicht bei mir. Auch würde sie das Haus nicht kennen, wo sie hin will." — ,,Aber hier kann die Frau nicht liegen bleiben," sagte ein Neuhinzuge- tretener. ,,Sie will aber platterdings," antwortete der erste, ,,ich habe es ihr längst gesagt: ich wolle sie nach Haus bringen, doch sie redet ganz ver- wirrt, ja, sie muß wohl betrunken sein." — ,,Ich glaube, sie ist blödsinnig. Aber hier kann sie doch in keinem Falle bleiben," wiederholte jener, ,,die Nacht ist kühl und lang." Während allem diesem Gerede war die Alte, gerade als ob sie taub und blind sei, ganz un- gestört mit ihrer Zubereitung fertig geworden, und da der letzte abermals sagte: ,,Hier kann sie doch nicht bleiben," erwiderte sie mit einer wun- derlich tiefen und ernsten Stimme: ,, Warum soll ich nicht hier bleiben, ist dies nicht ein herzog- liches Haus? ich bin achtundachtzig Jahre alt, und der Herzog wird mich gewiß nicht von seiner Schwelle treiben. Drei Söhne sind in seinem Dienst gestorben, und mein einziger Enkel hat seinen Abschied genommen; — Gott verzeiht es ihm gewiß, und ich will nicht sterben, bis er in seinem ehrlichen Grab liegt." ,, Achtundachtzig Jahre und sechs Meilen ge- laufen !" sagten die Umstehenden, ,,sie ist müd' und kindisch, in solchem Alter wird der Mensch schwach." ,, Mutter, Sie kann aber den Schnupfen kriegen und sehr krank werden hier, und Langeweile wird 96 Sie auch haben," sprach nun einer der Gesellen und beugte sich näher zu ihr. Da sprach die Alte wieder mit ihrer tiefen Stim- me, halb bittend, halb befehlend: „O, laßt mir meine Ruhe und seid nicht unvernünftig; ich brauch' keinen Schnupfen, ich brauche keine Langweile; es ist ja schon spät an der Zeit, acht- undachtzig bin ich alt, der Morgen wird bald an- brechen, da geh' ich zu meinen Befreundeten. Wenn ein Mensch fromm ist und hat Schicksale und kann beten, so kann er die paar armen Stun- den auch noch wohl hinbringen," Die Leute hatten sich nach und nach verloren, und die letzten, welche noch da standen, eilten auch hinweg, weil der Nachtwächter durch die Straße kam und sie sich von ihm ihre Wohnungen wollten öffnen lassen. So war ich allein noch ge- genwärtig. Die Straße ward ruhiger. Ich wandelte nachdenkend unter den Bäumen des vor mir lie- genden freien Platzes auf und nieder; das Wesen der Bäuerin, ihr bestimmter, ernster Ton, ihre Sicherheit im Leben, das sie achtundachtzigmal mit seinen Jahreszeiten hatte zurückkehren sehen und das ihr nur wie ein Vorsaal im Bethause er- schien, hatten mich mannigfach erschüttert. ,,Was sind alle Leiden, alle Begierden meiner Brust, die Sterne gehen ewig unbekümmert ihren Weg, wozu suche ich Erquickung und Labung und von wem suche ich sie und für wen? Alles, was ich hier suche und liebe und erringe, wird es mich je dahin bringen, so ruhig wie diese gute, fromme Seele die Nacht auf der Schwelle des Hauses zubringen zu können, bis der Morgen erscheint, und werde < Rooiaatiker 9/ ich dann den Freund finden wie sie? Ach, ich werde die Stadt gar nicht erreichen, ich werde wegemüde schon in dem Sande vor dem Tore um- sinken und vielleicht gar in die Hände der Räuber fallen." So sprach ich zu mir selbst, und als ich durch den Lindengang mich der Alten wieder näherte, hörte ich sie halblaut mit gesenktem Kopfe vor sich hin beten. Ich war wunderbar ge- rührt und trat zu ihr hin und sprach: „Mit Gott, fromme Mutter, bete Sie auch ein wenig für mich I" — bei welchen Worten ich ihr einen Taler in die Schürze warf. Die Alte sagte hierauf ganz ruhig: „Hab' tau- send Dank, mein lieber Herr, daß du mein Gebet erhört." Ich glaubte, sie spreche mit mir und sagte: ,, Mutter, habt Ihr mich denn um etwas gebeten? Ich wüßte nicht." Da fuhr die Alte überrascht auf und sprach: „Lieber Herr, gehe Er doch nach Haus und bete Er fein und lege Er sich schlafen. Was zieht Er so spät noch auf der Gasse herum, das ist jungen Gesellen gar nichts nütze, denn der Feind geht um und suchet, wo er sich einen erfange. Es ist man- cher durch solch Nachtlaufen verdorben, wen sucht Er, den Herrn, der ist in des Menschen Herz, so er züchtiglich lebt, und nicht auf der Gasse. Sucht Er aber den Feind, so hat Er ihn schon, gehe Er hübsch nach Haus und bete Er, daß Er ihn los werde. Gute Nacht." Nach diesen Worten wendete sie sich ganz ru- hig nach der andern Seite und steckte den Taler in ihren Reisesack. Alles, was die Alte tat, machte 98 einen eigentümlichen ernsten Eindruck auf mich und ich sprach zu ihr: „Liebe Mutter, Ihr habt wohl recht, aber Ihr selbst seid es, was mich hier hält. Ich hörte Euch beten und wollte Euch an- sprechen, meiner dabei zu gedenken." „Das ist schon geschehen," sagte sie, „als ich Ihn so durch den Lindengang wandeln sah, bat ich Gott: er möge Euch gute Gedanken geben. Nun habe Er sie und gehe Er fein schlafen !" Ich aber setzte mich zu ihr nieder auf die Treppe und ergriff ihre dürre Hand und sagte: „Lasset mich hier bei Euch sitzen die Nacht hindurch und erzählet mir, woher Ihr seid und was Ihr hier in der Stadt sucht; Ihr habt hier keine Hilfe, in Eu- rem Alter ist man Gott näher als den Menschen; die Welt hat sich verändert, seit Ihr jung wäret." — „Daß ich nicht wüßte," erwiderte die Alte, ich hab's mein Lebetag ganz einerlei gefunden; Er ist noch zu jung, da verwundert man sich über alles, mir ist alles schon so oft wieder vorgekommen, daß ich es nur noch mit Freuden ansehe, weil es Gott so treulich damit meinet. Aber man soll kei- nen guten Willen von sich weisen, wenn er einem auch grade nicht not tut, sonst möchte der liebe Freund ausbleiben, wenn er ein andermal gar will- kommen wäre; bleibe Er drum immer sitzen und sehe Er, was Er mir helfen kann. Ich will Ihm erzählen, was mich in die Stadt den weiten Weg hertreibt. Ich hätt' es nicht gedacht, wieder hier- her zu kommen. Es sind siebzig Jahre, daß ich hier in dem Hause als Magd gedient habe, auf dessen Schwelle ich sitze, seitdem war ich nicht mehr in der Stadt, was die Zeit herumgeht? es ist, als wenn 99 man eine Hand umwendet. Wie oft habe ich hier am Abend gesessen vor siebzig Jahren und habe auf meinen Schatz gewartet, der bei der Garde stand. Hier haben wir uns auch versprochen. Wenn er hier — aber still, da kömmt die Runde vorbei." Da hob sie an mit gemäßigter Stimme, wie etwa junge Mägde und Diener in schönen Mondnächten, vor der Tür zu singen, und ich hörte mit innigem Vergnügen folgendes schöne alte Lied von ihr; Wann der jüngste Tag wird werden. Dann fallen die Sternelein auf die Erden. Ihr Toten, ihr Toten sollt auferstehn, Ihr sollt vor das Jüngste Gerichte gehn, Ihr soll treten auf die Spitzen, Da die lieben Engelein sitzen; Da kam der liebe Gott gezogen Mit einem schönen Regenbogen, Da kamen die falschen Juden gegangen. Die führten einst unsern Herrn Christum gefangen Die hohen Bäum' erleuchten sehr, Die harten Stein' zerknirschten sehr. Wer dies Gebetlein beten kann. Der bet's des Tages nur einmal. Die Seele wird vor Gott bestehn. Wann wir werden zum Himm.el eingehn. Amen. Als die Runde uns näher kam, wurde die gute Alte gerührt; ,,ach," sagte sie, ,,es ist heute der sechzehnte Mai, es ist doch alles einerlei, grade wie damals, nur haben sie andere Mützen auf und keine Zöpfe mehr. Tut nichts, wenn's Herz nur gut ist !" Der Offizier der Runde blieb bei uns 100 stehen und wollte eben fragen, was wir hier so spät zu schaflFen hätten, als ich den Fähnrich Graf Grossinger, einen Bekannten, in ihm erkannte. Ich sagte ihm kurz den ganzen Handel, und er sagte mit einer Art von Erschütterung: „Hier ha- ben Sie einen Taler für die Alte und eine Rose" — die er in der Hand trug — „so alte Bauersleute haben Freude an Blumen. Bitten Sie die Alte, Ih- nen morgen das Lied in die Feder zu sagen, und bringen Sie mir es. Ich habe lange nach dem Liede getrachtet, aber es nie ganz habhaft werden kön- nen." Hiermit schieden wir, denn der Posten der nahgelegenen Hauptwache, bis zu welcher ich ihn über den Platz begleitet hatte, rief: „Wer dal" Er sagte mir noch, daß er die Wache am Schlosse habe, ich solle ihn dort besuchen. Ich ging zu der Alten zurück und gab ihr die Rose und den Taler. Die Rose ergriff sie mit einer rührenden Heftig- keit und befestigte sie sich auf ihren Hut, indem sie mit einer etwas feineren Stimme und fast wei- nend die Worte sprach: „Rosen die Blumen auf meinem Hut, Hätt' ich viel Geld, das wäre gut, Rosen und mein Liebchen." Ich sagte zu ihr: „Ei, Mütterchen, Ihr seid ja ganz munter geworden, und sie erwiderte: „Munter, munter. Immer bunter. Immer runder. Oben stund er. Nun bergunter, 's ist kein Wunder ! 101 „Schau' Er, lieber Mensch, ist es nicht gut, daß ich hier sitzen geblieben, es ist alles einerlei, glaub' Er mir; heut sind es siebzig Jahre, da saß ich hier vor der Türe, ich war eine flinke Magd und sang gern alle Lieder. Da sang ich auch das Lied vom Jüngsten Gericht wie heute, da die Runde vorbei- ging, und da warf mir ein Grenadier im Vorüber- gehen eine Rose in den Schoß — die Blätter hab' ich noch in meiner Bibel liegen — das war meine erste Bekanntschaft mit meinem seligen Mann. Am andern Morgen hatte ich die Rose vorgesteckt in der Kirche, und da fand er mich, und es ward bald richtig. Drum hat es mich gar sehr gefreut, daß mir heut wieder eine Rose ward. Es ist ein Zeichen, daß ich zu ihm kommen soll, und darauf freu' ich mich herzlich. Vier Söhne und eine Toch- ter sind mir gestorben, vorgestern hat mein Enkel seinen Abschied genommen — Gott helfe ihm und erbarme sich seiner ! — und morgen verläßt mich eine andre gute Seele, aber was sag' ich morgen, ist es nicht schon Mitternacht vorbei?" „Es ist zwölfe vorüber," erwiderte ich, verwun- dert über ihre Rede. „Gott gebe ihr Trost und Ruhe die vier Stünd- lein, die sie noch hat," sagte die Alte und ward still, indem sie die Hände faltete. Ich konnte nicht sprechen, so erschütterten mich ihre Worte und ihr ganzes Wesen. Da sie aber ganz stille blieb und der Taler des Offiziers noch in ihrer Schürze lag, sagte ich zu ihr: ,, Mutter, steckt den Taler zu Euch, Ihr könntet ihn verlieren." ,,Den wollen wir nicht weglegen, den wollen wir meiner Befreundeten schenken in ihrer letzten 102 Not !" erwiderte sie, „den ersten Taler nehm' ich morgen wieder mit nach Haus, der gehört meinem Enkel, der soll ihn genießen. Ja seht, es ist immer ein herrlicher Junge gewesen und hielt etwas auf seinen Leib und auf seine Seele — ach Gott, auf seine Seele ! — Ich habe gebetet den ganzen Weg, es ist nicht mögUch, der hebe Herr läßt ihn gewiß nicht verderben. Unter allen Burschen war er im- mer der reinüchste und fleißigste in der Schule, aber auf die Ehre war er vor allem ganz erstaun- lich. Sein Leutnant hat auch immer gesprochen: ,Wenn meine Schwadron Ehre im Leibe hat, so sitzt sie bei dem Finkel im Quartier.' Er war unter den Ulanen. Als er zum erstenmal aus Frankreich zurückkam, erzählte er allerlei schöne Geschich- ten, aber immer war von der Ehre dabei die Rede. Sein Vater und sein Stiefbruder waren bei dem Landsturm und kamen oft mit ihm wegen der Ehre in Streit, denn was er zu viel hatte, hatten sie nicht genug. Gott verzeih' mir meine schwere Sünde, ich will nicht schlecht von ihnen reden, jeder hat sein Bündel zu tragen: aber meine seHge Tochter, seine Mutter, hat sich zu Tode gearbei- tet bei dem Faulpelz, sie konnte nicht erschwingen, seine Schulden zu tilgen. Der Ulan erzählte von den Franzosen, und als der Vater und Stiefbruder sie ganz schlecht machen wollten, sagte der Ulan: , Vater, das versteht Ihr nicht, sie haben doch viel Ehre im Leibe I' Da ward der Stiefbruder tückisch und sagte: ,Wie kannst du deinem Vater so viel von der Ehre vorschwatzen? war er doch Unter- offizier im N... sehen Regiment und muß es besser als du verstehen, der nur Gemeiner ist.' — ,Ja,' 103 sagte da der alte Finkel, der nun auch rebellisch ward, ,das war ich und habe manchen vorlauten Burschen Fünfundzwanzig aufgezählt; hätte ich nur Franzosen in der Kompagnie gehabt, die soll- ten sie noch besser gefühlt haben mit ihrer Ehre !' Die Rede tat dem Ulanen gar weh, und er sagte: ,Ich will ein Stückchen von einem französischen Unteroffizier erzählen, das gefällt mir besser. Un- term vorigen König sollten auf einmal die Prügel bei der französischen Armee eingeführt werden. Der Befehl des Kriegsministers wurde zu Straß- burg bei einer großen Parade bekanntgemacht, und die Truppen hörten in Reih' und Glied die Bekanntmachung mit stillem Grimm an. Da aber noch am Schluß der Parade ein Gemeiner einen Exzeß machte, wurde sein Unteroffizier vorkom- mandiert, ihm zwölf Hiebe zu geben. Es wurde ihm mit Strenge befohlen, und er mußte es tun. Als er aber fertig war, nahm er das Gewehr des Mannes, den er geschlagen hatte, stellte es vor sich an die Erde und drückte mit dem Fuße los, daß ihm die Kugel durch den Kopf fuhr und er tot niedersank. Das wurde an den König berich- tet, und der Befehl, Prügel zu geben, ward gleich zurückgenommen; seht, Vater, das war ein Kerl, der Ehre im Leib hatte !' — ,Ein Narr war es,' sprach der Bruder — ,freß deine Ehre, wenn du Hunger hast !' brummte der Vater. Da nahm mein Enkel seinen Säbel und ging aus dem Haus und kam zu mir in mein Häuschen und erzählte mir alles und weinte die bitteren Tränen. Ich konnte ihm nicht helfen; die Geschichte, die er mir auch erzählte, konnte ich zwar nicht ganz verwerfen, 104 aber ich sagte ihm doch immer zuletzt: , Gib Gott allein die Ehre 1' Ich gab ihm noch den Segen, denn sein Urlaub war am andern Tage aus, und er wollte noch eine Meile umreiten nach dem Orte, wo ein Patchen von mir auf dem Edelhof diente, auf die er gar viel hielt, er wollte einmal mit ihr hausen; — sie werden auch wohl bald zusammen- kommen, wenn Gott mein Gebet erhört. Er hat seinen Abschied schon genommen, mein Patchen wird ihn heut erhalten, und die Aussteuer hab' ich auch schon beisammen, es soll auf der Hochzeit weiter niemand sein als ich." Da ward die Alte wieder still und schien zu beten. Ich war in allerlei Gedanken über die Ehre, und ob ein Christ den Tod des Unteroffiziers schön finden dürfe? Ich wollte : es sagte mir einmal einer etwas Hinreichen- des darüber. Als der Wächter ein Uhr anrief, sagte die Alte : „Nun habe ich noch zwei Stunden; ei, ist Er noch da, warum geht Er nicht schlafen. Er wird morgen nicht arbeiten können und mit Seinem Meister Händel kriegen, von welchem Handwerk ist Er denn, mein guter Mensch?" Da wußte ich nicht recht, wie ich es ihr deut- hch machen sollte, daß ich ein Schriftsteller sei. Ich bin ein Gestudierter, durfte ich nicht sagen, ohne zu lügen. Es ist wunderbar, daß ein Deut- scher immer sich ein wenig schämt, zu sagen: er sei ein Schriftsteller; zu Leuten aus den untern Ständen sagt man es am ungernsten, weil diesen gar leicht die Schriftgelehrten und Pharisäer aus der Bibel dabei einfallen. Der Name Schriftsteller ist nicht so eingebürgert bei uns, wie das komme 105 de lettres bei den Franzosen, welche überhaupt als Schriftsteller zünftig sind und in ihren Arbeiten mehr hergebrachtes Gesetz haben, ja, bei denen man auch fragt: „oü ave^-vous fait votre Philo- sophie, wo haben Sie Ihre Philosophie gemacht?" wie denn ein Franzose selbst viel mehr von einem gemachten Manne hat. Doch diese nicht deutsche Sitte ist es nicht allein, welche das Wort Schrift- steller so schwer auf der Zunge macht, wenn man am Tore um seinen Charakter gefragt wird, son- dern eine gewisse innere Scham hält uns zurück, ein Gefühl, welches jeden befällt, der mit freien und geistigen Gütern, mit unmittelbaren Ge- schenken des Himmels Handel treibt. Gelehrte brauchen sich weniger zu schämen als Dichter, d^nn sie haben gewöhnUch Lehrgeld gegeben, sind meist in Ämtern des Staats, spalten an groben Klötzen oder arbeiten in Schachten, wo viel wilde Wasser auszupumpen sind. Aber ein sogenannter Dichter ist am übelsten daran, weil er meistens aus dem Schulgarten nach dem Parnaß entlaufen, und es ist auch wirkHch ein verdächtiges Ding um einen Dichter von Profession, der es nicht nur nebenher ist. Man kann sehr leicht zu ihm sagen: „Mein Herr, ein jeder Mensch hat, wie Hirn, Herz, Magen, Milz, Leber und dergleichen, auch eine Poesie im Leibe, wer aber eines dieser Glieder überfüttert, verfüttert oder mästet und es über alle andre hinübertreibt, ja es gar zum Erwerbzweig macht, der muß sich schämen vor seinem ganzen übrigen Menschen. Einer, der von der Poesie lebt, hat das Gleichgewicht verloren, und eine über- große Gänseleber, sie mig noch so gut sc hmecken 106 setzt doch immer eine kranke Gans voraus," Alle Menschen, welche ihr Brot nicht im Schweiß ihres Angesichts verdienen, müssen sich einigermaßen schämen, und das fühlt einer, der noch nicht ganz in der Tinte war, wenn er sagen soll, er sei ein Schriftsteller. So dachte ich allerlei und besann mich, was ich der Alten sagen sollte, welche, über mein Zögern verwundert, mich anschaute und sprach: ,, Welch ein Handwerk Er treibt? frage ich, warum will Er mir's nicht sagen, treibt Er kein ehrlich Handwerk, so greif Er's noch an, es hat einen goldnen Boden, Er ist doch nicht etwa gar ein Henker oder Spion, der mich ausholen will, meinethalben sei Er, wer Er will, sag Er's, wer Er ist ! Wenn Er bei Tage so hier säße, würde ich glauben, Er sei ein Lehnerich, so ein Tagedieb, der sich an die Häuser lehnt, damit er nicht um- fällt vor Faulheit." Da fiel mir ein Wort ein, das mir vielleicht eine Brücke zu ihrem Verständnis schlagen könnte: „Liebe Mutter," sagte ich, „ich bin ein Schrei- ber." — „Nun," sagte sie, „das hätte Er gleich sagen sollen. Er ist also ein Mann von der Feder, dazu gehören feine Köpfe und schnelle Finger und ein gutes Herz, sonst wird einem drauf ge- klopft. Ein Schreiber ist Er? kann Er mir dann wohl eine Bittschrift aufsetzen an den Herzog, die aber gewiß erhört wird und nicht bei den vielen andern liegen bleibt?" „Eine Bittschrift, liebe Mutter," sprach ich, „kann ich Ihr wohl aufsetzen, und ich will mir alle Mühe geben, daß sie recht eindringlich abgefaßt sein soll." 107 „Nun, das ist brav von Ihm," erwiderte sie; „Gott lohn' es Ihm und lasse Ihn älter werden als mich, und gebe Ihm auch in Seinem Alter einen so geruhigen Mut und eine so schöne Nacht mit Rosen und Talern wie mir, und auch einen Freund, der Ihm eine Bittschrift macht, wenn es Ihm not tut. Aber jetzt gehe Er nach Haus, lieber Freund, und kaufe Er sich einen Bogen Papier und schreibe Er die Bittschrift; ich will hier auf Ihn warten, noch eine Stunde, dann gehe ich zu meiner Pate, Er kann mitgehen, sie wird sich auch freuen an der Bittschrift. Sie hat gewiß ein gut Herz, aber Gottes Gerichte sind wunderbar !" Nach diesen Worten ward die Alte wieder still, senkte den Kopf und schien zu beten. Der Taler lag noch auf ihrem Schoß. Sie weinte. ,, Liebe Mutter, was fehlet Euch, was tut Euch so weh, Ihr weinet," sprach ich. ,,Nun warum soll ich denn nicht weinen, ich weine auf den Taler, ich weine auf die Bittschrift, auf alles weine ich. Aber es hilft nichts, es ist doch alles viel, viel besser auf Erden, als wir Menschen es verdienen, und gallenbittre Tränen sind noch viel zu süße. Sehe Er nur einmal das goldne Kamel da drüben an der Apotheke, wie doch Gott alles so herrlich und wunderbar geschaffen hat, aber der Mensch erkennt es nicht, und ein solch Kamel geht eher durch ein Nadelöhr, als ein Reicher in das Himmelreich. — Aber was sitzt Er denn immer da, gehe Er, den Bogen Papier zu kaufen, und bringe Er mir die Bittschrift." „Liebe Mutter," sagte ich, „wie kann ich Euch 108 die Bittschrift machen, wenn Ihr mir nicht sagt, was ich hineinschreiben soll?" „Das muß ich Ihm sagen?" erwiderte sie, ,,dann ist es freilich keine Kunst, und wundre ich mich nicht mehr, daß Er sich einen Schreiber 2u nennen schämte, wenn man Ihm alles sagen soll. Nun, ich will mein mögliches tun. Setz' Er in die Bittschrift, daß zwei Liebende beieinander ruhen sollen, und daß sie einen nicht auf die Anatomie bringen sol- len, damit man seine GUeder beisammen hat, wenn es heißt: Ihr Toten, ihr Toten sollt auferstehn, ihr sollt vor das Jüngste Gerichte gehn !" Da fing sie wieder bitterlich an zu weinen. Ich ahnte, ein schweres Leid müsse auf ihr la- sten, aber sie fühle bei der Bürde ihrer Jahre nur in einzelnen Momenten sich schmerzlich gerührt. Sie weinte, ohne zu klagen, ihre Worte waren immer gleich ruhig und kalt. Ich bat sie nochmals, mir die ganze Veranlassung zu ihrer Reise in die Stadt zu erzählen, und sie sprach: „Mein Enkel, der Ulan, von dem ich Ihm erzählte, hatte doch mein Patchen sehr Heb, wie ich Ihm vorher sagte, und sprach der schönen Annerl, wie die Leute sie ihres glatten Spiegels wegen nannten, immer von der Ehre vor, und sagte ihr immer, sie solle auf ihre Ehre halten und auch seine Ehre. Da kriegte dann das Mädchen etwas ganz Apartes in ihr Gesicht und ihre Kleidung von der Ehre, sie war feiner und manierlicher als alle anderen Dir- nen. Alles saß ihr knapper am Leibe, und wenn sie ein Bursche einmal ein wenig derb beim Tanze anfaßte, oder sie etwa höher als den Steg der Baß- geige schwang, so konnte sie bitterlich darüber 109 bei mir weinen, und sprach dabei immer: es sei wider ihre Ehre. Ach, das Annerl ist ein eignes Mädchen immer gewesen, manchmal, wenn kein Mensch es sich versah, fuhr sie mit beiden Händen nach ihrer Schürze und riß sie sich vom Leibe, als ob Feuer drin sei, und dann fing sie gleich ent- setzlich an zu weinen; aber das hat seine Ursache, es hat sie mit Zähnen hingerissen, der Feind ruht nicht. Wäre das Kind nur nicht stets so hinter der Ehre her gewesen, und hätte sich lieber an unsern lieben Gott gehalten, hätte ihn nie von sich ge- lassen, in aller Not, und hätte seinetwillen Schande und Verachtung ertragen, statt ihrer Menschen- ehre. Der Herr hätte sich gewiß erbarmt und wird es auch noch, ach, sie kommen gewiß zusammen, Gottes Wille geschehe I Der Ulan stand wieder in Frankreich, er hatte lange nicht geschrieben, und wir glaubten ihn fast tot und weinten oft um ihn. Er war aber im Ho- spital an einer schweren Blessur krank gelegen, und als er wieder zu seinen Kameraden kam und zum Unteroffizier ernannt wurde, fiel ihm ein, daß ihm vor zwei Jahren sein Stiefbruder so übers Maul gefahren: er sei nur Gemeiner und der Vater Korporal, und dann die Geschichte von dem französischen Unteroffizier, und wie er seinem Annerl von der Ehre so viel geredet, als er Ab- schied genommen. Da verlor er seine Ruhe und kriegte das Heimweh und sagte zu seinem Ritt- meister, der ihn um sein Leid fragte: ,Ach, Herr Rittmeister, es ist, als ob es mich mit den Zähnen nach Hause zöge.' Da heßen sie ihn heimreiten mit seinem Pferd, denn alle seine Offiziere trauten 110 ihm. Er kriegte auf drei Monate Urlaub und sollte mit der Remonte wieder zurückkommen. Er eilte, so sehr er konnte, ohne seinem Pferde wehe zu tun, welches er besser pflegte als jemals, weil es ihm war anvertraut worden. An einem Tage trieb es ihn ganz entsetzlich, nach Hause zu eilen, es war der Tag vor dem Sterbetage seiner Mutter, und es war ihm immer, als laufe sie vor seinem Pferde her und riefe: , Kasper, tue mir eine Ehre an !' Ach, ich saß an diesem Tage auf ihrem Grabe ganz allein und dachte auch, wenn Kasper doch bei mir wäre, ich hatte Blümelein Vergißnicht- mein in einen Kranz gebunden und an das ein- gesunkene Kreuz gehängt und maß mir den Platz umher aus und dachte: hier will ich liegen, und da soll Kasper liegen, wenn ihm Gott sein Grab in der Heimat schenkt, daß wir fein beisammen sind, wenn's heißt: Ihr Toten, ihr Toten sollt auferstehn, ihr sollt zum Jüngsten Gerichte gehn 1 Aber Kasper kam nicht, ich wußte auch nicht, daß er so nahe war und wohl hätte kommen können. Es trieb ihn auch gar sehr, zu eilen, denn er hatte wohl oft an diesen Tag in Frankreich gedacht und hatte einen kleinen Kranz von schönen Gold- blumen van daher mitgebracht, um das Grab sei- ner Mutter zu schmücken, und auch einen Kranz für Annerl, den sollte sie sich bis zu ihrem Ehren- tage bewahren." — Hier ward die Alte still und schüttelte mit dem Kopf; als ich aber die letzten Worte wiederholte: ,,Den sollte sie sich bis zu ihrem Ehrentag bewah- ren," — fuhr sie fort: „Wer weiß, ob ich es nicht erflehen kann, ach, wenn ich den Herzog nur 111 wecken dürfte !" — ,,Wozu," fragte ich, „welch' Anliegen habt Ihr denn, Mutter?" da sagte sie ernst: „O, was läge am ganzen Leben, wenn's kein End' nähme, was läge am Leben, wenn es nicht ewig wäre !" und fuhr dann in ihrer Erzäh- lung fort: „Kasper wäre noch recht gut zu Mittag in unserm Dorfe angekommen, aber morgens hat- te ihm sein Wirt im Stalle gezeigt, daß sein Pferd gedrückt sei und dabei gesagt: ,Mein Freund, das macht dem Reiter keine Ehre.' Das Wort hatte Kasper tief empfunden, er legte deswegen den Sattel hohl und leicht auf, tat alles, ihm die Wunde zu heilen, und setzte seine Reise, das Pferd am Zügel führend, zu Fuße fort. So kam er am späten Abend bis an eine Mühle, eine Meile von unserm Dorf, und weil er den Müller als einen alten Freund seines Vaters kannte, sprach er bei ihm ein und wurde wie ein recht lieber Gast aus der Fremde empfangen. Kasper zog sein Pferd in den Stall, legte den Sattel und sein Felleisen in einen Winkel und ging nun zu dem Müller in die Stube. Da fragte er dann nach den Seinigen und hörte, daß ich alte Großmutter noch lebe, und daß sein Vater und sein Stiefbruder gesund seien und daß es recht gut mit ihnen gehe; sie wären erst gestern mit Getreide auf der Mühle gewesen, sein Vater habe sich auf den Roß- und Ochsenhandel gelegt und gedeihe dabei recht gut, auch halte er jetzt etwas auf seine Ehre und gehe nicht mehr so zer- rissen umher. Darüber war der gute Kasper nun herzlich froh, und da er nach der schönen Annerl fragte, sagte ihm der Müller: er kenne sie nicht, aber wenn es die sei, die auf dem Rosenhof gedient 112 habe, die hätte sich, wie er gehört, in der Haupt- stadt vermietet, weil sie da eher etwas lernen könne und mehr Ehre dabei sei; so habe er vor einem Jahre von dem Knecht auf dem Rosenhof gehört. Das freute den Kasper auch; wenn es ihm gleich leid tat, daß er sie nicht gleich sehen sollte, so hoffte er sie doch in der Hauptstadt bald recht fein und schmuck zu finden, daß es ihm, als einem Unteroffizier, auch eine rechte Ehre sei, mit ihr am Sonntag spazieren zu gehn. Nun erzählte er dem Müller noch mancherlei aus Frankreich, sie aßen und tranken miteinander, er half ihm Korn aufschütten, und dann brachte ihn der Müller in die Oberstube zu Bett und legte sich selbst unten auf einigen Säcken zur Ruhe. Das Geklapper der Mühle und die Sehnsucht nach der Heimat ließen den guten Kasper, wenn er gleich sehr müde war, nicht fest einschlafen. Er war sehr unruhig und dachte an seine selige Mutter und an das schöne Annerl, und an die Ehre, die ihm bevorstehe, wenn er als Unteroffizier vor die Seinigen treten würde. So entschlummerte er endlich leis und wurde von ängstlichen Träumen oft aufgeschreckt, es war ihm mehrmals : als träte seine selige Mutter zu ihm und bäte ihn händeringend um Hilfe, dann war es ihm, als sei er gestorben und würde be- graben, gehe aber selbst zu Fuße als Toter mit zu Grabe, und schön Annerl gehe ihm zur Seite; er weine heftig, daß ihn seine Kameraden nicht begleiteten, und da er auf den Kirchhof komme, sei sein Grab neben dem seiner Mutter; und Annerls Grab sei auch dabei, und er gebe Annerl das Kränzlein, das er ihr mitgebracht, und hänge 113 das der Mutter an ihr Grab, und dann habe er sich umgeschaut und niemand mehr gesehen als mich, und die Annerl, die habe einer an der Schürze ins Grab gerissen, und er sei dann auch ins Grab gestiegen und habe gesagt: ,Ist denn niemand hier, der mir die letzte Ehre antut und mir ins Grab schießen will als einem braven Sol- daten,' und da habe er sein Pistol gezogen und sich selbst ins Grab geschossen. Über dem Schuß wachte er mit großem Schrecken auf, denn es war ihm, als klirrten die Fenster davon; er sah um sich in der Stube, da hörte er noch einen Schuß fallen und hörte Getöse in der Mühle und Ge- schrei durch das Geklapper. Er sprang aus dem Bett und griff nach seinem Säbel; in dem Augen- blick ging seine Türe auf, und er sah beim Voll- mondschein zwei Männer mit berußten Gesich- tern mit Knütteln auf sich zustürzen, aber er setzte sich zur Wehre und hieb den einen über den Arm, und so entflohen beide, indem sie die Türe, welche nach außen aufging und einen Riegel draußen hatte, hinter sich verriegelten. Kasper versuchte umsonst, ihnen nachzukommen, endlich gelang es ihm, eine Tafel in der Tür einzutreten. Er eilte durch das Loch die Treppe hinunter und hörte das Wehgeschrei des Müllers, den er geknebelt zwischen den Kornsäcken liegend fand. Kasper band ihn los und eilte dann gleich in den Stall, nach seinem Pferde und Felleisen, aber beides war geraubt. Mit großem Jammer eilte er in die Mühle zurück und klagte dem Müller sein Unglück, daß ihm all sein Hab und Gut und das ihm anvertraute Pferd gestohlen sei, über welches letztere er sich 114 gar nicht zufrieden geben konnte. Der Müller aber stand mit einem vollen Geldsack vor ihm, er hatte ihn in der Oberstube aus dem Schranke geholt und sagte zu dem Ulan: , Lieber Kasper, sei Er zufrieden, ich verdanke Ihm die Rettung mei- nes Vermögens, auf diesen Sack, der oben in Seiner Stube lag, hatten es die Räuber gemünzt, und Seiner Verteidigung danke ich alles, mir ist nichts gestohlen, die Sein Pferd und Sein Felleisen im Stall fanden, müssen ausgestellte Diebeswachen gewesen sein, sie zeigten durch die Schüsse an, daß Gefahr da sei, weil sie wahrscheinlich am Sattelzeug erkannten, daß ein Kavallerist im Hau- se herberge. Nun soll Er meinethalben keine Not haben, ich will mir alle Mühe geben und kein Geld sparen, Ihm Seinen Gaul wieder zu finden, und finde ich ihn nicht, so will ich Ihm einen kaufen, so teuer er sein mag.' Kasper sagte: , Ge- schenkt nehme ich nichts, das ist gegen meine Ehre, aber wenn Er mir im Notfall siebzig Taler vorschießen will, so kriegt Er meine Verschrei- bung, ich schaffe sie in zwei Jahren wieder.' Hier- über wurden sie einig, und der Ulan trennte sich von ihm, um nach seinem Dorfe zu eilen, wo auch ein Gerichtshalter der umliegenden Edelleute wohnt, bei dem er die Sache berichten wollte. Der Müller blieb zurück, um seine Frau und sei- nen Sohn zu erwarten, welche auf einem Dorfe in der Nähe bei einer Hochzeit waren. Dann wollte er dem Ulanen nachkommen und die An- zeige vor Gericht auch machen. Er kann sich denken, lieber Herr Schreiber, mit welcher Betrübnis der arme Kasper den Weg 115 nach unserm Dorfe eilte, zu Fuß und arm, wo er hatte stolz einreiten wollen; einundfünfzig Taler, die er erbeutet hatte, sein Patent als Unteroffizier, sein Urlaub und die Kränze auf seiner Mutter Grab und für die schöne Annerl waren ihm ge- stohlen. Es war ihm ganz verzweifelt zumute, und so kam er um ein Uhr in der Nacht in seiner Heimat an, und pochte gleich an der Türe des Gerichtshalters, dessen Haus das erste vor dem Dorfe ist. Er ward eingelassen und machte seine Anzeige und gab alles an, was ihm geraubt worden war. Der Gerichtshalter trug ihm auf, er solle gleich zu seinem Vater gehn, welches der einzige Bauer im Dorfe sei, der Pferde habe, und solle mit diesem und seinem Bruder in der Gegend herumpatrouillieren, ob er vielleicht den Räubern auf die Spur komme, indessen wolle er andre Leute zu Fuß aussenden, und den Müller, wenn er komme, um die weiteren Umstände vernehmen. Kasper ging nun von dem Gerichtshalter weg, nach dem väterlichen Hause; da er aber an meiner Hütte vorüber mußte, und durch das Fenster hörte: daß ich ein geistliches Lied sang, wie ich denn vor Gedanken an seine selige Mutter nicht schlafen konnte, so pochte er an und sagte: , Ge- lobt sei Jesus Christus, liebe Großmutter, Kasper ist hier.' Ach I wie fuhren mir die Worte durch Mark und Bein, ich stürzte an das Fenster, öffnete es und küßte und drückte ihn mit unendlichen Tränen. Er erzählte mir sein Unglück mit großer Eile und sagte, welchen Auftrag er an seinen Vater vom Gerichtshalter habe, er müsse drum jetzt gleich hin, um den Dieben nachzusetzen, denn 116 seine Ehre hänge davon ab, daß er sein Pferd wieder erhalte. Ich weiß nicht, aber das Wort Ehre fuhr mir recht durch alle Glieder, denn ich wußte schwere Gerichte, die ihm bevorstanden. ,Tue deine Pflicht und gib Gott allein die Ehre,' sagte ich; und er eilte von mir nach Finkeis Hof, der am andern Ende des Dorfs liegt. Ich sank, als er fort war, auf die Knie und betete zu Gott, er möge ihn doch in seinen Schutz nehmen, ach, ich betete mit einer Angst wie niemals und mußte dabei immer sagen: ,Herr, dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden.' Der Kasper Hef zu seinem Vater mit einer ent- setzlichen Angst. Er stieg hinten über den Garten- zaun, er hörte die Plumpe gehen, er hörte im Stall wiehern, das fuhr ihm durch die Seele; er stand still, er sah im Mondschein, daß zwei Männer sich wuschen, es wollte ihm das Herz brechen; der eine sprach: ,Das verfluchte Zeug geht nicht her- unter', da sagte der andre: ,Komm erst in den Stall, dem Gaul den Schwanz abzuschlagen und die Mähnen zu verschneiden. Hast du das Fell- eisen auch tief genug unterm Mist begraben?' — ,Ja,' sagte der andre. Da gingen sie nach dem Stall, und Kasper, vor Jammer wie ein Rasender, sprang hervor und schloß die Stalltüre hinter ih- nen und schrie: ,Im Namen des Herzogs ! ergebt euch, wer sich widersetzt, den schieße ich nieder !' Ach, da hatte er seinen Vater und seinen Stief- bruder als die Räuber seines Pferdes gefangen. , Meine Ehre, meine Ehre ist verloren !' schrie er, ,ich bin der Sohn eines ehrlosen Diebes.' Als die 117 beiden im Stall diese Worte hörten, ist ihnen bös zumute geworden, sie schrien: , Kasper 1 lieber Kasper, um Gottes willen, bringe uns nicht ins Elend, Kasper, du sollst ja alles wieder haben, um deiner seligen Mutter willen, deren Sterbetag heu- te ist, erbarme dich deines Vaters und Bruders.' Kasper aber war wie verzweifelt, er schrie nur immer: , Meine Ehre, meine Pflicht,' und da sie nun mit Gewalt die Türe erbrechen wollten und ein Fach in der Lehmwand einstoßen, um zu ent- kommen, schoß er ein Pistol in die Luft und schrie: , Hilfe, Hilfe, Diebe, Hilfe !' Die Bauern, von dem Gerichtshalter erweckt, welche schon herannah- ten, um sich über die verschiedenen Wege zu bereden, auf denen sie die Einbrecher in die Mühle verfolgen wollten, stürzten auf den Schuß und das Geschrei ins Haus. Der alte Finkel flehte im- mer noch, der Sohn solle ihm die Türe öffnen, der aber sagte: ,Ich bin ein Soldat und muß der Ge- rechtigkeit dienen.' Da traten der Gerichtshalter und die Bauern heran. Kasper sagte: ,Um Gottes Barmherzigkeit willen, Herr Gerichtshalter, mein Vater, mein Bruder sind selbst die Diebe, o daß ich nie geboren wäre ! hier im Stall habe ich sie gefangen, mein Felleisen liegt im Miste vergra- ben.' Da sprangen die Bauern in den Stall und banden den alten Finkel und seinen Sohn und schleppten sie in ihre Stube. Kasper aber grub das Felleisen hervor und nahm die zwei Kränze heraus und ging nicht in die Stube, er ging nach dem Kirchhofe an das Grab seiner Mutter. Der Tag war angebrochen; ich war auf der Wiese gewesen und hatte für mich und für Kasper zwei Kränze U8 von Blümelein Vergißnichtmein geflochten, ich dachte: er soll mit mir das Grab seiner Mutter schmücken, wenn er von seinem Ritt zurück- kommt. Da hörte ich allerlei ungewohnten Lärm im Dorf, und weil ich das Getümmel nicht mag und am liebsten alleine bin, so ging ich ums Dorf herum nach dem Kirchhof. Da fiel ein Schuß, ich sah den Dampf in die Höhe steigen, ich eilte auf den Kirchhof, o du lieber Heiland ! erbarme dich sein. Kasper lag tot auf dem Grabe seiner Mutter, er hatte sich die Kugel durch das Herz geschossen, auf welches er sich das Kränzlein, das er für schön Annerl mitgebracht, am Knopfe befestigt hatte, durch diesen Kranz hatte er sich ins Herz ge- schossen. Den Kranz für die Mutter hatte er schon an das Kreuz befestigt. Ich meinte, die Erde täte sich unter mir auf bei dem Anblick, ich stürzte über ihn hin und schrie immer: , Kasper, o du unglückseliger Mensch, was hast du getan? ach, wer hat dir denn dein Elend erzählt, o warum habe ich dich von mir gelassen, ehe ich dir alles gesagt, Gott, was wird dein armer Vater, dein Bruder sagen, wenn sie dich so finden.' Ich wußte nicht, daß er sich wegen diesen das Leid angetan, ich glaubte, es habe eine ganz andere Ursache. Da kam es noch ärger; der Gerichtshalter und die Bauern brachten den alten Finkel und seinen Sohn mit Stricken gebunden, der Jammer erstickte mir die Simme in der Kehle, ich konnte kein Wort sprechen; der Gerichtshalter fragte mich, ob ich meinen Enkel nicht gesehn? ich zeigte hin, wo er lag, er trat zu ihm, er glaubte, er weine auf dem Grabe, er schüttelte ihn, da sah er das Blut oieder- 119 Stürzen. Jesus Marie 1' rief er aus, ,der Kasper hat Hand an sich gelegt.' Da sahen die beiden Ge- fangenen sich schrecklich an; man nahm den Leib des Kaspers und trug ihn neben ihnen her nach dem Hause des Gerichtshalters, es war ein Weh- geschrei im ganzen Dorfe, die Bauerweiber führ- ten mich nach. Ach, das war wohl der schreck- lichste Weg in meinem Leben !" Da ward die Alte wieder still, und ich sagte zu ihr: ,, Liebe Mutter, Euer Leid ist entsetzlich, aber Gott hat Euch auch recht lieb; die er am härtesten schlägt, sind seine liebsten Kinder. Sagt mir nun, liebe Mutter, was Euch bewogen hat, den weiten Weg hierher zu gehen, und um was Ihr die Bitt- schrift einreichen wollt?" ,,Ei, das kann Er sich doch wohl denken," fuhr sie ganz ruhig fort, ,,um ein ehrliches Grab für Kasper und die schöne Annerl, der ich das Kränzlein zu ihrem Ehrentag mitbringe, es ist ganz mit Kaspers Blut unterlaufen, seh' Er ein- mal!" Da zog sie einen kleinen Kranz von Flittergold aus ihrem Bündel und zeigte ihn mir; ich konnte bei dem anbrechenden Tage sehen, daß er vom Pulver geschwärzt und mit Blut besprengt war. Ich war ganz zerrissen von dem Unglück der gu- ten Alten, und die Größe und Festigkeit, womit sie es trug, erfüllte mich mit Verehrung. „Ach Hebe Mutter," sagte ich, „wie werdet Ihr der ar- men Annerl aber ihr Elend beibringen, daß sie nicht gleich vor Schrecken tot niedersinkt, und was ist denn das für ein Ehrentag, zu welchem Ihr dem Annerl den traurigen Kranz bringet?" 120 „Lieber Mensch," sprach sie, „komme Er nur mit. Er kann mich zu ihr begleiten, ich kann doch nicht geschwind fort, so werden wir sie gerade zu rechter Zeit noch finden. Ich will Ihm unter- wegs noch alles erzählen." Nun stand sie auf und betete ihren Morgen- segen ganz ruhig und brachte ihre Kleider in Ord- nung, und ihren Bündel hängte sie dann an mei- nen Arm; es war zwei Uhr des Morgens, der Tag graute, und wir wandelten durch die stillen Gas- sen. ,,Seh' Er," erzählte die Alte fort, ,,als der Finkel und sein Sohn eingesperrt waren, mußte ich zum Gerichtshalter auf die Gerichtsstube, der tote Kas- per wurde auf einen Tisch gelegt und mit seinem Ulanenmantel bedeckt hereingetragen, und nun mußte ich alles dem Gerichtshalter sagen, was ich von ihm wußte und was er mir heute morgen durch das Fenster gesagt hatte. Das schrieb er alles auf sein Papier nieder, das vor ihm lag; dann sah er die Schreibtafel durch, die sie bei Kasper gefunden; da standen mancherlei Rechnungen drin, einige Geschichten von der Ehre und auch die von dem französischen Unteroffizier, und hin- ter ihr war mit Bleistift etwas geschrieben." Da gab mir die Alte die Brieftasche, und ich las fol- gende letzte Worte des unglücklichen Kaspers: „Auch ich kann meine Schande nicht überleben; mein Vater und mein Bruder sind Diebe, sie haben mich selbst bestohlen; mein Herz brach mir, aber ich mußte sie gefangen nehmen und den Gerichten übergeben, denn ich bin ein Soldat meines Für- sten, und meine Ehre erlaubt mir keine Schonung. 121 Ich habe meinen Vater und Bruder der Rache übergeben um der Ehre willen; ach! bitte doch jedermann für mich, daß man mir hier, wo ich gefallen bin, ein ehrliches Grab neben meiner Mut- ter vergönne. Das Kränzlein, durch welches ich mich erschossen, soll die Großmutter der schönen Annerl schicken und sie von mir grüßen, ach 1 sie tut mir leid durch Mark und Bein, aber sie soll doch den Sohn eines Diebes nicht heiraten, denn sie hat immer viel auf Ehre gehalten. Liebe schöne Annerl, mögest Du nicht so sehr erschrecken über mich, gib Dich zufrieden, und wenn Du mir je- mals ein wenig gut warst, so rede nicht schlecht von mir. Ich kann ja nichts für meine Schande 1 Ich hatte mir so viele Mühe gegeben: in Ehren zu bleiben mein Leben lang, ich war schon Unter- offizier und hatte den besten Ruf bei der Schwa- dron, ich wäre gewiß noch einmal Offizier ge- worden, und Annerl, Dich hätte ich doch nicht verlassen und hätte keine Vornehmere gefreit — aber der Sohn eines Diebes, der seinen Vater aus Ehre selbst fangen und richten lassen muß, kann seine Schande nicht überleben. Annerl, liebes An- nerl, nimm doch ja das Kränzlein, ich bin Dir immer treu gewesen, so Gott mir gnädig sei ! Ich gebe Dir nun Deine Freiheit wieder, aber tue mir die Ehre und heirate nie einen, der schlechter wäre als ich; und wenn Du kannst, so bitte für mich: daß ich ein ehrliches Grab neben meiner Mutter erhalte, und wenn Du hier in unserm Ort sterben solltest, so lasse Dich auch bei uns begraben; die gute Großmutter wird auch zu uns kommen, da sind wir alle beisammen. Ich habe fünfzig Taler 122 in meinem Felleisen, die sollen auf Interessen ge- legt werden für Dein erstes Kind. Meine silberne Uhr soll der Herr Pfarrer haben, wenn ich ehrlich begraben werde. Mein Pferd, die Uniform und Waffen gehören dem Herzog, diese meine Brief- tasche gehört Dein. Adies herztausender Schatz, adies Hebe Großmutter, betet für mich und lebt alle wohl — Gott erbarme sich meiner — Ach, meine Verzweiflung ist groß !" Ich konnte diese letzten Worte eines gewiß edeln unglücklichen Menschen nicht ohne bittere Trä- nen lesen. — „Der Kasper muß ein gar guter Mensch gewesen sein, liebe Mutter," sagte ich zu der Alten, welche nach diesen Worten stehen blieb und meine Hand drückte und mit tiefbewegter Stimme sagte: ,,Ja, es war der beste Mensch auf der Welt. Aber die letzten Worte von der Ver- zweiflung hätte er nicht schreiben sollen, die brin- gen ihn um sein ehrliches Grab, die bringen ihn auf die Anatomie. Ach, lieber Schreiber, wenn Er hierin nur helfen könnte." „Wieso, liebe Mutter?" fragte ich, „was können diese letzten Worte dazu beitragen?" — , Ja ge- wiß," erwiderte sie, „der Gerichtshalter hat es mir selbst gesagt. Es ist ein Befehl an alle Gerichte ergangen, daß nur die Selbstmörder aus Melan- cholie ehrlich sollen begraben werden, alle aber, die aus Verzweiflung Hand an sich gelegt, sollen auf die Anatomie, und der Gerichtshalter hat mir gesagt, daß er den Kasper, weil er selbst seine Verzweiflung eingestanden, auf die Anatomie schicken müsse." „Das ist ein wunderlich Gesetz," sagte ich, 123 „denn man könnte wohl bei jedem Selbstmord einen Prozeß anstellen: ob er aus Melancholie oder Verzweiflung entstanden, der so lange dau- ern müßte, daß der Richter und die Advokaten drüber in Melancholie und Verzweiflung fielen und auf die Anatomie kämen. Aber seid nur ge- tröstet, liebe Mutter, unser Herzog ist ein so guter Herr, wenn er die ganze Sache hört, wird er dem armen Kasper gewiß sein Plätzchen neben der Mutter vergönnen." ,,Das gebe Gott !" erwiderte die Alte, ,,sehe Er nun, lieber Mensch, als der Gerichtshalter alles zu Papier gebracht hatte, gab er mir die Brief- tasche und den Kranz für die schöne Annerl, und so bin ich dann gestern hierher gelaufen, damit ich ihr an ihrem Ehrentag den Trost noch mit auf den Weg geben kann. — Der Kasper ist zu rechter Zeit gestorben, hätte er alles gewußt, er wäre närrisch geworden vor Betrübnis." „Was ist es denn nun mit der schönen Annerl?" fragte ich die Alte, „bald sagt Ihr: sie habe nur noch wenige Stunden, bald sprecht Ihr von ihrem Ehrentag, und sie werde Trost gewinnen durch Eure traurige Nachricht; sagt mir doch alles her- aus, will sie Hochzeit halten mit einem andern, ist sie tot, krank? Ich muß alles wissen, damit ich es in die Bittschrift setzen kann." Da erwiderte die Alte: „Ach, lieber Schreiber, es ist nun so, Gottes Wille geschehe ! sehe Er, als Kasper kam, war ich doch nicht recht froh, als Kasper sich das Leben nahm, war ich doch nicht recht traurig, ich hätte es nicht überleben können, wenn Gott sich meiner nicht erbarmt gehabt hätte 124 mit größerem Leid. Ja, ich sage Ihm : es war mir ein Stein vor das Herz gelegt, wie ein Eisbrecher, und alle die Schmerzen, die wie Grundeis gegen mich stürzten und mir das Herz gewiß abgestoßen hätten, die zerbrachen an diesem Stein und trieben kalt vor- über. Ich will Ihm etwas erzählen, das ist betrübt: Als mein Patchen, die schöne Annerl, ihre Mut- ter verlor, die eine Base von mir war und sieben Meilen von uns wohnte, war ich bei der kranken Frau. Sie war die Witwe eines armen Bauern und hatte in ihrer Jugend einen Jäger liebgehabt, ihn aber wegen seines wilden Lebens nicht genom- men. Der Jäger war endlich in solch Elend ge- kommen, daß er auf Tod und Leben wegen eines Mordes gefangen saß. Das erfuhr meine Base auf ihrem Krankenlager, und es tat ihr so weh, daß sie täglich schlimmer wurde und endlich in ihrer Todesstunde, als sie mir die liebe, schöne Annerl als mein Patchen übergab und Abschied von mir nahm, noch in den letzten Augenblicken zu mir sagte: , Liebe Anne Margaret, wenn du durch das Städtchen kommst, wo der arme Jürge gefangen Hegt, so lasse ihm sagen durch den Gefangen- wärter, daß ich ihn bitte auf meinem Todesbett: er solle sich zu Gott bekehren, und daß ich herzlich für ihn gebetet habe in meiner letzten Stunde und daß ich ihn schön grüßen lasse.' — Bald nach diesen Worten starb die gute Base, und als sie begraben war, nahm ich die kleine Annerl, die drei Jahr alt war, auf den Arm und ging mit ihr nach Haus. Vor dem Städtchen, durch das ich mußte, kam ich an der Scharfrichterei vorüber, und weil der Meister berühmt war als ein Viehdoktor, sollte 125 ich einige Arznei mitnehmen für unsern Schulzen. Ich trat in die Stube und sagte dem Meister, was ich wollte, und er antwortete, daß ich ihm auf den Boden folgen solle, wo er die Kräuter liegen habe, und ihm helfen aussuchen. Ich ließ Annerl in der Stube und folgte ihm. Als wir zurück in die Stube traten, stand Annerl vor einem kleinen Schranke, der an der Wand befestigt war, und sprach: , Groß- mutter, da ist eine Maus drin, hört, wie es klap- pert, da ist eine Maus drin 1' Auf diese Rede des Kindes machte der Meister ein sehr ernsthaftes Gesicht, riß den Schrank auf und sprach: ,Gott sei uns gnädig!', denn er sah sein Richtschwert, das allein in dem Schranke an einem Nagel hing, hin und her wanken. Er nahm das Schwert herunter und mir schauderte. , Liebe Frau,' sagte er, ,wenn Ihr das kleine liebe Annerl lieb habt, so erschreckt nicht, wenn ich ihm mit meinem Schwert, rings um das Hälschen, die Haut ein wenig aufritze, denn das Schwert hat vor ihm gewankt, es hat nach seinem Blut ver- langt, und wenn ich ihm den Hals damit nicht ritze, so steht dem Kinde groß Elend im Leben bevor.' Da faßte er das Kind, welches entsetzlich zu schreien begann, ich schrie auch und riß das Annerl zurück. Indem trat der Bürgermeister des Städtchens herein, der von der Jagd kam und dem Richter einen kranken Hund zur Heilung bringen wollte. Er fragte nach der Ursache des Geschreis, Annerl schrie: ,Er will mich umbringen,' ich war außer mir vor Entsetzen. Der Richter erzählte dem Bürgermeister das Ereignis. Dieser verwies ihm seinen Aberglauben, wie er es nannte, heftig und 126 unter scharfen Drohungen; der Richter blieb ganz ruhig dabei und sprach: ,So haben's meine Väter gehalten, so halt' ich's.' Da sprach der Bürger- meister: , Meister Franz, wenn Ihr glaubtet, Euer Schwert habe sich gerührt, weil ich Euch hiermit anzeige, daß morgen früh um sechs Uhr der Jäger Jürge von Euch soll geköpft werden, so wollt' ich es noch verzeihen, aber daß Ihr daraus etwas auf das liebe Kind schließen wollt, das ist unver- nünftig und toll, es könnte so etwas einen Men- schen in Verzweiflung bringen, wenn man es ihm später in seinem Alter sagte, daß es ihm in seiner Jugend geschehen sei. Man soll keinen Menschen in Versuchung führen.' — ,Aber auch keines Rich- ters Schwert,' sagte Meister Franz vor sich und hing sein Schwert wieder in den Schrank. Nun küßte der Bürgermeister das Annerl und gab ihm eine Semmel aus seiner Jagdtasche, und da er mich gefragt, wer ich sei, wo ich herkomme und hin wolle? und ich ihm den Tod meiner Base erzählt hatte, und auch den Auftrag an den Jäger Jürge, sagte er mir: ,Ihr sollt ihn ausrichten, ich will Euch selbst zu ihm führen, er hat ein hartes Herz, vielleicht wird ihn das Andenken einer guten Ster- benden in seinen letzten Stunden rühren.' Danahm der gute Herr mich und Annerl auf seinen Wagen, der vor der Tür hielt, und fuhr mit uns in das Städtchen hinein. Er hieß mich zu seiner Köchin gehen; da krieg- ten wir gutes Essen, und gegen Abend ging er mit mir zu dem armen Sünder; und als ich dem die letzten Worte meiner Base erzählte, fing er bitter- lich an zu weinen und schrie: ,Ach Gott! wenn 127 sie mein Weib geworden, wäre es nicht soweit mit mir gekommen.' Dann begehrte er, man solle den Herrn Pfarrer doch noch einmal zu ihm bit- ten, er wolle mit ihm beten. Das versprach ihm der Bürgermeister und lobte ihn wegen seiner Sinnesveränderung und fragte ihn: ob er vor sei- nem Tode noch einen Wunsch hätte, den er ihm erfüllen könne. Da sagte der Jäger Jürge: ,Ach, bittet hier die gute alte Mutter, daß sie doch mor- gen mit dem Töchterlein ihrer seligen Base bei meinem Rechte zugegen sein mögen, das wird mir das Herz stärken in meiner letzten Stunde.' Da bat mich der Bürgermeister, und so graulich es mir war, so konnte ich es dem armen, elenden Men- schen nicht abschlagen. Ich mußte ihm die Hand geben und es ihm feierlich versprechen, und er sank weinend auf das Stroh, Der Bürgermeister ging dann mit mir zu seinem Freunde, dem Pfar- rer, dem ich nochmals alles erzählen mußte, ehe er sich ins Gefängnis begab. Die Nacht mußte ich mit dem Kinde in des Bürgermeisters Haus schlafen, und am andern Morgen ging ich den schweren Gang zu der Hin- richtung des Jägers Jürge. Ich stand neben dem Bürgermeister im Kreis und sah, wie er das Stäb- lein brach; da hielt der Jäger Jürge noch eine schöne Rede, und alle Leute weinten, und er sah mich und die kleine Annerl, die vor mir stand, gar beweglich an, und dann küßte er den Meister Franz, der Pfarrer betete mit ihm, die Augen wur- den ihm verbunden, und er kniete nieder. Da gab ihm der Richter den Todesstreich. ,Jesus, Maria, Joseph !' schrie ich auf; denn der Kopf des 128 Jürgen flog gegen Annerl zu und biß mit seinen Zähnen dem Kinde in sein Röckchen, das ganz entsetzlich schrie; ich riß meine Schürze vom Lei- be und warf sie über den scheußlichen Kopf, und Meister Franz eilte herbei, riß ihn los und sprach: , Mutter, Mutter, was habe ich heut morgen ge- sagt: ich kenne mein Schwert, es ist lebendig !' — Ich war niedergesunken vor Schreck, das Annerl schrie entsetzlich. Der Bürgermeister war ganz bestürzt und ließ mich und das Kind nach seinem Hause fahren; da schenkte mir seine Frau andre Kleider für mich und das Kind, und nach Mittag schenkte uns der Bürgermeister noch Geld, und viele Leute des Städtchens auch, die Annerl sehen wollten, so daß ich an zwanzig Taler und viele Kleider für sie bekam. Am Abend kam der Pfarrer ins Haus und redete mir lange zu: daß ich das Annerl nur recht in der Gottesfurcht erziehen sollte und auf alle die betrübten Zeichen gar nichts geben, das seien nur Schlingen des Satans, die man verachten müsse; und dann schenkte er mir noch eine schöne Bibel für das Annerl, die sie noch hat, und dann ließ uns der gute Bürgermeister, am andern Morgen, noch an drei Meilen weit nach Haus fahren. Ach du mein Gott, und alles ist doch eingetroffen !" sagte die Alte und schwieg. Eine schauerliche Ahnung ergriff mich, die Er- zählung der Alten hatte mich ganz zermalmt. ,,Um Gottes willen, Mutter," rief ich aus, ,,was ist es mit der armen Annerl geworden, ist denn gar nicht zu helfen?" „Es hat sie mit den Zähnen dazu gerissen," sagte die Alte, „heut wird sie gerichtet; aber sie 5 Romantiker 129 hat es in der Verzweiflung getan, die Ehre, die Ehre lag ihr im Sinn, sie war zuschanden gekom- men aus Ehrsucht, sie wurde verführt von einem Vornehmen, er hat sie sitzen lassen, sie hat ihr Kind erstickt in derselben Schürze, die ich damals über den Kopf des Jägers Jürge warf, und die sie mir heimlich entwendet hat; ach, es hat sie mit Zähnen dazu gerissen, sie hat es in der Verwirrung getan. Der Verführer hatte ihr die Ehe verspro- chen und gesagt: der Kasper sei in Frankreich geblieben; dann ist sie verzweifelt und hat das Böse getan und hat sich selbst bei den Gerichten angegeben. Um vier Uhr wird sie gerichtet. Sie hat mir geschrieben: ich möchte noch zu ihr kom- men, das will ich nun tun und ihr das Kränzlein und den Gruß von dem armen Kasper bringen und die Rose, die ich heut nacht erhalten, das wird sie trösten. Ach, lieber Schreiber, wenn Er es nur in der Bittschrift auswirken kann: daß ihr Leib und auch der Kasper dürfen auf unsern Kirchhof gebracht werden." „Alles, alles will ich versuchen !" rief ich aus, „gleich will ich nach dem Schlosse laufen, mein Freund, der Ihr die Rose gab, hat die Wache dort, er soll mir den Herzog wecken, ich will vor sein Bett knien und ihn um Pardon für Annerl bitten." „Pardon?" sagte die Alte kalt, „es hat sie ja mit Zähnen dazu gezogen; hör. Er, lieber Freund, Gerechtigkeit ist besser als Pardon, was hilft aller Pardon auf Erden, wir müssen doch alle vor das Gericht: Ihr Toten, ihr Toten sollt auferstehn, Ihr sollt vor das Jüngste Gerichte gehn. 130 Seht, sie will keinen Pardon, man hat ihn ihr an- geboten, wenn sie den Vater des Kindes nennen wolle, aber das Annerl hat gesagt: ,Ich habe sein Kind ermordet und will sterben und ihn nicht unglücklich machen; ich muß meine Strafe leiden, daß ich zu meinem Kinde komme, aber ihn kann es verderben, wenn ich ihn nenne.' Darüber wur- de ihr das Schwert zuerkannt. Gehe Er zum Her- zog und bitte Er für Kasper und Annerl um ein ehrlich Grab. Gehe Er gleich, seh' Er : dort geht der Herr Pfarrer ins Gefängnis, ich will ihn ansprechen, daß er mich mit hinein zum schönen Annerl nimmt. Wenn Er sich eilt, so kann Er uns draußen am Gerichte vielleicht den Trost noch bringen: mit dem ehrlichen Grab für Kasperl und Annerl." Unter diesen Worten waren wir mit dem Pre- diger zusammengetroffen, die Alte erzählte ihr Verhältnis zu der Gefangenen, und er nahm sie freundlich mit zum Gefängnis. Ich aber eilte nun, wie ich noch nie gelaufen, nach dem Schlosse, und es machte mir einen tröstenden Eindruck, es war mir wie ein Zeichen der Hoffnung, als ich an Graf Grossingers Hause vorüberstürzte und aus einem offnen Fenster des Gartenhauses eine liebliche Stimme zur Laute singen hörte: Die Gnade sprach von Liebe, Die Ehre aber wacht Und wünscht voll Lieb' der Gnade In Ehren gute Nacht. Die Gnade nimmt den Schleier, Wenn Liebe Rosen gibt. Die Ehre grüßt den Freier, Weil sie die Gnade liebt. 131 Ach, ich hatte der guten Wahrzeichen noch mehr 1 ein hundert Schritte weiter fand ich einen weißen Schleier auf der Straße liegend; ich raffte ihn auf, er war voll von duftenden Rosen. Ich hielt ihn in der Hand und lief weiter, mit dem Gedanken: „Ach Gott, das ist die Gnade." Als ich um die Ecke bog, sah ich einen Mann, der sich in seinem Mantel verhüllte, als ich vor ihm vor- übereilte, und mir heftig den Rücken wandte, um nicht gesehen zu werden. Er hätte es nicht nötig gehabt, ich sah und hörte nichts in meinem In- nern, als: Gnade, Gnade I und stürzte durch das Gittertor in den Schloßhof. Gott sei Dank, der Fähnrich Graf Grossinger, der unter den blühen- den Kastanienbäumen vor der Wache auf und ab ging, trat mir schon entgegen. „Lieber Graf," sagte ich mit Ungestüm, ,,Sie müssen mich gleich zum Herzog bringen, gleich auf der Stelle, oder alles ist zu spät, alles ist ver- loren 1" Er schien verlegen über diesen Antrag und sagte: ,,Was fällt Ihnen ein, zu dieser ungewohn- ten Stunde? Es ist nicht möglich, kommen Sie zur Parade, da will ich Sie vorstellen." Mir brannte der Boden unter den Füßen : ,, jetzt," rief ich aus, „oder nie I es muß sein, es betrifft das Leben eines Menschen." „Es kann jetzt nicht sein," erwiderte Grossinger scharf absprechend, „es betrifft meine Ehre, es ist mir untersagt, heut nacht irgendeine Meldung zu tun." Das Wort Ehre machte mich verzweifeln; ich dachte an Kaspers Ehre, an Annerls Ehre und 132 sagte: „Die vermaledeite Ehre, gerade um die letzte Hilfe 2u leisten, welche so eine Ehre übrig- gelassen, muß ich zum Herzoge, Sie müssen mich melden, oder ich schrei laut nach dem Herzog." „So Sie sich rühren," sagte Grossinger heftig, „lasse ich Sie in die Wache werfen, Sie sind ein Phantast, Sie kennen keine Verhältnisse." „O, ich kenne Verhältnisse, schreckHche Ver- hältnisse ! ich muß zum Herzoge, jede Minute ist unerkauflich !" versetzte ich, „wollen Sie mich nicht gleich melden, so eile ich allein zu ihm." Mit diesen Worten wollte ich nach der Treppe, die zu den Gemächern des Herzogs hinaufführte, als ich den nämlichen, in einem Mantel Verhüll- ten, der mir begegnete, nach dieser Treppe eilend, bemerkte. Grossinger drehte mich mit Gewalt um, daß ich diesen nicht sehen sollte. „Was machen Sie, Töriger," flüsterte er mir zu, „schweigen Sie, ruhen Sie, Sie machen mich unglücklich." „Warum halten Sie den Mann nicht zurück, der da hinaufging?" sagte ich; „er kann nichts Drin- genderes vorzubringen haben, als ich. Ach, es ist so dringend, ich muß, ich muß ! Es betriflft das Schicksal eines unglücklichen, verführten, armen Geschöpfs." Grossinger erwiderte: „Sie haben den Mann hinaufgehen sehen; wenn Sie je ein Wort davon äußern, so kommen Sie vor meine Klinge; gerade, weil er hinaufging, können Sie nicht hinauf, der Herzog hat Geschäfte mit ihm." Da erleuchteten sich die Fenster des Herzogs. „Gott, er hat Licht, er ist auf!" sagte ich, „ich 133 muß ihn sprechen, um des Himmels willen, lassen Sie mich, oder ich schreie Hilfe." Grossinger faßte mich beim Arm und sagte: ,,Sie sind betrunken, kommen Sie in die Wache; ich bin Ihr Freund, schlafen Sie aus, und sagen Sie mir das Lied, das die Alte heute nacht an der Türe sang, als ich die Runde vorüberführte, das Lied interessiert mich sehr." „Gerade wegen der Alten und den Ihrigen muß ich mit dem Herzoge sprechen !" rief ich aus. „Wegen der Alten?" versetzte Grossinger, „we- gen der sprechen Sie mit mir, die großen Herren haben keinen Sinn für so etwas, geschwind, kommen Sie nach der Wache." Er wollte mich fortziehen, da schlug die Schloß- uhr halb vier, der Klang schnitt mir wie ein Schrei der Not durch die Seele, und ich schrie aus voller Brust zu den Fenstern des Herzogs hinauf: „Hilfe ! um Gottes willen, Hilfe für ein elendes, verführtes Geschöpf!" Da ward Grossinger wie unsinnig, er wollte mir den Mund zuhalten, aber ich rang mit ihm; er stieß mich in den Nacken, er schimpfte, ich fühlte, ich hörte nichts. Er rief nach der Wache, der Korporal eilte mit etlichen Soldaten herbei, mich zu greifen, aber in dem Augenblick ging des Herzogs Fenster auf, und es rief herunter: „Fähnrich Graf Grossinger, was ist das für ein Skandal? bringen Sie den Menschen herauf, gleich auf der Stelle !" Ich wartete nicht auf den Fähnrich; ich stürzte die Treppe hinauf, ich fiel nieder zu den Füßen des Herzogs, der mich betroffen und unwillig auf- stehen hieß. Er hatte Stiefel und Sporen an, und 134 doch einen Schlafrock, den er sorgfältig über der Brust zusammenhielt. Ich trug dem Herzoge alles, war mir die Alte von dem Selbstmorde des Ulans, von der Ge- schichte der schönen Annerl erzählt hatte, so ge- drängt vor, als es die Not erforderte, und flehte ihn wenigstens um den Aufschub der Hinrich- tung auf wenige Stunden und um ein ehrUches Grab für die beiden Unglücklichen an, wenn Gnade unmöglich sei. — „Ach, Gnade, Gnade !" rief ich aus, indem ich den gefundenen weißen Schleier voll Rosen aus dem Busen zog: ,, dieser Schleier, den ich auf meinem Wege hierher ge- funden, schien mir Gnade zu verheißen." Der Herzog griff mit Ungestüm nach dem Schleier und war heftig bewegt, er drückte den Schleier in seinen Händen, und als ich die Worte aussprach: ,, Dieses arme Mädchen ist ein Opfer falscher Ehrsucht; ein Vornehmer hat sie verführt und ihr die Ehe versprochen, ach, sie ist so gut, daß sie lieber sterben will, als ihn nennen" — da unterbrach mich der Herzog mit Thränen in den Augen, und sagte: ,, Schweigen Sie, ums Him- mels willen, schweigen Sie" — und nun wendete er sich zu dem Fähnrich, der an der Türe stand, und sagte mit dringender Eile: „Fort, eilend zu Pferde mit diesem Menschen hier; reiten Sie das Pferd tot; nur nach dem Gerichte hin: heften Sie diesen Schleier an Ihren Degen, winken und schreien Sie Gnade, Gnade ! ich komme nach." Grossinger nahm den Schleier; er war ganz verwandelt, er sah aus wie ein Gespenst vor Angst und Eile; wir stürzten in den Stall, saßen zu 135 Pferde und ritten im Galopp, er stürmte wie ein Wahnsinniger 2um Tore hinaus. Als er den Schleier an seine Degenspitze heftete, schrie er: „Herr Jesus, meine Schwester I" Ich verstand nicht, was er wollte. Er stand hoch im Bügel und wehte und schrie: ,, Gnade, Gnade!" Wir sahen auf dem Hügel die Menge um das Gericht ver- sammelt. Mein Pferd scheute vor dem wehenden Tuch. Ich bin ein schlechter Reiter, ich konnte den Grossinger nicht einholen, er flog im schnellsten Karriere; ich strengte alle Kräfte an. Trauriges Schicksal ! die Artillerie exerzierte in der Nähe, der Kanonendonner machte es unmöglich, unser Geschrei aus der Ferne zu hören. Grossinger stürz- te, das Volk stob auseinander, ich sah in den Kreis, ich sah einen Stahlblitz in der frühen Sonne — ach Gott, es war der SchwertbHtz des Richters 1 — Ich sprengte heran, ich hörte das Wehklagen der Menge, ,, Pardon, Pardon !" schrie Grossinger und stürzte mit dem wehenden Schleier durch den Kreis, wie ein Rasender, aber der Richter hielt ihm das blutende Haupt der schönen Annerl ent- gegen, das ihn wehmütig anlächelte. Da schrie er: „Gott sei mir gnädig !" und fiel auf die Leiche hin zur Erde, „tötet mich, tötet mich, ihr Men- schen, ich habe sie verführt, ich bin ihr Mörder 1" Eine rächende Wut ergriff die Menge; die Wei- ber und Jungfrauen drangen heran und rissen ihn von der Leiche und traten ihn mit Füßen, er wehr- te sich nicht; die Wachen konnten das wütende Volk nicht bändigen. Da erhob sich das Geschrei: „Der Herzog, der Herzog I" — Er kam im offnen Wagen gefahren, ein blutjunger Mensch, den Hut 136 tief ins Gesicht gedrückt, in einen Mantel gehüllt, saß neben ihm. Die Menschen schleifen Grossin- ger herbei; „Jesus, mein Bruder !" schrie der junge Oifi2ier mit der weiblichsten Stimme aus dem Wagen. Der Herzog sprach bestürzt zu ihm: „Schweigen Sie I" Er sprang aus dem Wagen, der junge Mensch wollte folgen, der Herzog drängte ihn schier unsanft zurück, aber so beför- derte sich die Entdeckung: daß der junge Mensch die als Offizier verkleidete Schwester Grossingers sei. Der Herzog ließ den mißhandelten, blutenden, ohnmächtigen Grossinger in den Wagen legen, die Schwester nahm keine Rücksicht mehr, sie warf ihren Mantel über ihn; jedermann sah sie in weibHcher Kleidung. Der Herzog war verlegen, aber er sammelte sich und befahl: den Wagen so- gleich umzuwenden und die Gräfin mit ihrem Bruder nach ihrer Wohnung zu fahren. Dieses Ereignis hatte die Wut der Menge einigermaßen gestillt. Der Herzog sagte laut zu dem wacht- habenden Offizier: „Die Gräfin Grossinger hat ihren Bruder an ihrem Hause vorbeireiten sehen, den Pardon zu bringen und wollte diesem freudi- gen Ereignis beiwohnen; als ich zu demselben Zwecke vorüberfuhr, stand sie am Fenster und bat mich, sie in meinem Wagen mitzunehmen, ich konnte es dem gutmütigen Kinde nicht ab- schlagen. Sie nahm einen Mantel und Hut ihres Bruders, um kein Aufsehen zu erregen, und hat, von dem unglücklichen Zufall überrascht, die Sache gerade dadurch zu einem abenteuerlichen Skandal gemacht. Aber wie konnten Sie, Herr Leutnant, den unglücklichen Grafen Grossinger 137 nicht vor dem Pöbel schützen? es isteingräßUcher Fall: daß er, mit dem Pferde stürzend, zu spät kam, er kann doch aber nichts dafür; ich will die Mißhändler des Grafen verhaftet und bestraft wissen." Auf diese Rede des Herzogs erhob sich ein all- gemeines Geschrei: „Er ist ein Schurke, er ist der Verführer, der Mörder der schönen Annerl gewe- sen, er hat es selbst gesagt, der elende, der schlechte Kerl I" Als dies von allen Seiten her tönte und auch der Prediger und der Offizier und die Gerichtsperso- nen es bestätigten, war der Herzog so tief er- schüttert, daß er nichts sagte als: „Entsetzlich, entsetzlich, o der elende Mensch !" Nun trat der Herzog blaß und bleich in den Kreis, er wollte die Leiche der schönen Annerl sehen. Sie lag auf dem grünen Rasen in einem schwarzen Kleide mit weißen Schleifen, die alte Großmutter, welche sich um alles, was vorging, nicht bekümmerte, hatte ihr das Haupt an den Rumpf gelegt und die schreckliche Trennung mit ihrer Schürze bedeckt; sie war beschäftigt, ihr die Hände über die Bibel zu falten, welche der Pfar- rer in dem kleinen Städtchen der kleinen Annerl geschenkt hatte, das goldene Kränzlein band sie ihr auf den Kopf und steckte die Rose vor die Brust, welche ihr Grossinger in der Nacht gege- ben hatte, ohne zu wissen, wem er sie gab. Der Herzog sprach bei diesem Anblick: „Schö- nes, unglückliches Annerl ! schändlicher Verfüh- rer, du kamst zu spät ! — arme, alte Mutter, du bist ihr allein treu gebUeben bis in den Tod." Als 138 er mich bei diesen Worten in seiner Nähe sah, sprach er zu mir : „Sie sagten mir von einem letzten Willen des Korporal Kasper, haben Sie ihn bei sich?" Da wendete ich mich zu der Alten und sagte: „Arme Mutter, gebt mir die Brieftasche Kaspers ; Seine Durchlaucht wollen seinen letzten Willen lesen." Die Alte, welche sich um nichts bekümmerte, sagte mürrisch: „Ist Er auch wieder da? Er hätte lieber zu Hause bleiben können. Hat Er die Bitt- schrift? jetzt ist es zu spät, ich habe dem armen Kinde den Trost nicht geben können, daß sie zu Kasper in ein ehrliches Grab soll; ach, ich hab' es ihr vorgelogen, aber sie hat mir nicht geglaubt." Der Herzog unterbrach sie und sprach: „Ihr habt nicht gelogen, gute Mutter, der Mensch hat sein möglichstes getan, der Sturz des Pferdes ist an allem schuld; aber sie soll ein ehrliches Grab haben bei ihrer Mutter und bei Kasper, der ein braver Kerl war, es soll ihnen beiden eine Leichen- predigt gehalten werden über die Worte: ,Gebt Gott allein die Ehre !' Der Kasper soll als Fähn- rich begraben werden, seine Schwadron soll ihm dreimal ins Grab schießen, und des Verderbers Grossingers Degen soll auf seinen Sarg gelegt werden." Nach diesen Worten ergriff er Grossingers Degen, der mit dem Schleier noch an der Erde lag, nahm den Schleier herunter, bedeckte Annerl da- mit und sprach: ,, Dieser unglückliche Schleier, der ihr so gern Gnade gebracht hätte, soll ihr die Ehre wiedergeben, sie ist ehrlich und begnadigt gestor- ben, der Schleier soll mit ihr begraben werden." 139 Den Degen gab er dem Offizier der Wache mit den Worten: „Sie werden heute noch meine Befehle wegen der Bestattung des Ulans und dieses armen Mädchens bei der Parade emp- fangen." Nun las er auch die letzten Worte Kaspers laut mit vieler Rührung, die alte Großmutter umarmte mit Freudentränen seine Füße, als wäre sie das glücklichste Weib. Er sagte zu ihr: ,,Gebe Sie sich zufrieden, Sie soll eine Pension haben bis an Ihr seliges Ende, ich will Ihrem Enkel und der Annerl einen Denkstein setzen lassen." Nun befahl er dem Prediger, mit der Alten und einem Sarge, in wel- chen die Gerichtete gelegt wurde, nach seiner Wohnung zu fahren und sie dann nach ihrer Hei- mat zu bringen und das Begräbnis zu besorgen. Da währenddem seine Adjutanten mit Pferden gekommen waren, sagte er noch zu mir: ,, Geben Sie meinem Adjutanten Ihren Namen an, ich wer- de Sie rufen lassen, Sie haben einen schönen menschlichen Eifer gezeigt." Der Adjutant schrieb meinen Namen in seine Schreibtafel und machte mir ein verbindliches Kompliment. Dann sprengte der Herzog, von den Segenswünschen der Menge begleitet, in die Stadt. Die Leiche der schönen Annerl ward nun mit der guten alten Großmutter in das Haus des Pfarrers gebracht, und in der fol- genden Nacht fuhr dieser mit ihr nach der Heimat zurück. Der Offizier traf mit dem Degen Grossin- gers und einer Schwadron Ulanen auch daselbst am folgenden Abend ein. Da wurde nun der brave Kasper, mit Grossingers Degen auf der Bahre und dem Fähnrichspatent, neben der schönen Annerl 140 zur Seite seiner Mutter begraben. Ich war auch hingeeilt und führte die alte Mutter, welche kin- disch vor Freude war, aber wenig redete; und als die Ulanen dem Kasper zum drittenmal ins Grab schössen, fiel sie mir tot in die Arme, sie hat ihr Grab auch neben den Ihrigen empfangen, Gott gebe ihnen allen eine freudige Auferstehung ! Sie sollen treten auf die Spitzen, Wo die lieben Engelein sitzen. Wo kömmt der liebe Gott gezogen Mit einem schönen Regenbogen; Da sollen ihre Seelen vor Gott bestehn, Wann wir werden zum Himmel eingehn. Amen. Als ich in die Hauptstadt zurückkam, hörte ich: Graf Grossinger sei gestorben; er habe Gift ge- nommen; in meiner Wohnung fand ich einen Brief von ihm, er sagte mir darin: „Ich habe Ihnen viel zu danken, Sie haben mei- ne Schande, die mir lange das Herz abnagte, zu- tage gebracht. Jenes Lied der Alten kannte ich wohl, die Annerl hatte es mir oft vorgesagt, sie war ein unbeschreiblich edles Geschöpf. Ich war ein elender Verbrecher, sie hatte ein schriftliches Eheversprechen von mir gehabt und hat es ver- brannt. Sie diente bei einer alten Tante von mir, sie litt oft an Melancholie. Ich habe mich durch gewisse medizinische Mittel, die etwas Magisches haben, ihrer Seele bemächtigt. — Gott sei mir gnädig ! — Sie haben auch die Ehre meiner Schwester gerettet, der Herzog liebt sie, ich war sein Günstling — die Geschichte hat ihn erschüt- 141 tert — Gott helfe mir, ich habe Gift genommen. Joseph Graf Grossinger." Die Schürze der schönen Annerl, in welche ihr der Kopf des Jägers Jürge bei seiner Enthauptung gebissen, ist auf der herzogHchen Kunstkammer bewahrt worden. Man sagt: die Schwester des Grafen Grossinger werde der Herzog mit dem Namen: Voile de Grace, auf deutsch: Gnaden- schleier, in den Fürstenstand erheben und sich mit ihr vermählen. Bei der nächsten Revue in der Gegend von D... soll das Monument auf den Gräbern der beiden unglücklichen Ehrenopfer auf dem Kirchhof des Dorfs errichtet und eingeweiht werden, der Herzog wird mit der Fürstin selbst zugegen sein. Er ist ausnehmend zufrieden damit; die Idee soll von der Fürstin und dem Herzoge zusammen erfunden sein. Es stellt die falsche und wahre Ehre vor, die sich vor einem Kreuze beider- seits gleich tief zur Erde beugen, die Gerechtig- keit steht mit dem geschwungenen Schwerte zur einen Seite, die Gnade zur andern Seite und wirft einen Schleier heran. Man will im Kopf der Ge- rechtigkeit Ähnlichkeit mit dem Herzoge, in dem Kopfe der Gnade Ähnlichkeit mit dem Gesichte der Fürstin finden. 142 JEAN PAUL. Das Glück eines schwedischen Pfarrers. So will ich mir denn diese Wonne ohne allen Rückhalt recht groß hermalen, und mich selber unter dem Pfarrer meinen, damit mich die Schil- derung, wenn ich sie nach einem Jahre wieder überlese, ganz besonders auswärme. Schon ein Pfarrer an sich ist selig, geschweige in Schweden. Er genießet da Sommer und Winter rein, ohne lange verdrießliche Unterbrechungen; z. B. in seinen späten Frühling fällt statt des Nachwinters sogleich der ganze reife Vorsommer ein, weißroth und blüthenschwer, so daß man in einer Sommer- nacht das halbe Italien und in einer Winternacht die halbe zweite Welt haben kann. Ich will aber bei dem Winter anfangen und das Christfest nehmen. Der Pfarrer, der aus Deutschland, aus Haslau in ein sehr nördlich-polarisches Dörfchen vocirt worden, steht heiter um 7 Uhr auf, und brennt bis 9% Uhr sein dünnes Licht. Noch um 9 Uhr schei- nen Sterne, der helle Mond noch länger. Aber dieses Hereinlangen des Sternenhimmels in den Vormittag gibt ihm liebe Empfindungen, weil er ein Deutscher ist, und über einen gestirnten Vor- mittag erstaunt. Ich sehe den Pfarrer und andere Kirchengänger mit Laternen in die Kirche gehen; die vielen Lichterchen machen die Gemeinde zu einer Familie und setzen den Pfarrer in seine Kin- derjahre, in die Winterstunden und Weihnachts- metten zurück, wo jeder sein Lichtchen mit hatte. 143 Auf der Kanzel sagt er seinen lieben. Zuhörern lauter Sachen vor, deren Worte gerade so in der Bibel stehen; vor Gott bleibt doch keine Vernunft vernünftig, aber wohl ein redliches Gemüth. Dar- auf theilt er mit heimlicher Freude über die Ge- legenheit, jeder Person so nahe ins Gesicht zu sehen und ihr, wie einem Kinde, Trank und Speise einzugeben, das heil. Nachtmahl aus, und genießet es jeden Sonntag selber mit, weil er sich nach dem nahen Liebesmahl in den Händen ja sehnen muß. Ich glaube, es müßt' ihm erlaubt sein. Wenn er dann mit den Seinigen aus der Kirche tritt, geht gerade die helle Christ- und Morgen- sonne auf, und leuchtet ihnen allen ins Gesicht entgegen. Die vielen schwedischen Greise werden ordentlich jung vom Sonnenroth gefärbt. Der Pfarrer könnte dann, wenn er auf die todte Mut- tererde und den Gottesacker hinsähe, worin die Blumen wie die Menschen begraben liegen, wohl diesen Polymeter dichten: Auf der todten Mutter ruhen die todten Kinder in dunkler Stille. Endlich erscheint die ewige Son- ne, und die Mutter steht wieder blühend auf, aber später alle ihre Kinder. Zu Hause letzt ihn ein warmes Museum sammt einem langen Sonnenstreif an der Bücherwand. Den Nachmittag verbringt er schön, weil er vor einem ganzen Blumengestelle von Freuden kaum weiß, wo er anhalten soll. Ist's am heil. Christfest, so predigt er wieder, vom schönen Morgenlande, oder von der Ewigkeit; dabei wird's ganz dämmernd im Tempel; nur zwei Altarkerzen werfen wunderbare lange Schatten umher durch 144 die Kirche; der oben herabhängende Taufengel belebt sich ordentlich und fliegt beinahe; draußen scheinen die Sterne oder der Mond herein — der feurige Pfarrer oben im Finstern auf seiner Kanzel bekümmert sich nun um nichts, sondern donnert aus der Nacht herab, mit Thränen und Stürmen, von Welten und Himmeln und allem, was Brust und Herz gewaltig bewegt. Kommt er flammend herunter: so kann er um 4 Uhr vielleicht schon unter einem am Himmel wallenden Nordschein spazieren gehen, der für ihn gewiß eine aus dem ewigen Südmorgen her- überschlagende Aurora ist, oder ein Wald aus hei- ligen feurigen Mosis Büschen um Gottes Thron. Ist's ein anderer Nachmittag, so fahren Gäste mit erwachsenen Töchtern von Betragen an; wie die große Welt, dinirt er mit ihnen bei Sonnen- untergang um 2 Uhr, und trinkt den Kaffee bei Mondschein; das ganze Pfarrhaus ist ein däm- mernder Zauberpalast. — Oder er geht auch hin- über zum Schulmeister in die Nachmittagsschule, und hat alle Kinder seiner Pfarrkinder gleichsam als Enkel bei Licht um sein Großvater-Knie und ergötzet und belehret sie. — Ist aber das alles nicht: so kann er ja schon von drei Uhr an in der warmen Dämmerung durch den starken Mondschein in der Stube auf und ab waten und etwas Orangenzucker dazu beißen, um das schöne Welschland mit seinen Gärten auf die Zunge und vor alle Sinne zu bekommen. Kann er nicht bei dem Monde denken, daß dieselbe Silberscheibe jetzt in Italien zwischen Lorbeer- bäumen hange? Kann er nicht erwägen, daß die 145 Aeolsharfe und die Lerche und die ganze Musik und die Sterne und die Kinder in heißen und kal- ten Ländern dieselben sind? Wenn nun gar die reitende Post, die aus Italien kommt, durchs Dorf blaset und ihm auf wenigen Tönen blumige Län- der an das gefrorne Museumsfenster hebt; wenn er alte Rosen- und Lilienblätter aus dem vorigen Sommer in die Hand nimmt, wohl auch eine ge- schenkte Schwanzfeder von einem Paradiesvogel; wenn dabei die prächtigen Klänge Salatzeit, Kir- schenzeit, Trinitatissonntage, Rosenblüte, Ma- rientage das Herz anrühren: so wird er kaum mehr wissen, daß er in Schweden ist, wenn Licht ge- bracht wird, und er verdutzt die fremde Stube an- sieht. Will er's noch weiter treiben, so kann er sich daran ein Wachskerzenendchen anzünden, um den ganzen Abend in die große Welt hineinzuse- hen, aus der er's her hat. Denn ich sollte glauben, daß am Stockholmer Hofe, wie anderwärts, von den Hof bedienten Endchen von Wachskerzen, die auf Silber gebrannt hatten, für Geld zu haben wären. Aber nun nach Verlaufe eines halben Jahres klopft auf einmal etwas schöneres als Italien, wo die Sonne viel früher als in Haslau untergeht, nämlich der herrlich beladne längste Tag an seine Brust an, und hält die Morgenröthe voll Lerchen- gesang schon um 1 Uhr Nachts in der Hand. Ein wenig vor 2 Uhr, oder Sonnenaufgang trifft die oben gedachte niedliche, bunte Reihe im Pfarr- hause ein, weil sie mit dem Pfarrer eine kleine Luftreise vor hat. Sie ziehen nach 2 Uhr, wenn alle Blumen blitzen und die Wälder schimmern. 146 Die warme Sonne droht kein Gewitter und keinen Platzregen, weil beide selten sind in Schweden. Der Pfarrer geht so gut in schwedischer Tracht einher wie jeder — er trägt sein kurzes Wamms mit breiter Schärpe, sein kurzes Mäntelchen dar- über, seinen Rundhut mit wehenden Federn und Schuhe mit hellen Bändern; natürlich sieht er, wie die andern auch, wie ein spanischer Ritter, wie ein Proveneale oder sonst ein südlicher Mensch aus, zumal da er und die muntere Gesell- schaft durch die in wenigen Wochen aus Beeten und Aesten hervorgezogne hohe Blüten- und Blätterfülle fliegen. Daß ein solcher längster Tag noch kürzer als ein kürzester verfliege, ist leicht zu denken, bei so viel Sonne, Aether, Blüte und Muße. Schon nach 8 Uhr Abends bricht die Gesellschaft auf — die Sonne brennt sanfter über den halbgeschlossenen schläfrigen Blumen — um 9 Uhr hat sie ihre Strah- len abgenommen, und badet nackt im Blau — gegen 10 Uhr, wo die Gesellschaft im Pfarrdorfe wieder ankommt, wird der Pfarrer seltsam bewegt und weich gemacht, weil im Dorfe, obgleich die tiefe laue Sonne noch ein müdes Roth um die Häuser und an die Scheiben legt, alles schon still und in tiefem Schlafe liegt, so wie auch die Vögel in den gelbdämmernden Gipfeln schlummern, bis zuletzt die Sonne selber, wie ein Mond, einsam untergeht in der Stille der Welt. Dem romantisch bekleideten Pfarrer ist, als sei jetzt ein rosenfarbe- nes Reich aufgethan, worin Feen und Geister her- um gehen, und ihn würd' es wenig wundern, wenn in dieser goldenen Geisterstunde auf ein- 147 mal sein in der Kindheit entlaufener Bruder heran träte, wie vom blühenden Zauberhimmel gefallen. Der Pfarrer läßt aber seine Reisegesellschaft nicht fort, er hält sie im Pfarrgarten fest, wo jeder, wer will, sagt' er, in schönen Lauben die kurze laue Stunde bis zu Sonnenaufgang verschlummern kann. Es v^ird allgemein angenommen, und der Gar- ten besetzt; manches schöne Paar thut vielleicht nur, als schlaf es, hält sich aber wirklich an der Hand. Der glückliche Pfarrer geht einsam in den Beeten auf und ab. Kühle und wenige Sterne kom- men. Seine Nachtviolen und Levkoien thun sich auf und duften stark, so hell es auch ist. In Norden raucht vom ewigen Morgen des Pols eine gold- helle Dämmerung auf. Der Pfarrer denkt an sein fernes Kindheitsdörfchen und an das Leben und Sehnen der Menschen, und wird still und voll ge- nug. Da greift die frische Morgensonne wieder in die Welt. Mancher, der sie mit der Abendsonne vermengen will, thut die Augen wieder zu; aber die Lerchen erklären alles, und wecken die Lauben. Dann geht Lust und Morgen gewaltig wieder an; und es fehlt wenig, so schilder' ich mir diesen Tag ebenfalls, ob er gleich vom vorigen vielleicht um kein Blütenblatt verschieden ist. Die Doppeltgänger. Mißgeburten wie die, von denen ich herkomme, sind andern Gelehrten schon früher aufgestoßen. Die beiden hinten an einander gewachsenen Mäd- chen in der hungarischen Grafschaft Komorrn stehen in allen Büchern; daß sie einander bald 148 küßten, bald prügelten, bald davon trugen auf dem Rücken, weiß wol jeder. Schätzbarer ist dem Arzte die schottische Mißgeburt zweier auf ein- ander ablaktirter Brüder, die nur den Oberleib bis zum Magen ein paar Mal hatten, den Rest aber einmännisch, welches freilich in größern Familien leichter metaphorisch umgekehrt ist. Indeß dürf- ten dieses und das obige Naturspiel die kohäriren- den Gebrüder Mensch (so schreiben sie sich), die in Kleinpestitz, eine Stunde von hier, wohnhaft sind, leicht an Gehalt für Denker überwiegen. Unser größter Zergliederer, D. Sphex, hat diese anatomische Goldgrube und Ader in den Koppel- zwillingen schon so befahren und ausgeleeret, daß einer, der nach ihm hinreiset, nichts weiter zu holen findet, als die psychologische. Nach Zeich- nungen, die er mir geschickt, verwachsen und anastomosiren beide Mensche mit den Rücken- wirbeln von den Lendennerven an (n. lumbares) bis zu den heiligen Nerven (n. sacrales) und zum Schwanzbein herab, und kehren einander die Hin- terköpfe und verknüpften Rücken zu. Ich machte mich mit folgenden guten Vorkenntnissen von ihnen auf den Weg. Beide sind Literaten, dereine, Peter genannt, hat Jurisprudenz, der andere, Seraph mit Na- men, vielerlei studirt. Peter ist von Natur ein fester und vigilanter Mensch, lasset nie nach und treibt's am Ende doch durch; auf diese Weise schwang er sich zu einem Amtskeller in Kleinpestitz hinauf, wo er gegenwärtig amtirt; — ein Händelchen dar- neben kann immer mit angeführt werden, näm- lich ein Volksladen, wo er, wie in Volksbüchern, 149 alle populäre, wiewol diverse Sortimente feil hat. Hingegen der ihm aufgebundene Seraph hinter ihm, von Natur ein schlimmer Vogel, ist ein Tra- gikus, Lyrikus, Fagotist, Epigrammatist und Genie wie nur wenige. Nur lernte er nie eine Sache da, wo man sie lehrte, sondern eine Treppe höher, wo man auf sie fortbauete; — in Sekunda wurd' er ein braver Terzianer, in Prima that er's manchem Se- kundaner zuvor und auf der Akademie holt' er die Gymnasiasten ein. Indeß so oft ein Examen den fortschreitenden Peter höher hinaufschob, so rückte Seraph auch mit nach, weil er sein Acces- sorium und SuflFixum war; niemand könnt' ihn absägen und auf seine eigne Bank hinabtreiben. Alle Welt sagt, der Vater hab' ein christliches Werk gestiftet durch sein Testament, worin er eine Aequazion und Mutschirung zwischen beiden Menschen herstellte. Denn da das Gebrüder-Paar wie London in verschiedenen Grafschaften und Jurisdikzionen liegt, und da besonders der Tragi- kus seinem Naturell nach Petern immer mit Fech- ten auf Stoß und Hieb und mit Manifesten und Inhibitivprozessen anpacken muß, so weiß man nicht, was gescheidter war, als daß der Vater je- dem Mensch die gesetzgebende Gewalt einen Tag lang anweiset, und Petern den ersten; revoluzio- nirt der andere, so ist ein Quatemberzins seiner Erbporzion — und die Mensche sind bemittelt — dem regierenden verfallen. — — Als ich ankam, saß gerade der Amtskeller am Ruder und auf dem Thron. Sie machten aus der Gasse ins Haus einen närrischen vierfüßigen Gang, worin Seraph als bloßer Kronerbe unter der alten 150 Regierung rückwärts mußte. Nie waren Zopf- und Schwedenkopf, dreieckiger und runder Hut, Tuch- und Zeugrock dichter an einander. Ich und eine Fornikantin traten zusammen ihnen in die Gerichtsstube nach, wo mich Peter höflich anließ und Seraph wie ein grober Geselle. Als das Paar einen Leseesel mit zwei Pulten beschritten hatte — Seraph ritt das Heiligen-Bein, der Jurist weiter vornen — so wurde das Sündenkind verhört, das kein Beichtkind werden wollte. Ein adeliger Baumschänder von Hof, der den Waldfrevel an der klein-blättrigen Myrte verübte, bestach sie, daß sie nur auf einen durchpassirten Literatus, Namens Anonymus, bekannte und wie ein engli- scher Buchdrucker die Pillory bestieg, indeß sie den Autor verbarg. Unter dem Protokolliren faß- te der Tragikus eine Idylle ab und trank sehr da- bei — er sah auf- und abtanzend auf dem weißge- kochten weichsten Seil der Liebe, das er über ganz Arkadien weggespannt, im Spiegel häufig die For- nikantin an und passirte die Hitze der Linie, nämlich der SchönheitsHnie in einem fort. Ein schlimmer Umstand war's immer für den Protokollisten, daß er, so oft sich Seraph hinter ihm betrank, sich wider Willen von einem feinen Rausch benebelt fühlte; das vexirte den Amtskeller oft in den kalt- blütigsten Verhandlungen; können wir das nicht von einer sonderbaren Mitleidenschaft ihres föderir- ten Rückenmarks ableiten, da eine Kommunikazion ihrer Blutgefäße so wenig zu erweisen steht? — Wie Peter durch den trassirten und derivativen Rausch zusehends in Grimm gerieht und Farbe bekam, so zersetzte Seraphen der Stamm- und Ur- 151 rausch immer weicher. Du Engel ! sagte leise der bukolische Sänger zum Malefiz-Bild im Spiegel und setzte die Rührung fort; — der rothe Amts- keller sagte erbittert zum Gerichtsfrohn : „schmeiß' die Kanaille ins Loch, bis sie beichtet." Bei sol- chen Gelegenheiten wirft Seraph die Xenien auf den Bruder hin, wo er ihn als einen plumpen Wil- son'schen Knopf aufstellt, auf welchen das elek- trische Feuer der Liebe schwerer niederfährt, als auf eine Franklin'sche Spitze, wie er ist. Der Termin und das Schäfergedicht gingen zu Ende. Peter nahm nun statt der Wage der Themis die merkantilische in die Hand — ein gutes mytho- logisches Simultaneum, da Merkur zugleich Diebe und Waaren, Pluto Dekrete und Gold vertheilt — ; denn er visitirt täglich seinen Laden. Der Tragikus sitzt bei dieser Gelegenheit hinter ihm und studirt ihn als eine komische Akademie; und will sich ins Lustspiel hineinarbeiten, indem er die Ladenkun- den protokollirt. „Diese Pasquille (sagte der Amts- keller), krepiren mich am meisten, da der Bruder doch sonst ein Mensch ist, der weich sein will." Ich bewies jedoch, schriftlicher Zorn entkräfte eben den innerlichen, Autoren müsse man in Lum- penpapier, wie Gaukler Vipern in Lumpen, beißen lassen, damit der Gift wegkomme ! Peter sagte mir nun seine Klagen über die Ruthe, die ihm Gott auf den Rücken gebunden; die Ruthe oder Seraph konnte nichts sagen, weil es nicht der Tag des eignen Regimentes war. „Seraph (sagt' er) sei kein Wirthschafter, er poche darauf, daß er an ihn fest- gewachsen sei, und so gut müsse verpfleget wer- den, als ein Bein oder ein Arm von Peter; ja er 152 drohe oft, sich todtzuschießen, damit Peter das Amputiren hätte — er ächze oft an einem Buche in der aufgewecktesten Gesellschaft — er sei see- lengut gegen jedes Kind, puff' ihn aber rückwärts — er mache unter dem Abendsegen oft Schlemper- lieder, Flüche und Stachelschriften, und doch auch Psalmen, wenn's ihm gelegen sei — besonders schlecht würd' er, so heihg er thue, in puncto punc- ti beschlagen sein, falls man ihm's akkordirte." lie- ber letzteres wie über alles Unmoralische nahm ich mich seiner an, weil alles vom poetischen Enthusi- asmus herkommt, wo die Extreme sich berühren; denn man wende wie Pauson das Gemälde eines galoppirenden Musenpferdes um, so hat man das von einem vor sich, das sich im Kothe wälzt — und weil überhaupt aus unmoralischen Poeten mehr Geist und Feuer zu pressen ist, wie Korn einen stär- kern Branntewein hergibt mit Unkraut untermengt. Peters Abschilderung der Genies kam Seraphen zu Passe, und er schrieb alles nach, um die Genies so gut lächerlich zu machen wie einen Amtskeller — denn das genialische Volk fället gern seines Gleichen an, wie Jagdhunde, die unter allen Thie- ren (selber Hasen nicht ausgenommen) den Fuchs am liebsten jagen, ob er gleich ihr nächster Ver- wandter ist und vom schlimmsten Geruch. So weit der Regimentstag des Juristen; jetzt kommt sein Leidenstag, wo er keine andere HoflF- nung hat als auf die Auferstehung, die ihn von allen Gliedern erlöset, von Absonderungswerkzeugen, von Haaren, vom Magen und von seinem Bruder. Am andern Tag war der Tragikus schon vor Sonnenaufgang mit dem Amtskeller in die schöne 153 Natur hinausgewischt. Ich sah den Dualis auf einer Anhöhe stehen, wo Seraph den Kopf zwischen vier Beine untersteckte, um durch das pittoreske Stativ die herrHche Landschaft besser und ins Kleine gemalet zu beschauen; der Amtskeller aber schämte sich der kindischen Stellung und dachte verdrießlich an Sachen von Belang. Er mußte dann mit Seraphen die Blumenstücke, die Thal- und Bergstücke und Baumschläge der Natur bereisen und die Gesänge anhören, die der Poet über die mündlichen der Viehhirten abfaßte; doch konnte Peter zuweilen — das war sein Konfortativ — einen singenden Hirten aufzeichnen, der sein Vieh auswärts grasen Heß; und als Seraph begeistert sich neue Bahnen brechen wollte durch — Wie- sen, könnt' er sich dagegen setzen und drohen, ihn zu pfänden und den Hut zu nehmen. — Als die verketteten Dioskuren nach Hause ka- men, sagte mir freilich Seraph, was er wollte; aber ich glaube, Menschen von Verstand sind nicht begierig darauf, weil sie alles sich vorstellen kön- nen, wie betrübt es Seraphen überhaupt erging — wie in den heißen Quellen seines Herzens und seiner Poesie immer Hühner abgebrühet und Eier hart gesotten werden sollen — wie Peter nicht mehr Gesänge ausstehen könne, als sonst nach Anzahl der Kammerherrnknöpfe oder der Nägel im holsteinischen Wappen im Gesangbuch stan- den, nämlich drei*) — wie Seraphs tragische und lyrische Erhitzung immer in den Amtskeller durch das Steißbein gemildert übergehe und diesen nur *) Diese drei Gesänge konnte jeder auswendig; daraufkam ein dünnes Gesangbuch, und dann ein dickes. 154 aufgeweckt und jovialisch mache — wie ihn Peter peinige und anliege, aus jeder dichterischen Fröm- migkeit Ernst zu machen, nämlich wirkliche, da doch in Nürnberg die Rechenpfennig-Schläger schwüren, keine Münzer zu werden — wie er oft ein Trauerspiel unter Kaufkontrakten, Subhasta- zionen mache oder wie Peter unter dem tragischen Mitleid und Schrecken von dessen Vorlesung sich Lachs verschreibe von einem Freund in Bre- men — wie Peter und der Staat gleich Heliogabal die Nachtigallenzungen lieber käue als höre — wie er an die poetisch-illuminirte Weltkarte ge- wöhnt, sich auf einmal finden solle, wenn die bloße schwarze der WirkHchkeit aufgeschlagen daliege — wie Peter ihn tägHch auslache, nicht mit ächter Satire, sondern leider so — wie es verflucht schlimm sei und noch schUmmer werden müsse, werde Peter vollends älter... Und das ist wohl gewiß ; aber für das Ende eines Abel- und Seths-Blattes, dessen Name viel ähn- lichere Brüder verbindet als dessen Inhalt, darf man wol die Frage aufheben: ist außer der Famiüe von Mensch noch ein so tolles Bündniß vorhan- den, wenn man etwan das ausnimmt zwischen Leib und Seele — zwischen Mann und Frau — zwischen Rezensenten und Dichter — zwischen erster und zweiter Welt? Und wenn sie da wären, könnte man nicht den Reichsanzeiger bitten, sie vorzuzählen? S — s. Der Traum im Traum. Erhaben stand der Himmel über der Erde; ein Regenbogen hob sich, wie der Ring der Ewigkeit, 155 über den Morgen — ein gebrochenes Gewitter 20g über Wetterstangen mit einem müden Don- nern unter die farbige Edenpforte in Osten — und die Abendsonne schauete, wie hinter Tränen, mit einem milden Lichte dem Gewitter nach, und ihre Blicke ruhten am Triumphbogen der Natur . . . Ich spielte mit meinem Entzücken und schloß überfüllt die Augen zu und sah nichts mehr, als die Sonne, die warm und lodernd durch die Au- genlider drang, und hörte nichts mehr, als das weichende Donnern. — — Da fiel endlich der Nebel des Schlafs auf meine Seele und überdeckte mit seinem grauen Gewölke den Frühling; aber bald zogen sich Lichtstreife durch den Nebel, dann bunte Schönheitlinien und zuletzt war der ganze Schlaf um mich, mit den hellen Bildern des Traums übermalt. Mir träumte, ich stehe in der zweiten Welt: um mich war eine dunkelgrüne Aue, die in der Ferne in hellere Blumen überging und in hochrote Wäl- der und in durchsichtige Berge voll Goldadern — hinter den kristallenen Gebirgen loderte Mor- genrot, von perlenden Regenbogen umhangen — auf den glimmenden Waldungen lagen statt der Tautropfen niedergefallene Sonnen, und um die Blumen hingen, wie fliegender Sommer, Nebel- sterne. . Zuweilen schwankten die Auen, aber nicht von Zephyrn, sondern von Seelen, die sie mit unsichtbaren Flügeln bestreiften. — ■ — Ich war der zweiten Welt unsichtbar; unsere Hülle ist dort nur ein kleiner Leichenschleier, nur eine nicht ganz gefallene Nebelflocke. Am Ufer der zweiten Welt ruhte die heilige 156 Jungfrau neben ihrem Sohne und schauete auf unsere Erde herab, die unten auf dem Totenmeere schwamm mit ihrem engen Frühling, klein und hinabgesenkt, und nur vom Widerschein eines Widerscheins düster beschienen und jeder Welle nachirrend. Da machte die Sehnsucht nach der alten geliebten Erde Mariens zarte Seele weicher, und sie sagte mit schimmernden Augen: „O Sohn, mein Herz schmachtet weinend nach meinen teuern Menschen — ziehe die Erde herauf, damit ich den geliebten Geschwistern wieder nah' in das Auge blicken kann; ach, ich werde weinen, wenn ich lebendig sehe." Christus sagte: „Die Erde ist ein Traum voll Träume; du mußt entschlafen, damit dir die Träu- me erscheinen können." Maria antwortete: ,,Ich will gern entschlafen, damJt ich die Menschen träume." — Christus sagte: „Was soll dir der Traum zeigen?" „Oh, die Liebe der Menschen zeig' er mir, Ge- liebter, wenn sie sich wieder finden nach einer schmerzlichen Trennung" und indem sie es sagte, stand der Todesengel hinter ihr, und sie sank mit zufallenden Augen an seine kalte Brust zurück — und die kleine Erde stieg erschüttert herauf, aber sie wurde kleiner und bleicher, je näher sie kam. Der Wolkenhimmel der Erde spaltete sich und der zerrissene Nebel entblößte die kleine Nacht auf ihr; denn aus einem stummen Bache schim- merten einige Sterne der zweiten Welt zurück, die Kinder schliefen sanft auf der zitternden Erde und lächelten alle, weil ihnen im Schlummer Maria in 157 mütterlicher Gestalt erschien. Aber in dieser Nacht stand ein Unglückliche — in ihrer Brust waren keine Klagen mehr, nur noch Seufzer — und ihr Auge hatte alles verloren, sogar die Trä- nen. Du Arme ! blicke nicht nach Abend an das überflorte Trauerhaus — blicke nie mehr nach Morgen auf den Gottesacker, an das Totenhaus ! Wende nur heute dein geschwollenes Auge ab vom Totenhause, wo dich die schöne Leiche zer- rüttet, die unverschlossen im Nachtwind steht, damit sie früher erwache als im Grabe ! — Aber nein, Beraubte, blicke nur hin auf deinen Gelieb- ten, eh' er zerfällt und fülle dich mit dem ewigen Schmerz. . . Da jetzt ein Echo im Gottesacker zu reden anfing, das die sanften Klaggesänge des Trauerhauses nachstammelte: oh, da riß dieses gedämpfte Nachsingen, wie von Toten, das ganze Herz der Gebeugten auseinander, und alle un- zähligen Tränen flössen wieder durch das wunde Auge, und sie rief außer sich: „Rufst du mich, du Stummer, mit deinem kalten Munde? O Ge- liebter, redest du noch einmal deine Verlassene an? — Ach sprich, nur zum letzten Male, nur heute ! . . . Nein, drüben ist's ganz stumm — nur die Gräber tönen nach — aber die armen Über- deckten liegen taub darunter, und die zerbrochene Brust gibt keinen Ton." Aber wie schauderte sie, als das Trauerlied auf- hörte und der Nachhall der Gräber allein fort- sprach ! — Und ihr Leben wankte, als das Echo näher ging, als ein Toter aus der Nacht trat und die bleiche Hand ausstreckte und ihre nahm und sagte: ,, Warum weinest du, GeHebte ! wo waren 158 wir so lange? — Mir träumte, ich hätte dich ver- loren." — Und sie hatten sich nicht verloren. — Aus Mariens geschlossenem Auge drang eine Freudenträne, und ehe' ihr Sohn den Tropfen weggenommen, war die Erde wieder zurückge- sunken mit den beiden neuen Beglückten. Auf einmal stieg ein Funke aus der Erde her- auf, und eine fliegende Seele zitterte vor der zwei- ten Welt, als ob sie zögere, hinauf zu gehen. Chri- stus hob die entfallene Erdkugel wieder auf, und das Körpergewebe, aus dem die Seele geflogen war, lag noch mit allen Wundenmalen eines zu langen Eebens auf der Erde. Neben dem gefallnen Laub des Geistes stand ein Greis, der die Leiche anredete: „Ich bin so alt wie du ! Warum soll ich denn erst nach dir sterben, du treues, gutes Weib? Jeden Morgen, jeden Abend werd' ich nachrech- nen, wie tief dein Grab, wie tief deine Gestalt ein- gefallen ist, ehe meine neben dich sinkt. . . Oh, wie bin ich allein ! Jetzo hört mich nichts mehr, und sie nicht — aber morgen will ich ihr und ihren treuen Händen und ihren grauen Haaren mit einem solchen Schmerz nachsehen, daß er mein schwaches Leben schließt. O du All- gütiger, schließ es lieber heute, ohne den großen Schmerz !" Warum legt sich noch im Alter, wo der Mensch schon so gebückt und müde ist, noch auf den untersten Stufen der Gruft das Ge- spenst des Kummers so schwer auf ihn und drückt das Haupt, in welchem schon alle Jahre ihre Dor- nen gelassen haben, mit einem neuen Schauder hinunter? Aber Christus schickte den Todesengel mit der 159 kalten Hand nicht: sondern blickte selber dem verlassenen Greis, der so nahe an ihm war, mit einer solchen lächelnden Sonnenwärme in das Herz, daß sich die reife Frucht ablösete — und wie eine Flamme brach sein Geist aus dem geöff- neten Herzen — und begegnete über der zweiten Welt seiner geliebten Seele — und in stillen alten Umfassungen zitterten beide verknüpft ins Ely- sium nieder, wo sich keine endigt. Maria reichte ihnen liebend die beiden Hände und sagte träum- und freudetrunken: ,, Selige 1 nun bleibt ihr beisammen." Über die arme Erde bäumte sich jetzt eine rote Dampfsäule und umklammerte sie und verhüllte ein lautes Schlachtfeld. Endlich quoll der Rauch auseinander über zwei blutige Menschen, die ein- ander in den verwundeten Armen lagen. Es waren zwei erhabne Freunde, die einander alles aufgeop- fert hatten und sich zuerst, aber ihr Vaterland nicht. ,,Lege deine Wunde an meine, Geliebter 1 — Nun können wir uns v/ieder versöhnen; du hast ja mich dem Vaterlande geopfert und ich dich. — Gib mir dein Herz wieder, ehe' es sich verblu- tet. — Ach, wir können nur miteinander sterben 1" — Und jeder gab sein wundes Herz dem andern hin — aber der Tod wich vor ihrem Glänze zu- rück, und der Eisberg, womit er den Menschen erdrückt, zerfloß auf ihren warmen Herzen; die Erde behielt zwei Menschen, die über sie als Berge aufsteigen und ihre Ströme und Arzneien und hohe Aussichten geben, und denen die niedrige Erde nichts zuschickt als — Wolken. Maria winkte träumend ihrem Sohne, weil nur 160 er solche Herzen fassen, tragen und beschirmen könne. — Aber warum lächelst du auf einmal so selig, wie eine freudige Mutter, Maria? — Etwan, weil deine liebe Erde, immer höher aufgezogen, mit ihren Frühlingblumen über das Ufer der zweiten Welt herein wanket? — weil hegende Nachtigallen sich mit heiß brütenden Herzen auf kühle Auen drücken? — weil die Sturmwolken zu Regen- bogen aufblühen? — weil deine unvergeßHche Erde so glückHch ist im Putze des Frühlings, im Glänze seiner Blumen, im Freudengeschrei seiner Sänger? — Nein, darum allein nicht; du lächelst so selig, weil du eine Mutter siehst und ihr Kind, Ist es nicht eine Mutter, die jetzo sich bückt und die Arme weit aufschließet und mit entzückter Stimme ruft: ,,Mein Kind, komm wieder an mein Herz?" — Ist es nicht ihr Kind, das unschuldig im brausenden Tempel des Frühlings neben seinem lehrenden Genius steht, und das der lächelnden Gestalt zuläuft, und das, so früh beglückt und an das warme Herz voll MutterHebe gezogen, ihre Laute nicht versteht: ,,Du gutes Kind, wie freust du mich! Bist du denn glücklick? liebst du mich denn? O sieh mich an, du Teurer, und lächle immerfort !" . . . Maria wurde von der schönen Entzückung auf- geweckt und sie fiel sanft erbebend um ihren eig- nen Sohn und sagte weinend: „Ach, nur eine Mutter kann lieben, nur eine Mutter" — und die Erde sank mit der Mutter, die am Herzen des Kindes blieb, wieder in den irdischen Äther hin- ab. . . 6 Romantiker 161 Und auch mich erweckte die Entzückung: aber nichts war verschwunden als das Gewitter: denn die Mutter, die im Traum das kindliche Herz an ihres gedrückt, lag noch auf der Erde in der schö- nen Umarmung — und sie lieset diesen Traum und verzeiht vielleicht dem Träumer die Wahr- heit. 162 ACHIM VON ARNIM. Der tolle Invalide auf dem Fort Ratonneau. Graf Dürande, der gute alte Kommandant von Marseille, saß einsam frierend an einem kalt stür- menden Oktoberabende bei dem schlecht einge- richteten Kamine seiner prachtvollen Komman- dantenwohnung und rückte immer näher und nä- her zum Feuer, während die Kutschen zu einem großen Balle in der Straße vorüberrollten und sein Kammerdiener Basset, der zugleich sein liebster Gesellschafter war, im Vorzimmer heftig schnarch- te. Auch im südHchen Frankreich ist es nicht im- mer warm, dachte der alte Herr, und schüttelte mit dem Kopfe, die Menschen bleiben auch da nicht immer jung, aber die lebhafte gesellige Be- wegung nimmt so wenig Rücksicht auf das Alter, wie die Baukunst auf den Winter. Was sollte er, der Chef aller InvaHden, die damals (während des Siebenjährigen Krieges) die Besatzung von Mar- seille und seiner Forts ausmachten, mit seinem hölzernen Beine auf dem Balle, nicht einmal die Leutnants seines Regiments waren zum Tanze zu brauchen. Hier am Kamine schien ihm dagegen sein hölzernes Bein höchst brauchbar, weil er den Basset nicht wecken mochte, um den Vorrat grü- ner Olivenäste, den er sich zur Seite hatte hinlegen lassen, allmählich in die Flamme zu schieben. Ein solches Feuer hat großen Reiz; die knisternde Flamme ist mit dem grünen Laube wie durch- flochten, halbbrennend, halbgrünend erscheinen die Blätter wie verliebte Herzen. Auch der alte 163 Herr dachte dabei an Jugendglanz und vertiefte sich in den Konstruktionen jener Feuerwerke, die er sonst schon für den Hof angeordnet hatte, und spekulierte auf neue, noch mannigfachere Far- benstrahlen und -drehungen, durch welche er am Geburtstage des Königs die Marseiller überra- schen wollte. Es sah nun leerer in seinem Kopfe als auf dem Balle aus. Aber in der Freude des Ge- lingens, wie er schon alles strahlen, sausen, pras- seln, dann wieder alles in stiller Größe leuchten sah, hatte er immer mehr Olivenäste ins Feuer geschoben und nicht bemerkt, daß sein hölzernes Bein Feuer gefangen hatte und schon um ein Drit- teil abgebrannt war. Erst jetzt, als er aufspringen wollte, weil der große Schluß, das Aufsteigen von tausend Raketen, seine Einbildungskraft beflü- gelte und entflammte, bemerkte er, indem er auf seinen Polsterstuhl zurücksank, daß sein hölzer- nes Bein verkürzt sei und daß der Rest auch noch in besorglichen Flammen stehe. In der Not, nicht gleich aufkommen zu können, rückte er seinen Stuhl wie einen Piekschlitten mit dem flammenden Beine bis in die Mitte des Zimmers, rief seinen Diener und dann nach Wasser. Mit eifrigem Be- mühen sprang ihm in diesem Augenblick eine Frau zu Hilfe, die, in das Zimmer eingelassen, lange durch ein bescheidnes Husten die Aufmerk- samkeit des Kommandanten auf sich zu ziehen gesucht hatte, doch ohne Erfolg. Sie suchte das Feuer mit ihrer Schürze zu löschen, aber die glü- hende Kohle des Beins setzte die Schürze in Flam- men, und der Kommandant schrie nun in wirk- licher Not nach Hilfe, nach Leuten. Bald drangen 164 diese von der Gasse herein, auch Basset war er- wacht; der brennende Fuß, die brennende Schürze brachte alle ins Lachen, doch mit dem ersten Wassereimer, den Basset aus der Küche holte, war alles gelöscht, und die Leute empfahlen sich. Die arme Frau triefte vom Wasser, sie konnte sich nicht gleich vom Schrecken erholen, der Kommandant ließ ihr seinen warmen Rockelor umhängen und ein Glas starken Wein reichen. Die Frau wollte aber nichts nehmen und schluchzte nur über ihr Unglück und bat den Kommandanten, mit ihm einige Worte insgeheim zu sprechen. So schickte er seinen nachlässigen Diener fort und setzte sich sorgsam in ihre Nähe. „Ach, mein Mann," sagte sie in einem fremden, deutschen Dialekte des Französischen, „mein Mann kommt von Sinnen, wenn er die Geschichte hört; ach, mein armer Mann, da spielt ihm der Teufel sicher wieder einen Streich !" Der Kommandant fragte nach dem Manne, und die Frau sagte ihm, daß sie eben we- gen dieses ihres Heben Mannes zu ihm gekommen, ihm einen Brief des Obersten vom Regiment Pi- kardie zu überbringen. Der Oberste setzte die Bril- le auf, erkannte das Wappen seines Freundes und durchlief das Schreiben, dann sagte er: „Also Sie sind jene Rosalie, eine geborene Demoiselle Lilie aus Leipzig, die den Sergeanten Francoeur gehei- ratet hat, als er am Kopf verwundet in Leipzig gefangen lag? Erzählen Sie, das ist eine seltne Liebe ! Was waren Ihre Eltern, legten die Ihnen kein Hindernis in den Weg? Und was hat denn Ihr Mann für scherzhafte Grillen als Folge seiner Kopfwunde behalten, die ihn zum Felddienste un- 6* Romantiker 1^65 tauglich machen, obgleich er als der bravste und geschickteste Sergeant, als die Seele des Regi- ments geachtet wurde?" — ,, Gnädiger Herr," antwortete die Frau mit neuer Betrübnis, ,, meine Liebe trägt die Schuld von allem dem Unglück, ich habe meinen Mann unglücklich gemacht, und nicht jene Wunde; meine Liebe hat den Teufel in ihn gebracht und plagt ihn und verwirrt seine Sinne. Statt mit den Soldaten zu exerzieren, fängt er zuweilen an, ihnen ungeheure, ihm vom Teufel eingegebene Sprünge vorzumachen, und verlangt, daß sie ihm diese nachmachen; oder er schneidet ihnen Gesichter, daß ihnen der Schreck in alle Glieder fährt, und verlangt, daß sie sich dabei nicht rühren noch regen, und neulich, was endlich dem Fasse den Boden ausschlug, warf er den kom- mandierenden General, der in einer Affäre den Rückzug des Regiments befahl, vom Pferde, setzte sich darauf und nahm mit dem Regimente die Batterie fort." — „Ein Teufelskerl," rief der Kom- mandant, ,,wenn doch so ein Teufel in alle unsre kommandierende Generale führe, so hätten wir kein zweites Roßbach zu fürchten; ist Ihre Liebe solche Teufels fabrik, so wünschte ich, Sie liebten unsre ganze Armee." — ,, Leider im Fluche mei- ner Mutter," seufzte die Frau. „Meinen Vater habe ich nicht gekannt. Meine Mutter sah viele Männer bei sich, denen ich aufwarten mußte, das war meine einzige Arbeit. Ich war träumerig und achtete gar nicht der freundlichen Reden dieser Männer, meine Mutter schützte mich gegen ihre Zudringlichkeit. Der Krieg hatte diese Herren meist zerstreut, die meine Mutter besuchten und 166 bei ihr Hazardspiele heimlich spielten; wir lebten zu ihrem Ärger sehr einsam. Freund und Feind waren ihr darum gleich verhaßt, ich durfte kei- nem eine Gabe bringen, der verwundet oder hun- grig vor dem Hause vorüberging. Das tat mir sehr leid, und einstmals war ich ganz allein und besorgte unser Mittagsessen, als viele Wagen mit Verwundeten vorüberzogen, die ich an der Spra- che für Franzosen erkannte, die von den Preußen gefangen worden. Immer wollte ich mit dem fer- tigen Essen zu jenen hinunter, doch ich fürchtete die Mutter, als ich aber Francoeur mit verbunde- nem Kopfe auf dem letzten Wagen liegen gesehen, da weiß ich nicht, wie mir geschah; die Mutter' war vergessen, ich nahm Suppe und Löffel, und ohne unsre Wohnung abzuschließen, eilte ich dem Wagen nach in die Pleißenburg. Ich fand ihn; er war schon abgestiegen, dreist redete ich die Aufseher an und wußte dem Verwundeten gleich das beste Strohlager zu erstehen. Und als er dar- auf gelegt, welche Seligkeit, dem Notleidenden die warme Suppe zu reichen ! Er wurde munter in den Augen und schwor mir, daß ich einen Hei- ligenschein um meinen Kopf trage. Ich antwor- tete ihm, das sei meine Haube, die sich im eiUgen Bemühen um ihn aufgeschlagen. Er sagte, der Hei- ligenschein komme aus meinen Augen ! Ach, das Wort konnte ich gar nicht vergessen, und hätte er mein Herz nicht schon gehabt, ich hätte es ihm dafür schenken müssen." — „Ein wahres, ein schönes Wort !" sagte der Kommandant, und Ro- salie fuhr fort: „Das war die schönste Stunde mei- nes Lebens, ich sah ihn immer eifriger an, weil er 167 behauptete, daß es ihm wohltue, und als er mir endlich einen kleinen Ring an den Finger steckte, fühlte ich mich so reich, wie ich noch niemals ge- wesen. In diese glückliche Stille trat meine Mutter scheltend und fluchend ein; ich kann nicht nach- sagen, wie sie mich nannte, ich schämte mich auch nicht, denn ich wußte, daß ich schuldlos war und daß er Böses nicht glauben würde. Sie wollte mich fortreißen, aber er hielt mich fest und sagte ihr, daß wir verlobt wären, ich trüge schon seinen Ring. Wie verzog sich das Gesicht meiner Mutter; mir war's, als ob eine Flamme aus ihrem Halse brenne, und ihre Augen kehrte sie in sich, sie sa- hen ganz weiß aus; sie verfluchte mich und über- gab mich mit feierlicher Rede dem Teufel. Und wie so ein heller Schein durch meine Augen am Morgen gelaufen, als ich Francoeur gesehen, so war mir jetzt, als ob eine schwarze Fledermaus ihre durchsichtigen Flügeldecken über meine Augen legte; die Welt war mir halb verschlossen, und ich gehörte mir nicht mehr ganz. Mein Herz ver- zweifelte, und ich mußte lachen. ,, Hörst du, der Teufel lacht schon aus dir 1" sagte die Mutter und ging triumphierend fort, während ich ohnmächtig niederstürzte. Als ich wieder zu mir gekommen, wagte ich nicht, zu ihr zu gehen und den Verwun- deten zu verlassen, auf den der Vorfall schlimm gewirkt hatte; ja, ich trotzte heimlich der Mutter wegen des Schadens, den sie dem Unglücklichen getan. Erst am dritten Tage schlich ich, ohne es Francoeur zu sagen, abends nach dem Hause, wagte nicht anzuklopfen, endlich trat eine Frau, die uns bedient hatte, heraus und berichtete, die Mutter 168 habe ihre Sachen schnell verkauft und sei mit einem fremden Herrn, der ein Spieler sein sollte, fortgefahren, und niemand wisse wohin. So war ich nun von aller Welt ausgestoßen, und es tat mir wohl, so entfesselt von jeder Rücksicht in die Arme meines Francoeur zu fallen. Auch meine jugendlichen Bekanntinnen in der Stadt wollten mich nicht mehr kennen, so konnte ich ganz ihm und seiner Pflege leben. Für ihn arbeitete ich; bis- herhatte ich nur mit dem Spitzenklöppeln zu mei- nem Putze gespielt, ich schämte mich nicht, diese meine Handarbeiten zu verkaufen, ihm brachte es Bequemlichkeit und Erquickung. Aber immer mußte ich der Mutter denken, wenn seine Leben- digkeit im Erzählen mich nicht zerstreute; die Mutter erschien mir schwarz mit flammenden Augen, immer fluchend, vor meinen inneren Au- gen, und ich konnte sie nicht loswerden. Meinem Francoeur wollte ich nichts sagen, um ihm nicht das Herz schwer zu machen; ich klagte über Kopf- weh, das ich nicht hatte, über Zahnweh, das ich nicht fühlte, um weinen zu können, wie ich muß- te. Ach, hätte ich damals mehr Vertrauen zu ihm gehabt, ich hätte sein Unglück nicht gemacht, aber jedesmal wenn ich ihm erzählen wollte, daß ich durch den Fluch der Mutter vom Teufel be- sessen zu sein glaubte, schloß mir der Teufel den Mund, auch fürchtete ich, daß er mich dann nicht mehr lieben könne, daß er mich verlassen würde, und den bloßen Gedanken konnte ich kaum über- leben. Diese innere Qual, vielleicht auch die an- gestrengte Arbeit zerrüttete endlich meinen Kör- per, heftige Krämpfe, die ich ihm verheimlichte, 169 drohten mich zu ersticken, und Arzeneien schie- nen diese Übel nur zu mehren. Kaum war er her- gestellt, so wurde die Hochzeit von ihm angeord- net. Ein alter Geistlicher hielt eine feierliche Rede, in der er meinem Francoeur alles ans Herz legte, was ich für ihn getan, wie ich ihm Vaterland, Wohl- stand und Freundschaft zum Opfer gebracht, selbst den mütterlichen Fluch auf mich geladen, alle diese Not müsse er mit mir teilen, alles Un- glück gemeinsam tragen. Meinem Manne schau- derte bei den Worten, aber er sprach doch ein vernehmliches Ja, und wir wurden vermählt. Selig waren die ersten Wochen, ich fühlte mich zur Hälfte von meinen Leiden erleichtert und ahnete nicht gleich, daß eine Hälfte des Fluchs zu meinem Manne übergegangen sei. Bald aber klagte er, daß jener Prediger in seinem schwarzen Kleide ihm immer vor Augen stehe und ihm drohe, daß er dadurch einen so heftigen Zorn und Widerwillen gegen Geistliche, Kirchen und heilige Bilder emp- finde, daß er ihnen fluchen müsse, und wisse nicht warum, und um sich diesen Gedanken zu ent- schlagen, überlasse er sich jedem Einfall, er tanze und trinke, und so in dem Umtriebe des Bluts werde ihm besser. Ich schob alles auf die Gefan- genschaft, obgleich ich wohl ahnete, daß es der Teufel sei, der ihn plage. Er wurde ausgewechselt durch die Vorsorge seines Obersten, der ihn beim Regimente wohl vermißt hatte, denn Francoeur ist ein außerordentlicher Soldat. Mit leichtem Her- zen zogen wir aus Leipzig und bildeten eine schö- ne Zukunft in unsern Gesprächen aus. Kaum wa- ren wir aber aus der Not ums tägliche Bedürfnis 170 zum Wohlleben der gut versorgten Armee in die Winterquartiere gekommen, so stieg die Heftig- keit meines Mannes mit jedem Tage, er trommelte tagelang, um sich zu zerstreuen, zankte, machte Händel, der Oberst konnte ihn nicht begreifen; nur mit mir war er sanft wie ein Kind. Ich wurde von einem Knaben entbunden, als der Feldzug sich wieder eröffnete, und mit der Qual der Ge- burt schien der Teufel, der mich geplagt, ganz von mir gebannt. Francoeur wurde immer mutwilliger und heftiger. Der Oberste schrieb mir, er sei toll- kühn wie ein Rasender, aber bisher immer glück- lich gewesen, seine Kameraden meinten, er sei zu- weilen wahnsinnig, und er fürchte, ihn unter die Kranken oder Invaüden abgeben zu müssen. Der Oberst hatte einige Achtung gegen mich, er hörte auf meine Vorbitte, bis endlich seine Wildheit ge- gen den kommandierenden General dieser Ab- teilung, die ich schon erzählte, ihn in Arrest brachte, wo der Wundarzt erklärte, er leide wegen der Kopfwunde, die ihm in der Gefangenschaft vernachlässigt worden, an Wahnsinn und müsse wenigstens ein paar Jahre im warmen KHma bei den Invaliden zubringen, ob sich dieses Übel viel- leicht ausscheide. Ihm wurde gesagt, daß er zur Strafe wegen seines Vergehens unter die Invaliden komme, und er schied mit Verwünschungen vom Regimente. Ich bat mir das Schreiben vom Ober- sten aus, ich beschloß, Ihnen zutraulich alles zu eröffnen, damit er nicht nach der Strenge des Ge- setzes, sondern nach seinem Unglück, dessen ein- zige Ursache meine Liebe war, beurteilt werde, und daß Sie ihn zu seinem Besten in eine kleine 171 abgelegene Ortschaft legen, damit er hier in der großen Stadt nicht zum Gerede der Leute wird. Aber, gnädiger Herr, Ihr Ehrenwort darf eine Frau schon fordern, die Ihnen heut einen kleinen Dienst erwiesen, daß Sie dies Geheimnis seiner Krankheit, welches er selbst nicht ahnet und das seinen Stolz empören würde, unverbrüchlich be- wahren," — ,,Hier meine Hand," rief der Kom- mandant, der die eifrige Frau mit Wohlgefallen angehört hatte, „noch mehr, ich will Ihre Vor- bitte dreimal erhören, wenn Francoeur dumme Streiche macht. Das Beste aber ist, diese zu ver- meiden, und darum schicke ich ihn gleich zur Ablösung nach einem Fort, das nur drei Mann Besatzung braucht; Sie finden da für sich und Ihr Kind eine bequeme Wohnung, er hat da wenig Veranlassung zu Torheiten, und die er begeht, bleiben verschwiegen." Die Frau dankte für diese gütige Vorsorge, küßte dem alten Herrn die Hand, und er leuchtete ihr dafür, als sie mit vielen Kni- xen die Treppe hinunterging. Das wunderte den alten Kammerdiener Basset, und es fuhr ihm durch den Kopf, was seinem Alten ankomme: ob der wohl gar mit der brennenden Frau eine Liebschaft gestiftet habe, die seinem Einflüsse nachteilig wer- den könne. Nun hatte der alte Herr die Gewohn- heit, abends im Bette, wenn er nicht schlafen konnte, alles, was am Tage geschehen, laut zu überdenken, als ob er dem Bette seine Beichte hätte abstatten müssen. Und während nun die Wagen vom Balle zurückrollten und ihn wach er- hielten, lauerte Basset im andern Zimmer und hörte die ganze Unterredung, die ihm um so wich- 172 tiger schien, weil Francoeur sein Landsmann und Regimentskamerad gewesen, obgleich er viel älter als Francoeur war. Und nun dachte er gleich an einen Mönch, den er kannte, der schon manchem den Teufel ausgetrieben hatte, und zu dem wollte er Francoeur bald hinführen; er hatte eine rechte Freude am Quacksalbern und freute sich einmal wieder, einen Teufel austreiben zu sehen. Rosalie hatte, sehr befriedigt über den Erfolg ihres Be- suchs, gut geschlafen; sie kaufte am Morgen eine neue Schürze und trat mit dieser ihrem Manne entgegen, der mit entsetzlichem Gesänge seine müden Invaliden in die Stadt führte. Er küßte sie, hob sie in die Luft und sagte ihr: „Du riechst nach dem trojanischen Brande, ich habe dich wie- der, schöne Helena !" — Rosalie entfärbte sich und hielt es für nötig, als er fragte, ihm zu eröff- nen: daß sie wegen der Wohnung beim Obersten gewesen, daß diesem gerade das Bein in Flammen gestanden, und daß ihre Schürze verbrannt. Ihm war es nicht recht, daß sie nicht bis zu seiner An- kunft gewartet habe, doch vergaß er das in tau- send Spaßen über die brennende Schürze. Er stell- te darauf seine Leute dem Kommandanten vor, rühmte alle ihre leiblichen Gebrechen und geisti- gen Tugenden so artig, daß er des alten Herrn Wohlwollen erwarb, der so in sich meinte: die Frau liebt ihn, aber sie ist eine Deutsche und ver- steht keinen Franzosen; ein Franzose hat immer den Teufel im Leibe ! — Er ließ ihn ins Zimmer kommen, um ihn näher kennen zu lernen, fand ihn im Befestigungswesen wohlunterrichtet, und was ihn noch mehr entzückte: er fand in ihm 173 einen leidenschaftlichen Feuerkünstler, der bei seinem Regimente schon alle Arten Feuerwerke ausgearbeitet hatte. Der Kommandant trug ihm seine neue Erfindung zu einem Feuerwerke am Geburtstage des Königs vor, bei welcher ihn ge- stern der Beinbrand gestört hatte, und Francoeur ging mit funkelnder Begeisterung darauf ein. Nun eröffnete ihm der Alte, daß er mit zwei andern Invaliden die kleine Besatzung des Forts Raton- neau ablösen sollte, dort sei ein großer Pulver- vorrat und dort solle er mit seinen beiden Sol- daten fleißig Raketen füllen, Feuerräder drehen und Frösche binden. Indem der Kommandant ihm den Schlüssel des Pulvertums und das Inventa- rium reichte, fiel ihm die Rede der Frau ein, und er hielt ihn mit den Worten noch fest: „Aber Euch plagt doch nicht der Teufel, und Ihr stiftet mir Unheil?" — ,,Man darf den Teufel nicht an die Wand malen, sonst hat man ihn im Spiegel," antwortete Francoeur mit einem gewissen Zu- trauen. Das gab dem Kommandanten Vertrauen, er reichte ihm die Schlüssel, das Inventarium und den Befehl an die jetzige kleine Garnison, auszu- ziehen. So wurde er entlassen, und auf dem Haus- flur fiel ihm Basset um den Hals, sie hatten sich gleich erkannt und erzählten einander in aller Kürze, wie es ihnen ergangen. Doch weil Fran- coeur an große Strenge in allem Militärischen ge- wöhnt war, so riß er sich los und bat ihn auf den nächsten Sonntag, wenn er abkommen könnte, zu Gast nach dem Fort Ratonneau zu dessen Kom- mandanten, der er selbst zu sein die Ehre habe. Der Einzug auf dem Fort war für alle gleich 174 fröhlich, die abziehenden Invaliden hatten die schöne Aussicht auf Marseille bis zum Überdruß genossen, und die einziehenden waren entzückt über die Aussicht, über das zierliche Werk, über die bequemen Zimmer und Betten; auch kauften sie von den abziehenden ein paar Ziegen, ein Tau- benpaar, ein Dutzend Hühner und die Kunst- stücke, um in der Nähe einiges Wild in aller Stille belauern zu können; denn müßige Soldaten sind ihrer Natur nach Jäger. Als Francoeur sein Kom- mando angetreten, befahl er sogleich seinen beiden Soldaten, Brunet und TefFier, mit ihm den Pulver- turm zu eröffnen, das Inventarium durchzugehen, um dann einen gewissen Vorrat zur Feuerw^erker- arbeit in das Laboratorium zu tragen. Das Inven- tarium war richtig, und er beschäftigte gleich ei- nen seiner beiden Soldaten mit den Arbeiten zum Feuerwerk; mit dem andern ging er zu allen Ka- nonen und Mörsern, um die metallnen zu polieren und die eisernen schwarz anzustreichen. Bald füllte er auch eine hinlänghche Zahl Bomben und Gra- naten, ordnete auch alles Geschütz so, wie es stehen mußte, um den einzigen Aufgang nach dem Fort zu bestreichen. ,,Das Fort ist nicht zu nehmen !" rief er einmal über das andre begeistert. „Ich will das Fort behaupten, auch wenn die Engländer mit hunderttausend Mann landen und stürmen ! Aber die Unordnung war hier groß !" — ,,So sieht es überall auf den Forts und Batterien aus," sagte Tessier, ,,der alte Kommandant kann mit seinem Stelzfuß nicht mehr so weit steigen, und gottlob ! bis jetzt ist es den Engländern noch nicht eingefal- len zu landen." — „Das muß anders werden," rief 175 Francoeur, ,,ich will mir lieber die Zunge verbren- nen, ehe ich zugebe, daß unsre Feinde Marseille einäschern oder wir sie doch fürchten müssen." Die Frau mußte ihm helfen, das Mauerwerk von Gras und Moos zu reinigen, es abzuweißen und die Lebensmittel in den Kasematten zu lüften. In den ersten Tagen wurde fast nicht geschlafen, so trieb der unermüdliche Francoeur zur Arbeit, und seine geschickte Hand fertigte in dieser Zeit, wozu ein anderer wohl einen Monat gebraucht hätte. Bei dieser Tätigkeit ließen ihn seine Grillen ruhen; er war hastig, aber alles zu einem festen Ziele, und Rosalie segnete den Tag, der ihn in diese höhere Luftregion gebracht, wo der Teufel keine Macht über ihn zu haben schien. Auch die Witterung hatte sich durch Wendung des Windes erwärmt und erhellt, daß ihnen ein neuer Sommer zu begegnen schien täglich liefen Schiffe im Ha- fen ein und aus, grüßten und wurden begrüßt von den Forts am Meere. Rosalie, die nie am Meere gewesen, glaubte sich in eine andere Welt versetzt, und ihr Knabe freute sich, nach so mancher harten Einkerkerung auf Wagen und in Wirtsstuben, der vollen Freiheit in dem eingeschlossenen kleinen Garten des Forts, den die früheren Bewohner nach Art der Soldaten, besonders der Artilleristen, mit den künstlichsten mathematischen Linien- verbindungen in Buchsbaum geziert hatten. Über dem Fort flatterte die Fahne mit den Lihen, der Stolz Francoeurs, ein segenreiches Zeichen der Frau, die eine geborene Lilie, die liebste Unter- haltung des Kindes. So kam der erste Sonntag, von allen gesegnet, und Francoeur befahl seiner Frau, 176 für den Mittag ihm etwas Gutes zu besorgen, wo er seinen Freund Basset erwarte, insbesondere machte er Anspruch auf einen guten Eierkuchen, denn die Hühner des Forts legten fleißig, lieferte auch eine Zahl wilder Vögel, die Brunet geschossen hatte, in die Küche. Unter diesen Vorbereitungen kam Bas- set hinaufgekeucht und war entzückt über die Ver- wandlung des Forts, erkundigte sich auch im Na- men des Kommandanten nach dem Feuerwerke und erstaunte über die große Zahl fertiger Raketen und Leuchtkugeln. Die Frau ging nun an ihre Küchenarbeit, die beiden Soldaten zogen aus, um Früchte zur Mahlzeit zu holen, alle wollten an dem Tage recht selig schwelgen und sich die Zeitung vorlesen lassen, die Basset mitgebracht hatte. Im Garten saß nun Basset dem Francoeur gegenüber und sah ihn stillschweigend an, dieser fragte nach der Ursache. „Ich meine, Ihr seht so gesund aus wie sonst, und alles, was Ihr tut, ist so vernünftig." — „Wer zweifelt daran?" fragte Francoeur mit einer Aufwallung, ,,das will ich wissen !" — Bas- set suchte umzulenken, aber Francoeur hatte et- was Furchtbares in seinem Wesen, sein dunkles Auge befeuerte sich, sein Kopf erhob sich, seine Lippen drängten sich vor. Das Herz war schon dem armen Schwätzer Basset gefallen, er sprach, dünnstimmig wie eine Violine, von Gerüchten beim Kommandanten: er sei vom Teufel geplagt, von seinem guten Willen ihn durch einen Ordens- geistlichen, den Vater Philipp, exorzieren zu las- sen, den er deswegen vor Tische hinaufbestellt habe, unter dem Vorwande, daß er eine Messe der vom Gottesdienst entfernten Garnison in der 177 kleinen Kapelle lesen müsse. Francoeur entsetzte sich über die Nachricht, er schwur, daß er sich blutig an dem rächen wolle, der solche Lüge über ihn ausgebracht; er wisse nichts vom Teufel, und wenn es gar keine gebe, so habe er auch nichts dagegen einzuwenden, denn er habe nirgends die Ehre seiner Bekanntschaft gemacht. Basset sagte, er sei ganz unschuldig, er habe die Sache vernom- men, als der Kommandant mit sich laut gespro- chen habe, auch sei ja dieser Teufel die Ursache, warum Francoeur vom Regimente fortgekom- men. ,,Und wer brachte dem Kommandanten die Nachricht?" fragte Francoeur zitternd. „Eure Frau," antwortete jener, ,,aber in der besten Ab- sicht, um Euch zu entschuldigen, wenn Ihr wilde Streiche machtet." — ,,Wir sind geschieden 1" schrie Francoeur und schlug sich vor den Kopf, „sie hat mich verraten, mich vernichtet, hat Heim- lichkeiten mit dem Kommandanten, sie hat un- endlich viel für mich getan und gelitten, sie hat mir unendlich wehe getan, ich bin ihr nichts mehr schuldig, wir sind geschieden 1" — Allmählich schien er stiller zu werden, je lauter es in ihm wurde; er sah wieder den schwarzen GeistHchen vor Augen, wie die vom tollen Hunde Gebissenen den Hund immer zu sehen meinen, da trat Vater Philipp in den Garten, und er ging mit Heftigkeit auf ihn zu, um zu fragen, was er wolle. Dieser meinte seine Beschwörung anbringen zu müssen, redete den Teufel heftig an, indem er seine Hände in kreuzenden Linien über Francoeur bewegte. Das alles empörte Francoeur, er gebot ihm als Kommandant des Forts, den Platz sogleich zu 178 verlassen. Aber der unerschrockne Philipp eiferte um so heftiger gegen den Teufel in Francoeur, und als er sogar seinen Stab erhob, ertrug Francoeurs militärischer Stolz diese Drohung nicht. Mit wü- tender Stärke ergriff er den kleinen Philipp bei seinem Mantel und warf ihn über das Gitter, das den Eingang schützte, und wäre der gute Mann nicht an den Spitzen des Türgitters mit dem Man- tel hängen geblieben, er hätte einen schweren Fall die steinerne Treppe hinunter gemacht. Nahe die- sem Gitter war der Tisch gedeckt, das erinnerte Francoeur an das Essen. Er rief nach dem Essen, und Rosalie brachte es, etwas erhitzt vom Feuer, aber sehr fröhlich, denn sie bemerkte nicht den Mönch außer dem Gitter, der sich kaum vom ersten Schrecken erholt hatte und still vor sich betete, um neue Gefahr abzuwenden; kaum be- achtete sie, daß ihr Mann und Basset, jener finster, dieser verlegen nach dem Tische blickten. Sie fragte nach den beiden Soldaten, aber Francoeur sagte: ,,Sie können nachessen, ich habe Hunger, daß ich die Welt zerreißen könnte." Darauf legte sie die Suppe vor und gab Basset aus Artigkeit das Meiste, dann ging sie nach der Küche, um den Eierkuchen zu backen, ,,Wie hat denn meine Frau dem Kommandanten gefallen?" fragte Francoeur. „Sehr gut," antwortete Basset, ,,er wünschte, daß es ihm in der Gefangenschaft so gut geworden wäre wie Euch." — ,,Er soll sie haben !" antwor- tete er. ,,Nach den beiden Soldaten, die fehlen, fragte sie; was mir fehlt, das fragte sie nicht; Euch suchte sie als einen Diener des Kommandanten zu gewinnen, darum füllte sie Euren Teller, daß 179 er überfloß, Euch bot sie das größte Glas Wein an, gebt Achtung, sie bringt Euch auch das größte Stück Eierkuchen. Wenn das der Fall ist, dann stehe ich auf, dann führt sie nur fort und laßt mich hier allein." — Basset wollte antworten, aber im Augenblicke trat die Frau mit dem Eierkuchen herein. Sie hatte ihn schon in drei Stücke geschnit- ten, ging 2u Basset und schob ihm ein Stück mit den Worten auf den Teller: ,, Einen bessern Eier- kuchen findet Ihr nicht beim Kommandanten, Ihr müßt mich rühmen I" — Finster bhckte Fran- coeur in die Schüssel, die Lücke war fast so groß wie die beiden Stücke, die noch blieben, er stand auf und sagte: ,,Es ist nicht anders, wir sind ge- schieden !" Mit diesen Worten ging er nach dem Pulverturme, schloß die eiserne Türe auf, trat ein und schloß sie wieder hinter sich zu. Die Frau sah ihm verwirrt nach und ließ die Schüssel fallen: ,,Gott, ihn plagt der Böse; wenn er nur nicht Unheil stiftet im Pulverturm." — ,,Ist das der Pulverturm?" rief Basset, „er sprengt sich in die Luft, rettet Euch und Euer Kind !" Mit diesen Worten lief er fort, auch der Mönch wagte sich nicht wieder herein und lief ihm nach. Rosalie eilte in die Wohnung 2u ihrem Kinde, riß es aus dem Schlafe, aus der Wiege, sie wußte nichts mehr von sich, bewußtlos wie sie Francoeur einst ge- folgt, so entfloh sie ihm mit dem Kinde und sagte vor sich hin: ,,Kind, das tue ich nur deinetwegen, mir wäre besser, mit ihm zu sterben; Hagar, du hast nicht gelitten wie ich, denn ich verstoße mich selbst !" — Unter solchen Gedanken kam sie her- ab auf einem falschen Wege und stand am sump- 180 figen Ufer des Flusses. Sie konnte aus Ermattung nicht mehr gehen und setzte sich deswegen in einen Nachen, der, nur leicht ans Ufer gefahren, leicht abzustoßen war, und ließ sich den Fluß herabtrei- ben; sie wagte nicht umzublicken, wenn am Hafen ein Schuß geschah, meinte sie, das Fort sei ge- sprengt und ihr halbes Leben verloren, so verfiel sie allmählich in einen dumpfen, fieberartigen Zu- stand. Unterdessen waren die beiden Soldaten, mit Äp- feln und Trauben bepackt, in die Nähe des Forts gekommen, aber Francoeurs starke Stimme rief ihnen, indem er eine Flintenkugel über ihre Köpfe abfeuerte: ,, Zurück !" dann sagte er durch das Sprachrohr: „An der hohen Mauer werde ich mit euch reden, ich habe hier allein zu befehlen und will auch allein hier leben, solange es dem Teufel gefällt !" Sie wußten nicht, was das bedeuten solle, aber es war nichts anders zu tun, als dem Willen des Sergeanten Folge zu leisten. Sie gingen herab zu dem steilen Abhänge des Forts, welcher die hohe Mauer hieß, und kaum waren sie dort an- gelangt, so sahen sie Rosaliens Bette und des Kindes Wiege an einem Seile niedersinken, dem folgten ihre Betten und Geräte, und Francoeur rief durch das Sprachrohr: „Das Eurige nehmt; Bette, Wiege und Kleider meiner entlaufenen Frau bringt zum Kommandanten, da werdet ihr sie finden; sagt: das schicke ihr Satanas, und diese alte Fahne, um ihre Schande mit dem Komman- danten zuzudecken !" Bei diesen Worten warf er die große französische Flagge, die auf dem Fort geweht hatte, herab und fuhr fort: „Dem Kom- 181 mandanten lasse ich hierdurch Krieg erklären, er mag sich waffnen bis zum Abend, dann werde ich meine Feuer eröffnen; er soll nicht schonen, denn ich schone ihn beim Teufel nicht; er soll alle seine Hände ausstrecken, er wird mich doch nicht fan- gen; er hat mir den Schlüssel zum Pulverturm gegeben, ich will ihn brauchen, und wenn er mich zu fassen meint, fliege ich mit ihm gen Himmel, vom Himmel in die Hölle, das wird Staub geben." — Brunet wagte endlich zu reden und rief hinauf: ,, Gedenkt an unsern gnädigsten König, daß der über Euch steht, ihm werdet Ihr doch nicht wider- streben." Dem antwortete Francoeur: ,,In mir ist der König aller Könige dieser Welt, in mir ist der Teufel, und im Namen des Teufels sage ich euch: redet kein Wort, sonst zerschmettere ich euch!" — Nach dieser Drohung packten beide still- schweigend das Ihre zusammen und ließen das übrige stehen; sie wußten, daß oben große Stein- massen angehäuft waren, die unter der steilen Fels- wand alles zerschmettern konnten. Als sie nach Marseille zum Kommandanten kamen, fanden sie ihn schon in Bewegung, denn Basset hatte ihn von allem unterrichtet; er sendete die beiden Ankom- menden mit einem Wagen nach dem Fort, um die Sachen der Frau gegen den drohenden Regen zu sichern, andere sandte er aus, um die Frau mit dem Kinde aufzufinden, während er die Offiziere bei sich versammelte, um mit ihnen zu überlegen, was zu tun sei. Die Besorgnis dieses Kriegsrats richtete sich besonders auf den Verlust des schö- nen Forts, wenn es in die Luft gesprengt würde; bald kam aber ein Abgesandter der Stadt, wo sich 182 das Gerücht verbreitet hatte, und stellte den Un- tergang des schönsten Teiles der Stadt als ganz unvermeidlich dar. Es wurde allgemein anerkannt, daß mit Gewalt nicht verfahren werden dürfe, denn Ehre sei nicht gegen einen einzelnen Men- schen zu erringen, wohl aber ein ungeheuerer Ver- lust durch Nachgiebigkeit abzuwenden; der Schlaf werde die Wut Francoeurs doch endlich überwin- den, dann sollten entschlossene Leute das Fort erklettern und ihn fesseln. Dieser Ratschluß war kaum gefaßt, so wurden die beiden Soldaten ein- geführt, welche RosaUens Betten und Gerät zu- rückgebracht hatten. Sie hatten eine Bestellung Francoeurs zu überbringen, daß ihm der Teufel ver- raten: sie wollten ihn im Schlafe fangen, aber er warne sie aus Liebe zu einigen Teufels kameraden, die zu dem Unternehmen gebraucht werden soll- ten, denn er werde ruhig in seinem verschlossenen Pulverturme mit geladenen Gewehren schlafen, und ehe sie die Türe erbrechen könnten, wäre er längst erwacht und der Turm mit einem Schusse in die Pulverfässer zersprengt. ,,Er hat recht," sagte der Kommandant, ,,er kann nicht anders handeln, wir müssen ihn aushungern." — ,,Er hat den ganzen Wintervorrat für uns alle hinauf- geschafft," bemerkte Brunet, ,,wir müssen wenig- stens ein halbes Jahr warten, auch sagte er, daß ihm die vorbeifahrenden Schiffe, welche die Stadt versorgen, reichlichen Zoll geben sollten, sonst bohre er sie in den Grund, und zum Zeichen, daß niemand in der Nacht fahren sollte ohne seine Bewilligung, werde er am Abend einige Kugeln über den Fluß sausen lassen." — ,, Wahrhaftig, 183 er schießt !" rief einer der Offiziere, und alle liefen nach einem Fenster des obern Stockwerks. Welch ein Anblick ! An allen Ecken des Forts eröffneten die Kanonen ihren feurigen Rachen, die Kugeln sausten durch die Luft, in der Stadt versteckte sich die Menge mit großem Geschrei, und nur einzelne wollten ihren Mut im kühnen Anschauen der Ge- fahr beweisen. Aber sie wurden auch reichlich dafür belohnt, denn mit hellem Lichte schoß Fran- coeur einen Bündel Raketen aus einer Haubitze in die Luft und einen Bündel Leuchtkugeln aus ei- nem Mörser, denen er aus Gewehren unzählige andre nachsandte. Der Kommandant versicherte, diese Wirkung sei trefflich, er habe es nie gewagt, Feuerwerke mit Wurfgeschütz in die Luft zu trei- ben, aber die Kunst werde dadurch gewisserma- ßen zu einer meteorischen, der Francoeur verdiene schon deswegen begnadigt zu werden. Diese nächtliche Erleuchtung hatte eine andere Wirkung, die wohl in keines Menschen Absicht lag; sie rettete Rosalien und ihrem Kinde das Leben. Beide waren in dem ruhigen Treiben des Kahnes eingeschlummert, und Rosalie sah im Traume ihre Mutter von innerlichen Flammen durchleuchtet und verzehrt und fragte sie: warum sie so leide? Da war's, als ob eine laute Stimme ihr in die Ohren lief: ,,Mein Fluch brennt mich wie dich, und kannst du ihn nicht lösen, so bleib ich eigen allem Bösen." Sie wollte noch mehr spre- chen, aber Rosalie war schon aufgeschreckt, sah über sich den Bündel Leuchtkugeln im höchsten Glänze, hörte neben sich einen Schiffer rufen: ,, Steuert links, wir fahren sonst ein Boot in den 184 Grund, worin ein Weib mit einem Kinde sitzt." Und schon rauschte die vordere Spitze eines gro- ßen Flußschiflfes wie ein geöffneter Walfischrachen hinter ihr, da wandte er sich links, aber ihr Nachen wurde doch seitwärts nachgerissen. „Helft mei- nem armen Kinde !" rief sie, und der Haken eines Stangenruders verband sie mit dem großen Schif- fe, das bald darauf Anker warf. „Wäre das Feuer- werk auf dem Fort Ratonneau nicht aufgegangen," rief der eine Schiffer, „ich hätte Euch nicht ge- sehen, und wir hätten Euch ohne bösen Willen in den Grund gesegelt, wie kommt Ihr so spät und allein aufs Wasser, warum habt Ihr uns nicht angeschrien?" Rosalie beantwortete schnell die Fragen und bat nur dringend, sie nach dem Hause des Kommandanten zu bringen. Der Schiffer gab ihr aus Mitleid seinen Jungen zum Führer. Sie fand alles in Bewegung beim Kommandan- ten, sie bat ihn, seines Versprechens eingedenk zu sein, daß er ihrem Manne drei Versehen verzeihen wolle. Er leugnete, daß von solchen Versehen die Rede gewesen, es sei über Scherz und GriUen ge- klagt worden, das sei aber teuflischer Ernst. — „So ist das Unrecht auf Eurer Seite," sagte die Frau gefaßt, denn sie fühlte sich nicht mehr schick- sallos, „auch habe ich den Zustand des armen Mannes angezeigt, und doch habt Ihr ihm einen so gefährlichen Posten vertraut, Ihr habt mir Ge- heimnis angelobt, und doch habt Ihr alles an Bas- set, Euren Diener, erzählt, der uns mit seiner törichten Klugheit und Vorwitzigkeit in das ganze Unglück gestürzt hat; nicht mein armer Mann, Ihr seid an allem Unglück schuld, Ihr müßt dem 7 Romantiker 185 Könige davon Rechenschaft geben." — Der Kommandant verteidigte sich gegen den Vorwurf, daß er etwas dem Basset erzählt habe, dieser ge- stand, daß er ihn im Selbstgespräche belauscht, und so war die ganze Schuld auf seine Seele ge- schoben. Der alte Mann sagte, daß er den andern Tag sich vor dem Fort wolle totschießen lassen, um seinem Könige die Schuld mit seinem Leben abzuzahlen, aber Rosalie bat ihn, sich nicht zu übereilen, er möge bedenken, daß sie ihn schon einmal aus dem Feuer gerettet habe. Ihr wurde ein Zimmer im Hause des Kommandanten ange- wiesen, und sie brachte ihr Kind zur Ruhe, wäh- rend sie selbst mit sich zu Rate ging und zu Gott flehte, ihr anzugeben, wie sie ihre Mutter den Flammen und ihren Mann dem Fluche entreißen könne. Aber auf ihren Knien versank sie in einen tiefen Schlaf und war sich am Morgen keines Traumes, keiner Eingebung bewußt. Der Kom- mandant, der schon früh einen Versuch gegen das Fort gemacht hatte, kam verdrießlich zurück. Zwar hatte er keine Leute verloren, aber Fran- coeur hatte so viele Kugeln mit solcher Geschick- lichkeit links und rechts und über sie hinsausen lassen, daß sie ihr Leben nur seiner Schonung dankten. Den Fluß hatte er durch Signalschüsse gesperrt, auch auf der Chaussee durfte niemand fahren, kurz, aller Verkehr der Stadt war für die- sen Tag gehemmt, und die Stadt drohete, wenn der Kommandant nicht vorsichtig verfahre, son- dern wie in Feindes Land ihn zu belagern denke, daß sie die Bürger aufbieten und mit den Invaliden schon fertig werden wolle. 186 Drei Tage ließ sich der Kommandant so hin- halten, jeden Abend verherrlichte ein Feuerwerk, jeden Abend erinnerte Rosalie an sein Verspre- chen der Nachsicht. Am dritten Abend sagte er ihr, der Sturm sei auf den andern Mittag fest- gesetzt, die Stadt gebe nach, weil aller Verkehr gestört sei und endlich Hungersnot ausbrechen könne. Er werde den Eingang stürmen, während ein andrer Teil von der andern Seite heimlich anzuklettern suche, so daß diese vielleicht früher ihrem Manne in den Rücken kämen, ehe er nach dem Pulverturm springen könne; es werde Men- schen kosten, der Ausgang sei ungewiß, aber er wolle den Schimpf von sich ablenken, daß durch seine Feigheit ein toller Mensch zu dem Dünkel gekommen, einer ganzen Stadt zu trotzen; das größte Unglück sei ihm lieber als dieser Verdacht, er habe seine Angelegenheiten mit der Welt und vor Gott zu ordnen gesucht, Rosalie und ihr Kind würden sich in seinem Testamente nicht vergessen finden. Rosalie fiel ihm zu Füßen und fragte: was denn das Schicksal ihres Mannes sei, wenn er im Sturme gefangen würde? Der Kommandant wen- dete sich ab und sagte leise: ,,Der Tod unausbleib- lich, auf Wahnsinn würde von keinem Kriegsge- richte erkannt werden, es ist zuviel Einsicht, Vor- sicht und Klugheit in der ganzen Art, wie er sich nimmt; der Teufel kann nicht vor Gericht gezogen werden, er muß für ihn leiden." — Nach einem Strome von Tränen erholte sich Rosalie und sagte: wenn sie das Fort ohne Blutvergießen, ohne Ge- fahr in die Gewalt des Kommandanten brächte, würde dann sein Vergehen als ein Wahnsinn Be- 187 gnadigung finden? — ,Ja, ich schwör's !" rief der Kommandant, „aber es ist vergeblich, Euch haßt er vor allen und rief gestern einem unsrer Vor- posten 2u, er wolle das Fort übergeben, wenn wir ihm den Kopf seiner Frau schicken könnten." — „Ich kenne ihn," sagte die Frau, „ich will den Teufel beschwören in ihm, ich will ihm Frieden geben, sterben würde ich doch mit ihm, also ist nur Gewinn für mich, wenn ich von seiner Hand sterbe, der ich vermählt bin durch den heiligsten Schwur." — Der Kommandant bat sie, sich wohl zu bedenken, erforschte ihre Absicht, widerstand aber weder ihren Bitten noch der Hoffnung, auf diesem Wege dem gewissen Untergange zu ent- gehen. Vater Philipp hatte sich im Hause eingefunden und erzählte, der unsinnige Francoeur habe jetzt eine große weiße Flagge ausgesteckt, auf welcher der Teufel gemalt sei, aber der Kommandant woll- te nichts von seinen Neuigkeiten wissen und be- fahl ihm, zu Rosalien zu gehen, die ihm beichten wolle. Nachdem Rosalie ihre Beichte in aller Ruhe eines gottergebnen Gemütes abgelegt hatte, bat sie den Vater Philipp, sie nur bis zu einem sichern Steinwalle zu begleiten, wo keine Kugel ihn tref- fen könne, dort wolle sie ihm ihr Kind und Geld zur Erziehung desselben übergeben, sie könne sich noch nicht von dem lieben Kinde trennen. Er versprach es ihr zögernd, nachdem er sich im Hause erkundigt hatte, ob er auch dort noch sicher gegen die Schüsse sei; denn sein Glaube, Teufel austreiben zu können, hatte sich in ihm ganz ver- loren, er gestand, was er bisher ausgetrieben hätte, 188 möchte wohl der rechte Teufel nicht gewesen sein, sondern ein geringerer Spuk. Rosalie kleidete ihr Kind noch einmal unter mancher Träne weiß mit roten Bandschleifen an, dann nahm sie es auf den Arm und ging schwei- gend die Treppe hinunter. Unten stand der alte Kommandant und konnte ihr nur die Hand drücken und mußte sich umwenden, weil er sich der Tränen vor den Zuschauern schämte. So trat sie auf die Straße, keiner wußte ihre Absicht, Va- ter Philipp blieb etwas zurück, weil er des Mit- gehens gern überhoben gewesen, dann folgte die Menge müßiger Menschen auf den Straßen, die ihn fragten, was es bedeute? Viele fluchten auf Rosalien, weil sie Francoeurs Frau war, aber die- ser Fluch berührte sie nicht. Der Kommandant führte unterdessen seine Leute auf verborgenen Wegen nach den Plätzen, von welchen der Sturm eröffnet werden sollte, wenn die Frau den Wahnsinn des Mannes nicht beschwören könnte. Am Tore schon verließ die Menge Rosalien, denn Francoeur schoß von Zeit zu Zeit über diese Fläche, auch Vater Philipp klagte, daß ihm schwach werde, er müsse sich niederlassen. Rosa- lie bedauerte es und zeigte ihm den Felsenwall, wo sie ihr Kind noch einmal stillen und es dann in den Mantel niederlegen wollte, dort möge es gesucht werden, da liege es sicher aufbewahrt, wenn sie nicht zu ihm zurückkehren könne. Vater Philipp setzte sich betend hinter den Felsen, und Rosahe ging mit festem Schritt dem Steinwalle zu, wo sie ihr Kind tränkte und segnete, es in ihren 7* Romantiker 189 Mantel wickelte und in Schlummer brachte. Da verließ sie es mit einem Seufzer, der die Wolken in ihr brach, daß blaue Hellung und das stärkende Sonnenbild sie bestrahlten. Nun war sie dem har- ten Manne sichtbar, als sie am Steinwalle heraus- trat, ein Licht schlug am Tore auf, ein Druck, als ob sie umstürzen müßte, ein Rollen in der Luft, ein Sausen, das sich damit mischte, zeigte ihr an, daß der Tod nahe an ihr vorübergegangen. Es wurde ihr aber nicht mehr bange, eine Stimme sagte ihr innerlich, daß nichts untergehen könne, was diesen Tag bestanden, und ihre Liebe zum Manne, zum Kinde regte sich noch in ihrem Her- zen, als sie ihren Mann vor sich auf dem Festungs- werke stehen und laden, das Kind hinter sich schreien hörte; sie taten ihr beide mehr leid als ihr eignes Unglück, und der schwere Weg war nicht der schwerste Gedanke ihres Herzens. Und ein neuer Schuß betäubte ihre Ohren und schmetterte ihr Felsstaub ins Gesicht, aber sie betete und sah zum Himmel. So betrat sie den engen Felsgang, der, wie ein verlängerter Lauf, für zwei mit Kar- tätschen geladene Kanonen mit boshaftem Geize die Masse des verderblichen Schusses gegen die Andringenden zusammenzuhalten bestimmt war. — „Was siehst du, Weib 1" brüllte Francoeur, „sieh nicht in die Luft, deine Engel kommen nicht, hier steht dein Teufel und dein Tod." — ,, Nicht Tod, nicht Teufel trennen mich mehr von dir," sagte sie getrost und schritt weiter hinauf die gro- ßen Stufen. ,,Weib," schrie er, „du hast mehr Mut als der Teufel, aber es soll dir doch nichts helfen." — Er blies die Lunte an, die eben verlöschen 190 wollte, der Schweiß stand ihm hellglänzend über Stirn und Wangen, es war, als ob zwei Naturen in ihm rangen. Und Rosalie wollte nicht diesen Kampf hemmen und der Zeit vorgreifen, auf die sie zu vertrauen begann; sie ging nicht vor, sie kniete auf die Stufe nieder, als sie drei Stufen von den Kanonen entfernt war, wo sich das Feuer kreuzte. Er riß Rock und Weste an der Brust auf, um sich Luft zu machen, er griff in sein schwarzes Haar, das verwildert in Locken starrte, und riß es sich wütend aus. Da öffnete sich die Wunde am Kopfe in dem wilden Erschüttern durch Schläge, die er an seine Stirn führte, Tränen und Blut löschten den brennenden Zundstrick, ein Wir- belwind warf das Pulver von den Zündlöchern der Kanonen und die Teufelsflagge vom Turm. „Der Schornsteinfeger macht sich Platz, er schreit zum Schornstein hinaus !" rief er und deckte seine Augen. Dann besann er sich, öffnete die Gitter- türe, schwankte zu seiner Frau, hob sie auf, küßte sie, endlich sagte er: „Der schwarze Bergmann hat sich durchgearbeitet, es strahlt wieder Licht in meinen Kopf, und Luft zieht hindurch, und die Liebe soll wieder ein Feuer zünden, daß uns nicht mehr friert. Ach Gott, was hab ich in diesen Ta- gen verbrochen ! Laß uns nicht feiern, sie werden mir nur wenig Stunden noch schenken, wo ist mein Kind, ich muß es küssen, weil ich noch frei bin; was ist Sterben? Starb ich nicht schon einmal, als du mich verlassen, und nun kommst du wie- der, und dein Kommen gibt mir mehr, als dein Scheiden mir nehmen konnte, ein unendliches Gefühl meines Daseins, dessen Augenblicke mir 191 genügen. Nun lebte ich gern mit dir, und wäre deine Schuld noch größer als meine Verzweiflung gewesen, aber ich kenne das Kriegsgesetz, und ich kann nun gottlob in Vernunft als ein reuiger Christ sterben." — Rosalie konnte in ihrer Ent- zückung, von ihren Tränen fast erstickt, kaum sagen, daß ihm verziehen, daß sie ohne Schuld und ihr Kind nahe sei. Sie verband seine Wunde in Eile, dann zog sie ihn die Stufen hinunter bis hin zu dem Steinwalle, wo sie das Kind verlassen. Da fanden sie den guten Vater Philipp bei dem Kinde, der allmählich hinter Felsstücken zu ihm hingeschlichen war, und das Kind ließ etwas aus den Händen fliegen, um nach dem Vater sie aus- zustrecken. Und während sich alle drei umarmt hielten, erzählte Vater Philipp, wie ein Tauben- paar vom Schloß heruntergeflattert sei und mit dem Kinde artig gespielt, sich von ihm habe anrühren lassen und es gleichsam in seiner Ver- lassenheit getröstet habe. Als er das gesehen, habe er sich dem Kinde zu nahen gewagt. „Sie waren, wie gute Engel, meines Kindes Spielkameraden auf dem Fort gewesen, sie haben es treulich auf- gesucht, sie kommen sicher wieder und werden es nicht verlassen." Und wirklich umflogen sie die Tauben freundlich und trugen in ihren Schnä- beln grüne Blätter. ,,Die Sünde ist uns geschie- den," sagte Francoeur, ,,nie will ich wieder auf den Frieden schelten, der Friede tut mir so gut." Inzwischen hatte sich der Kommandant mit sei- nen Offizieren genähert, weil er den glücklichen Ausgang durch sein Fernrohr gesehen. Francoeur übergab ihm seinen Degen; er kündigte Fran- 192 coeur Verzeihung an, weil seine Wunde ihn des Verstandes beraubt gehabt, und befahl einem Chir- urgen, diese Wunde 2u untersuchen und besser zu verbinden, Francoeur setzte sich nieder und ließ ruhig alles mit sich geschehen, er sah nur Frau und Kind an. Der Chirurg wunderte sich, daß er keinen Schmerz zeigte, er zog ihm einen Knochensplitter aus der Wunde, der ringsumher eine Eiterung hervorgebracht hatte; es schien, als ob die gewaltige Natur Francoeurs ununterbro- chen und allmählich an der Hinaus Schaffung ge- arbeitet habe, bis ihm endlich äußere Gewalt, die eigne Hand seiner Verzweiflung die äußere Rinde durchbrochen. Er versicherte, daß ohne diese glückliche Fügung ein unheilbarer Wahnsinn den unglücklichen Francoeur hätte aufzehren müssen. Damit ihm keine Anstrengung schade, wurde er auf einen Wagen gelegt, und sein Einzug in Mar- seille glich unter einem Volke, das Kühnheit im- mer mehr als Güte zu achten weiß, einem Triumph- zuge; die Frauen warfen Lorbeerkränze auf den Wagen, alles drängte sich, den stolzen Bösewicht kennen zu lernen, der so viele tausend Menschen während drei Tage beherrscht hatte. Die Männer aber reichten ihre Blumenkränze Rosalien und ih- rem Kinde und rühmten sie als Befreierin und schwuren ihr und dem Kinde reichlich zu ver- gelten, daß sie ihre Stadt vom Untergange ge- rettet habe. Nach solchem Tage läßt sich in einem Men- schenleben selten noch etwas erleben, was der Mühe des Erzählens wert wäre, wenngleich die Wiederbeglückten, die Fluchbefreiten erst in die- 193 sen ruhigeren Jahren den ganzen Umfang des ge- wonnenen Glücks erkannten. Der gute, alte Kom- mandant nahm Francoeur als Sohn an, und konnte er ihm auch nicht seinen Namen übertragen, so ließ er ihm doch einen Teil seines Vermögens und seinen Segen. Was aber Rosalie noch inniger be- rührte, war ein Bericht, der erst nach Jahren aus Prag einlief, in welchem ein Freund der Mutter anzeigte, daß diese wohl ein Jahr unter verzeh- renden Schmerzen den Fluch bereut habe, den sie über ihre Tochter ausgestoßen, und bei dem sehnlichen Wunsche nach Erlösung des Leibes und der Seele sich und der Welt zum Überdruß bis zu dem Tage gelebt habe, der Rosaliens Treue und Ergebenheit in Gott gekrönt: an dem Tage sei sie, durch einen Strahl aus ihrem Innern be- ruhigt, im gläubigen Bekenntnis des Erlösers selig entschlafen. Gnade löst den Fluch der Sünde, Liebe treibt den Teufel aus. 194 E. T. A. HOFFMANN. Rat Krespel. Rat Krespel war einer der allerwunderlichsten Menschen, die mir jemals im Leben vorgekommen. Als ich nach H — zog, um mich einige Zeit dort aufzuhalten, sprach die ganze Stadt von ihm, weil soeben einer seiner allernärrischsten Streiche in voller Blüte stand. Krespel war berühmt als ge- lehrter gewandter Jurist und als tüchtiger Diplo- matiker. Ein nicht eben bedeutender regierender Fürst in Deutschland hatte sich an ihn gewandt, um ein Memorial auszuarbeiten, das die Ausfüh- rung seiner rechtsbegründeten Ansprüche auf ein Territorium zum Gegenstand hatte, und das er dem Kaiserhofe einzureichen gedachte. Das ge- schah mit dem glücklichsten Erfolg, und da Kres- pel einmal geklagt hatte, daß er nie eine Wohnung seiner BequemHchkeit gemäß finden könne, über- nahm der Fürst, um ihn für jenes Memorial zu lohnen, die Kosten eines Hauses, das Krespel ganz nach seinem Gefallen aufbauen lassen sollte. Auch den Platz dazu wollte der Fürst nach Krespels Wahl ankaufen lassen; das nahm Krespel indessen nicht an, vielmehr blieb er dabei, daß das Haus in seinem vor dem Thor in der schönsten Gegend belegenen Garten erbaut werden solle. Nun kaufte er alle nur mögliche Materialien zusammen und ließ sie herausfahren; dann sah man ihn, wie er tagelang in seinem sonderbaren Kleide (das er übrigens selbst angefertigt nach bestimmten eige- nen Prinzipien) den Kalk löschte, den Sand siebte, 195 die Mauersteine in regelmäßige Haufen aufsetzte U.S.W. Mit irgend einem Baumeister hatte er nicht gesprochen, an irgend einen Riß nicht gedacht. An einem guten Tage ging er indessen zu einem tüchtigen Maurermeister in H — und bat ihn, sich morgen bei Anbruch des Tages mit sämtlichen Gesellen und Burschen, vielen Handlangern u.s.w. in dem Garten einzufinden und sein Haus zu bau- en. Der Baumeister fragte natürlicherweise nach dem Bauriß und erstaunte nicht wenig, als Krespel erwiderte, es bedürfe dessen gar nicht, und es wer- de sich schon alles, wie es sein solle, fügen. Als der Meister anderen Morgens mit seinen Leuten an Ort und Stelle kam, fand er einen im regelmäßigen Viereck gezogenen Graben, und Krespel sprach: ,,Hier soll das Fundament meines Hauses gelegt werden, und dann bitte ich, die vier Mauern so lange heraufzuführen, bis ich sage, nun ist's hoch genug." — ,,Ohne Fenster und Thüren, ohne Quermauern?" fiel der Meister, wie über Krespels Wahnsinn erschrocken, ein. ,,So wie ich Ihnen es sage, bester Mann", erwiderte Krespel sehr ru- hig, „das übrige wird sich alles finden." Nur das Versprechen reicher Belohnung konnte den Mei- ster bewegen, den unsinnigen Bau zu unternehmen ; aber nie ist einer lustiger geführt worden, denn unter beständigem Lachen der Arbeiter, die die Arbeitsstätte nie verließen, da es Speis' und Trank vollauf gab, stiegen die vier IVIauern unglaublich schnell in die Höhe, bis eines Tages Krespel rief: „Halt !" Da schwieg Kell' und Hammer, die Ar- beiter stiegen von den Gerüsten herab, und indem sie den Krespel im Kreise umgaben, sprach es aus 196 jedem lachenden Gesicht: „Aber wie nun wei- ter?" — „Platz!" rief Krespel, lief nach einem Ende des Gartens und schritt dann langsam auf sein Viereck los; dicht an der Mauer schüttelte er unwillig den Kopf, lief nach dem andern Ende des Gartens, schritt wieder auf das Viereck los und machte es wie zuvor. Noch einige Male wieder- holte er das Spiel, bis er endlich, mit der spitzen Nase hart an die Mauern anlaufend, laut schrie: ,, Heran, heran, ihr Leute, schlagt mir die Thürein, hier schlagt mir eine Thür ein !" — Er gab Länge und Breite genau nach Fuß und Zoll an, und es geschah, wie er geboten. Nun schritt er hinein in das Haus und lächelte wohlgefällig, als der Meister bemerkte, die Mauern hätten gerade die Höhe eines tüchtigen zweistöckigen Hauses. Kres- pel ging in dem Innern Raum bedächtig auf und ab, hinter ihm her die Maurer mit Hammer und Hacke, und sowie er rief: ,,Hier ein Fenster sechs Fuß hoch, vier Fuß breit ! — dort ein Fensterchen drei Fuß hoch, zwei Fuß breit !" so wurde es flugs eingeschlagen. Gerade während dieser Operation kam ich nach H — , und es war höchst ergötzHch anzusehen, wie Hunderte von Menschen um den Garten herumstanden und allemal laut aufjubel- ten, wenn die Steine herausflogen und wieder ein neues Fenster entstand, da, wo man es gar nicht vermutet hatte. Mit dem übrigen Ausbau des Hau- ses und mit allen Arbeiten, die dazu nötig waren, machte es Krespel auf ebendieselbe Weise, indem sie alles an Ort und Stelle nach seiner augenblick- lichen Angabe verfertigen mußten. Die Possier- Hchkeit des ganzen Unternehmens, die gewonnene 197 Überzeugung, daß alles am Ende sich besser zu- sammengeschickt, als 2u erwarten stand, vorzüg- lich aber Krespels Freigebigkeit, die ihm freilich nichts kostete, erhielt aber alle bei guter Laune. So wurden die Schwierigkeiten, die die abenteuer- liche Art zu bauen herbeiführen mußte, überwun- den, und in kurzer Zeit stand ein völlig eingerich- tetes Haus da, welches von der Außenseite den tollsten Anbhck gewährte, da kein Fenster dem andern gleich war u.s.w., dessen innere Einrich- tung aber eine ganz eigene Wohlbehaglichkeit erregte. Alle, die hineinkamen, versicherten dies, und ich selbst fühlte es, als Krespel nach näherer Bekanntschaft mich hineinführte. Bis jetzt hatte ich nämlich mit dem seltsamen Manne noch nicht ge- sprochen, der Bau beschäftigte ihn so sehr, daß er nicht einmal sich bei dem Professor M*** Diens- tags, wie er sonst pflegte, zum Mittagsessen ein- fand, und ihm, als er ihn besonders eingeladen, sagen ließ, vor dem Einweihungsfeste seines Hau- ses käme er mit keinem Tritt aus der Thür. Alle Freunde und Bekannte verspitzten sich auf ein großes Mahl, Krespel hatte aber niemanden ge- beten als sämtliche Meister, Gesellen, Bursche und Handlanger, die sein Haus erbaut. Er bewirtete sie mit den feinsten Speisen; Maurerbursche fraßen rücksichtslos Rebhuhnpasteten, Tischlerjungen ho- belten mit Glück an gebratenen Fasanen, und hun- grige Handlanger langten diesmal sich selbst die vortrefflichsten Stücke aus dem Trüffelfrikassee zu. Des Abends kamen die Frauen und Töchter, und es begann ein großer Ball. Krespel walzte etwas Weniges mit den Meisterfrauen, setzte sich aber 198 dann zu den Stadtmusikanten, nahm eine Geige und dirigierte die Tanzmusik bis zum hellen Mor- gen. Den Dienstag nach diesem Feste, welches den Rat Krespel als Volksfreund darstellte, fand ich ihn endlich zu meiner nicht geringen Freude bei dem Professor M***. Verwunderlicheres als Kres- pels Betragen kann man nicht erfinden. Steif und ungelenk in der Bewegung, glaubte man jeden Augenblick, er würde irgendwo anstoßen, irgend einen Schaden anrichten; das geschah aber nicht, und man wußte es schon, denn die Hausfrau er- blaßte nicht im mindesten, als er mit gewaltigem Schritt um den mit den schönsten Tassen besetz- ten Tisch sich herumschwang, als er gegen den bis zum Boden reichenden Spiegel manövrierte, als er selbst einen Blumentopf von herrlich gemaltem Porzellan ergriff und in der Luft herumschwenkte, als ob er die Farben spielen lassen wolle. Über- haupt besah Krespel vor Tische alles in des Pro- fessors Zimmer auf das genaueste, er langte sich auch wohl, auf den gepolsterten Stuhl steigend, ein Bild von der Wand herab und hing es wieder auf. Dabei sprach er viel und heftig, bald (bei Tische wurde es auffallend) sprang er schnell von einer Sache auf die andere, bald konnte er von einer Idee gar nicht loskommen; immer sie wie- der ergreifend, geriet er in allerlei wunderUche Irrgänge und konnte sich nicht wiederfinden, bis ihn etwas anders erfaßte. Sein Ton war bald rauh und heftig schreiend, bald leise gedehnt, singend, aber immer paßte er nicht zu dem, was Krespel sprach. Es war von Musik die Rede, man rühmte einen neuen Komponisten, da lächelte Krespel 199 und sprach mit seiner leisen singenden Stimme: „Wollt' ich doch, daß der schwar2gefiederte Satan den verruchten Tonverdreher zehntausend Mil- lionen Klafter tief in den Abgrund der Hölle schlüge !" — Dann fuhr er heftig und wild heraus: „Sie ist ein Engel des Himmels, nichts als reiner, Gott geweihter Klang und Ton ! — Licht und Sternbild alles Gesanges !" — Und dabei standen ihm Thränen in den Augen. Man mußte sich er- innern, daß vor einer Stunde von einer berühmten Sängerin gesprochen worden. Es wurde ein Ha- senbraten verzehrt; ich bemerkte, daß Krespel die Knochen auf seinem Teller vom Fleische sorglich säuberte und genaue Nachfrage nach den Hasen- pfoten hielt, die ihm des Professors fünfjähriges Mädchen mit sehr freundlichem Lächeln brachte. Die Kinder hatten überhaupt den Rat schon wäh- rend des Essens sehr freundlich angebückt, jetzt standen sie auf und nahten sich ihm, jedoch in scheuer Ehrfurcht und nur auf drei Schritte. ,,Was soll denn das werden?" dachte ich im Innern. Das Dessert wurde aufgetragen; da zog der Rat ein Kistchen aus der Tasche, in dem eine kleine stählerne Drehbank lag, die schrob er sofort an den Tisch fest, und nun drechselte er mit unglaub- licher Geschicklichkeit und Schnelligkeit aus den Hasenknochen allerlei winzig kleine Döschen und Büchschen und Kügelchen, die die Kinder jubelnd empfingen. Im Moment des Aufstehens von der Tafel fragte des Professors Nichte: „Was macht denn unsere Antonie, Heber Rat?" — Krespel schnitt ein Gesicht, als wenn jemand in eine bittre Pomeranze beißt und dabei aussehen will, als 200 wenn er Süßes genossen; aber bald verzog sich dies Gesicht zur graulichen Maske, aus der recht bitterer, grimmiger, ja, wie es mir schien, recht teuflischer Hohn herauslachte. ,, Unsere? Unsere liebe Antonie?" frug er mit gedehntem, unange- nehm singenden Tone. Der Professor kam schnell heran; in dem strafenden Blick, den er der Nichte zuwarf, las ich, daß sie eine Saite berührt hatte, die in Krespels Innerm widrig dissonieren mußte. „Wie steht es mit den Violinen?" frug der Pro- fessor recht lustig, indem er den Rat bei beiden Händen erfaßte. Da heiterte sich Krespels Gesicht auf, und er erwiderte mit seiner starken Stimme: „VortrefFHch, Professor, erst heute hab' ich die treffliche Geige von Amati, von der ich neulich er- zählte, welch ein Glücksfall sie mir in die Hände gespielt, erst heute habe ich sie aufgeschnitten. Ich hoffe, Antonie wird das übrige sorgfältig zer- legt haben." — „Antonie ist ein gutes Kind", sprach der Professor. ,,Ja wahrhaftig, das ist sie !" schrie der Rat, indem er sich schnell umwandte und, mit einem Griff Hut und Stock erfassend, schnell zur Thüre hinaussprang. Im Spiegel er- bhckte ich, daß ihm helle Thränen in den Augen standen. Sobald der Rat fort war, drang ich in den Pro- fessor, mir doch nur gleich zu sagen, was es mit den Violinen und vorzüglich mit Antonien für eine Bewandtnis habe. „Ach", sprach der Pro- fessor, ,,wie denn der Rat überhaupt ein ganz wunderlicher Mensch ist, so treibt er auch das VioHnbauen auf ganz eigene tolle Weise." — „Violinbauen?" fragte ich ganz erstaunt. „Ja", 201 fuhr der Professor fort, „Krespel verfertigt nach dem Urteil der Kenner die herrlichsten Violinen, die man in neuerer Zeit nur finden kann; sonst ließ er manchmal, war ihm eine besonders gelun- gen, andere darauf spielen, das ist aber seit einiger Zeit ganz vorbei. Hat Krespel eine Violine ge- macht, so spielt er selbst eine oder zwei Stunden darauf, und zwar mit höchster Kraft, mit hin- reißendem Ausdruck, dann hängt er sie aber zu den übrigen, ohne sie jemals wieder zu berühren oder von andern berühren zu lassen. Ist nur ir- gend eine Violine von einem alten vorzüglichen Meister aufzutreiben, so kauft sie der Rat um jeden Preis, den man ihm stellt. Ebenso wie seine Gei- gen spielt er sie aber nur ein einziges Mal, dann nimmt er sie auseinander, um ihre innere Struktur genau zu untersuchen, und wirft, findet er nach seiner Einbildung nicht das, was er gerade suchte, die Stücke unmutig in einen großen Kasten, der schon voll Trümmer zerlegter Violinen ist." — „Wie ist es aber mit Antonien?" frug ich schnell und heftig. — „Das ist nun", fuhr der Professor fort, „das ist nun eine Sache, die den Rat mich könnte in höchstem Grade verabscheuen lassen, wenn ich nicht überzeugt wäre, daß bei dem im tiefsten Grunde bis zur Weichlichkeit gutmütigen Charakter des Rates es damit eine besondere ge- heime Bewandtnis haben müsse. Als vor mehreren Jahren der Rat hieher nach H — kam, lebteer ana- choretisch mit einer alten Haushälterin in einem finstern Hause auf der — Straße. Bald erregte er durch seine Sonderbarkeiten die Neugierde der Nachbarn, und sogleich, als er dies merkte, suchte 202 und fand er Bekanntschaften. Eben wie in meinem Hause gewöhnte man sich überall so an ihn, daß er unentbehrlich wurde. Seines rauhen Äußern unerachtet liebten ihn sogar die Kinder, ohne ihn 2u belästigen, denn trotz aller Freundlichkeit be- hielten sie eine gewisse scheue Ehrfurcht, die ihn vor allem Zudringlichen schützte. Wie er die Kin- der durch allerlei Künste zu gewinnen weiß, haben Sie heute gesehen. Wir hielten ihn alle für einen Hagestolz, und er widersprach dem nicht. Nach- dem er sich einige Zeit hier aufgehalten, reiste er ab, niemand wußte wohin, und kam nach einigen Monaten wieder. Den andern Abend nach seiner Rückkehr waren Krespels Fenster ungewöhnlich erleuchtet; schon dies machte die Nachbarn auf- merksam, bald vernahm man aber die ganz wun- derherrliche Stimme eines Frauenzimmers, von einem Pianoforte begleitet. Dann wachten die Töne einer Violine auf und stritten in regem feu- rigen Kampfe mit der Stimme. Man hörte gleich, daß es der Rat war, der spielte. — Ich selbst mischte mich unter die zahlreiche Menge, die das wundervolle Konzert vor dem Hause des Rates versammelt hatte, und ich muß Ihnen gestehen, daß gegen die Stimme, gegen den ganz eigenen, tief in das Innerste dringenden Vortrag der Un- bekannten mir der Gesang der berühmtesten Sän- gerinnen, die ich gehört, matt und ausdruckslos schien. Nie hatte ich eine Ahnung von diesen lang ausgehaltenen Tönen, von diesen Nachtigallwir- beln, von diesem Auf- und Abwogen, von diesem Steigen bis zur Stärke des Orgellautes, von diesem Sinken bis zum leisesten Hauch. Nicht einer war, 203 den der süßeste Zauber nicht umfing, und nur leise Seufzer gingen in der tiefen Stille auf, wenn die Sängerin schwieg. Es mochte schon Mitter- nacht sein, als man den Rat sehr heftig reden hör- te; eine andere männliche Stimme schien, nach dem Tone zu urteilen, ihm Vorwürfe zu machen, dazwischen klagte ein Mädchen in abgebrochenen Reden. Heftiger und heftiger schrie der Rat, bis er endlich in jenen gedehnten singenden Ton fiel, den Sie kennen. Ein lauter Schrei des Mädchens unterbrach ihn, dann wurde es totenstille, bis plötzlich es die Treppe herabpolterte und ein jun- ger Mensch schluchzend hinausstürzte, der sich in eine nahe stehende Postchaise warf und rasch da- vonfuhr. Tags darauf erschien der Rat sehr heiter, und niemand hatte den Mut, ihn nach der Bege- benheit der vorigen Nacht zu fragen. Die Haus- hälterin sagte aber auf Befragen, daß der Rat ein bildhübsches blutjunges Mädchen mitgebracht, die er Antonie nenne, und die eben so schön ge- sungen. Auch sei ein junger Mann mitgekommen, der sehr zärtlich mit Antonien gethan und wohl ihr Bräutigam sein müsse. Der habe aber, weil es der Rat durchaus gewollt, schnell abreisen müs- sen. — In welchem Verhältnis Antonie mit dem Rat stehet, ist bis jetzt ein Geheimnis, aber so viel ist gewiß, daß er das arme Mädchen auf die ge- hässigste Weise tyrannisiert. Er bewacht sie wie der Doktor Bartolo im ,, Barbier von Sevilla" sein Mündel; kaum darf sie sich am Fenster blicken lassen. Führt er sie auf inständiges Bitten einmal in Gesellschaft, so verfolgt er sie mit Argusblicken und leidet durchaus nicht, daß sich irgend ein 204 musikalischer Ton hören lasse, viel weniger, daß Antonie singe, die übrigens auch in seinem Hause nicht mehr singen darf. Antoniens Gesang in jener Nacht ist daher unter dem Pubhkum der Stadt 2u einer Phantasie und Gemüt aufregenden Sage von einem herrlichen Wunder geworden, und selbst die, welche sie gar nicht hörten, sprechen oft, versucht sich eine Sängerin hier am Orte: ,,Was ist denn das für ein gemeines Quinkelieren? — Nur Antonie vermag 2u singen." Ihr wißt, daß ich auf solche phantastische Dinge ganz versessen bin, und könnt wohl denken, wie notwendig ich es fand, Antoniens Bekanntschaft 2u machen. Jene Äußerungen des Publikums über Antoniens Gesang hatte ich selbst schon öfters vernommen, aber ich ahnte nicht, daß die Herr- liche am Orte sei und in den Banden des wahn- sinnigen Krespels wie eines tyrannischen Zaube- rers liege. Natürücherweise hörte ich auch so- gleich in der folgenden Nacht Antoniens wunder- baren Gesang, und da sie mich in einem herrlichen Adagio (lächerUcherweise kam es mir vor, als hät- te ich es selbst komponiert) auf das rührendste beschwor, sie zu retten, so war ich bald entschlos- sen, ein zweiter Astolfo in Krespels Haus wie in Alzinens Zauberburg einzudringen und die Kö- nigin des Gesanges aus schmachvollen Banden zu befreien. Es kam alles anders, wie ich es mir gedacht hat- te; denn kaum hatte ich den Rat zwei- bis dreimal gesehen und mit ihm eifrig über die beste Struktur der Geigen gesprochen, als er mich selbst einlud, ihn in seinem Hause zu besuchen. Ich that es, und 205 er zeigte mir den Reichtum seiner Violinen. Es hingen deren wohl dreißig in einem Kabinett, unter ihnen zeichnete sich eine durch alle Spuren der hohen Altertümlichkeit (geschnitzten Löwen- kopf u. s.w.) aus, und sie schien, höher gehängt und mit einer darüber angebrachten Blumenkrone, als Königin den andern zu gebieten. ,, Diese Violine", sprach Krespel, nachdem ich ihn darum befragt, ,, diese Violine ist ein sehr merkwürdiges, wunder- bares Stück eines unbekannten Meisters, wahr- scheinlich aus Tartinis Zeiten. Ganz überzeugt bin ich, daß in der Innern Struktur etwas Beson- deres liegt, und daß, wenn ich sie zerlegte, sich mir ein Geheimnis erschließen würde, dem ich längst nachspürte, aber — lachen Sie mich nur aus, wenn Sie wollen — dies tote Ding, dem ich selbst doch nur erst Leben und Laut gebe, spricht oft aus sich selbst zu mir auf wunderliche Weise, und es war mir, da ich zum ersten Male darauf spielte, als war' ich nur der Magnetiseur, der die Somnam- bule zu erregen vermag, daß sie selbstthätig ihre innere Anschauung in Worten verkündet. — Glauben Sie ja nicht, daß ich geckhaft genug bin, von solchen Phantastereien auch nur das mindeste zu halten, aber eigen ist es doch, daß ich es nie über mich erhielt, jenes dumme tote Ding dort aufzuschneiden. Lieb ist es mir jetzt, daß ich es nicht gethan, denn seitdem Antonie hier ist, spiele ich ihr zuweilen etwas auf dieser Geige vor. — Antonie hört es gern — gar gern." Die Worte sprach der Rat mit sichtlicher Rührung, das er- mutigte mich zu den Worten: ,,0, mein bester Herr Rat, wollten Sie das nicht in meiner Gegen- 206 wart thun?" Krespel schnitt aber ein süßsaures Gesicht und sprach mit gedehntem singenden Ton: „Nein, mein bester Herr Studiosus !" Damit war die Sache abgethan. Nun mußte ich noch mit ihm allerlei zum Teil kindische Raritäten besehen; endlich griff er in ein Kistchen und holte ein zu- sammengelegtes Papier heraus, das er mir in die Hand drückte, sehr feierlich sprechend: „Sie sind ein Freund der Kunst, nehmen Sie dies Geschenk als ein teures Andenken, das Ihnen ewig über alles wert bleiben muß." Dabei schob er mich bei bei- den Schultern sehr sanft nach der Thür zu und umarmte mich an der Schwelle. Eigentlich wurde ich doch von ihm auf symbolische Weise zur Thür hinausgeworfen. Als ich das Papierchen aufmach- te, fand ich ein ungefähr ein Achtelzoll langes Stückchen einer Quinte, und dabei geschrieben: ,,Von der Quinte, womit der selige Stamitz seine Geige bezogen hatte, als er sein letztes Konzert spielte." — Die schnöde Abfertigung, als ich An- toniens erwähnte, schien mir zu beweisen, daß ich sie wohl nie zu sehen bekommen würde; dem war aber nicht so, denn als ich den Rat zum zwei- ten Male besuchte, fand ich Antonien in seinem Zimmer, ihm helfend bei dem Zusammensetzen einer Geige. Antoniens Äußeres machte auf den ersten Anblick keinen starken Eindruck, aber bald konnte man nicht loskommen von dem blauen Auge und den holden Rosenlippen der ungemein zarten, lieblichen Gestalt. Sie war sehr blaß, aber wurde etwas Geistreiches und Heiteres gesagt, so flog in süßem Lächeln ein feuriges Inkarnat über die Wangen hin, das jedoch bald im rötlichen 207 Schimmer erblaßte. Ganz unbefangen sprach ich mit Antonien und bemerkte durchaus nichts von den ArgusbHcken Krespels, wie sie der Professor ihm angedichtet hatte, vielmehr blieb er ganz in gewöhnlichem Geleise, ja er schien sogar meiner Unterhaltung mit Antonien Beifall zu geben. So geschah es, daß ich öfter den Rat besuchte, und wechselseitiges Aneinandergewöhnen dem klei- nen Kreise von uns dreien eine wunderbare Wohl- behaglichkeit gab, die uns bis ins Innerste hinein erfreute. Der Rat blieb mit seinen höchst seltsa- men Skurrilitäten mir höchst ergötzUch; aber doch war es wohl nur Antonie, die mit unwidersteh- lichem Zauber mich hinzog und mich manches ertragen ließ, dem ich sonst ungeduldig, wie ich damals war, entronnen. In das Eigentümliche, Seltsame des Rates mischte sich nämlich gar zu oft Abgeschmacktes und Langweiliges; vorzügüch zuwider war es mir aber, daß er, sobald ich das Gespräch auf Musik, insbesondere auf Gesang lenkte, er mit seinem diabolisch lächelnden Ge- sicht und seinem widrig singenden Tone einfiel, etwas ganz Heterogenes, mehrenteils Gemeines auf die Bahn bringend. An der tiefen Betrübnis, die dann aus Antoniens Blicken sprach, merkte ich wohl, daß es nur geschah, um irgend eine Aufforderung zum Gesänge mir abzuschneiden. Ich ließ nicht nach. Mit den Hindernissen, die mir der Rat entgegenstellte, wuchs mein Mut, sie zu übersteigen, ich mußte Antoniens Gesang hö- ren, um nicht in Träumen und Ahnungen dieses Gesanges zu verschwimmen. Eines Abends war Krespel bei besonders guter Laune; er hatte eine 208 alte Cremoneser Geige zerlegt und gefunden, daß der Stimmstock um eine halbe Linie schräger als sonst gestellt war. Wichtige, die Praxis bereichern- de Erfahrung I — Es gelang mir, ihn über die wahre Art des Violinenspielens ins Feuer 2u set- zen. Der großen, wahrhaftigen Sängern abge- horchte Vortrag der alten Meister, von dem Kres- pel sprach, führte von selbst die Bemerkung her- bei, daß jetzt gerade umgekehrt der Gesang sich nach den erkünstelten Sprüngen und Läufen der Instrumentalisten verbilde. ,,Was ist unsinniger", rief ich, vom Stuhle aufspringend, hin zum Piano- forte laufend und es schnell öffnend, „was ist unsinniger als solche vertrackte Manieren, welche, statt Musik zu sein, dem Tone über den Boden hingeschütteter Erbsen gleichen?" Ich sang man- che der modernen Fermaten, die hin und her lau- fen und schnurren wie ein tüchtig losgeschnürter Kreisel, einzelne schlechte Akkorde dazu anschla- gend. Übermäßig lachte Krespel und schrie: „Ha- ha ! mich dünkt, ich höre unsre deutschen Italiener oder unsere italienischen Deutschen, wie sie sich in einer Arie von Pucitta oder Portogallo oder sonst einem Maestro di Capella oder vielmehr Schiavo d'un primo uomo übernehmen." Nun, dachte ich, ist der Zeitpunkt da. „Nicht wahr", wandte ich mich zu Antonien, ,, nicht wahr, von dieser Singerei weiß Antonie nichts?" und zu- gleich intonierte ich ein herrliches, seelenvolles Lied vom alten Leonardo Leo. Da glühten Anto- niens Wangen, Himmelsglanz blitzte aus den neu- beseelten Augen, sie sprang an das Pianoforte — sie öffnete die Lippen. — Aber in demselben Au- 8 RomaDtlker 209 genblick drängte sie Krespel fort, ergriff mich bei den Schultern und schrie im kreischenden Tenor: „Söhnchen — Söhnchen — Söhnchen !" — Und gleich fuhr er fort, sehr leise singend und in höf- lich gebeugter Stellung meine Hand ergreifend: „In der That, mein höchst verehrungswürdiger Herr Studiosus, in der That, gegen alle Lebens- art, gegen alle guten Sitten würde es anstoßen, wenn ich laut und lebhaft den Wunsch äußerte, daß Ihnen hier auf der Stelle gleich der höllische Satan mit glühenden Krallenfäusten sanft das Ge- nick abstieße und Sie auf die Weise gewisser- maßen kurz expedierte; aber davon abgesehen, müssen Sie eingestehen. Liebwertester, daß es bedeutend dunkelt, und da heute keine Laterne brennt, könnten Sie, würfe ich Sie auch gerade nicht die Treppe herab, doch Schaden leiden an Ihren lieben Gebeinen. Gehen Sie fein zu Hause und erinnern Sie sich freundschaftlichst Ihres wah- ren Freundes, wenn Sie ihn etwa nie mehr — ver- stehen Sie wohl? — nie mehr zu Hause antreffen sollten !" — Damit umarmte er mich und drehte sich, mich festhaltend, langsam mit mir zur Thüre heraus, so daß ich Antonien mit keinem Blick mehr anschauen konnte. — Ihr gesteht, daß es in meiner Lage nicht möglich war, den Rat zu prügeln, welches doch eigentlich hätte geschehen müssen. Der Professor lachte mich sehr aus und versicherte, daß ich es nun mit dem Rat auf immer verdorben hätte. Den schmachtenden, ans Fenster heraufblickenden Amoroso, den verliebten Aben- teurer zu machen, dazu war Antonie mir zu wert, ich möchte sagen, zu heilig. Im Innersten zerrissen, 210 verließ ich H — ; aber wie es zu gehen pflegt, die grellen Farben des Phantasiegebildes erblaßten, und Antonie — ja selbst Antoniens Gesang, den ich nie gehört, leuchtete oft in mein tiefstes Ge- müt hinein wie ein sanfter tröstender Rosen- schimmer. Nach zwei Jahren war ich schon in B** ange- stellt, als ich eine Reise nach dem südlichen Deutschland unternahm. Im duftigen Abendrot erhoben sich die Türme von H — ; sowie ich näher und näher kam, ergriff mich ein unbeschreibliches Gefühl der peinlichsten Angst; wie eine schwere Last hatte es sich über meine Brust gelegt, ich konnte nicht atmen; ich mußte heraus aus dem Wagen ins Freie. Aber bis zum physischen Schmerz steigerte sich meine Beklemmung. Mir war es bald, als hörte ich die Akkorde eines feier- lichen Chorals durch die Lüfte schweben — die Töne wurden deutlicher, ich unterschied Männer- stimmen, die einen geistlichen Choral absangen. — ,,Was ist das? — was ist das?" rief ich, indem es wie ein glühender Dolch durch meine Brust fuhr ! — ,, Sehen Sie denn nicht", erwiderte der neben mir fahrende Postillon, „sehen Sie es denn nicht? Da drüben auf dem Kirchhof begraben sie einen !" In der That befanden wir uns in der Nähe des Kirchhofes, und ich sah einen Kreis schwarz- gekleideter Menschen um ein Grab stehen, das man zuzuschütten im Begriff stand. Die Thränen stürzten mir aus den Augen, es war, als begrübe man dort alle Lust, alle Freude des Lebens. Rasch vorwärts von dem Hügel herabgeschritten, konn- te ich nicht mehr in den Kirchhof hineinsehen, 211 der Choral schwieg, und ich bemerkte unfern des Thores schwarzgekleidete Menschen, die von dem Begräbnis zurückkamen. Der Professor mit seiner Nichte am Arm, beide in tiefer Trauer, schritten dicht bei mir vorüber, ohne mich zu bemerken. Die Nichte hatte das Tuch vor die Augen gedrückt und schluchzte heftig. Es war mir unmöglich, in die Stadt hineinzugehen, ich schickte meinen Be- dienten mit dem Wagen nach dem gewohnten Gasthofe und lief in die mir wohlbekannte Gegend heraus, um so eine Stimmung los zu werden, die vielleicht nur physische Ursachen, Erhitzung auf der Reise u.s.w. haben konnte. Als ich in die Allee kam, welche nach einem Lustorte führt, ging vor mir das sonderbarste Schauspiel auf. Rat Krespel wurde von zwei Trauermännern geführt, denen er durch allerlei seltsame Sprünge entrinnen zu wollen schien. Er war wie gewöhnlich in seinen wunderlichen grauen, selbst zugeschnittenen Rock gekleidet, nur hing von dem kleinen dreieckigen Hütchen, das er martialisch auf ein Ohr gedrückt, ein sehr langer schmaler Trauerflor herab, der in der Luft hin und her flatterte. Um den Leib hatte er ein schwarzes Degengehenk geschnallt, doch statt des Degens einen langen Violinbogen hinein- gesteckt. Eiskalt fuhr es mir durch die Glieder; der ist wahnsinnig, dacht' ich, indem ich langsam folgte. Die Männer führten den Rat bis an sein Haus, da umarmte er sie mit lautem Lachen. Sie verließen ihn, und nun fiel sein Blick auf mich, der dicht neben ihm stand. Er sah mich lange starr an, dann rief er dumpf: ,, Willkommen, Herr Stu- diosus ! — Sie verstehen es ja auch" — damit 212 packte er mich beim Arm und riß mich fort in das Haus — die Treppe herauf in das Zimmer hinein, wo die Violinen hingen. Alle waren mit schwar- zem Flor umhüllt: die Violine des alten Meisters fehlte, an ihrem Platze hing ein Cypressenkranz. — Ich wußte, was geschehen — „Antonie I ach Antonie !" schrie ich auf in trostlosem Jammer. Der Rat stand wie erstarrt mit übereinander ge- schlagenen Armen neben mir. Ich zeigte nach dem Cypressenkranz. „Als sie starb", sprach der Rat sehr dumpf und feierlich, „als sie starb, zerbrach mit dröhnendem Krachen der Stimmstock in jener Geige, und der Resonanzboden riß sich ausein- ander. Die Getreue konnte nur mit ihr, in ihr leben; sie liegt bei ihr im Sarge, sie ist mit ihr be- graben worden." — Tief erschüttert sank ich in einen Stuhl, aber der Rat fing an, mit rauhem Ton ein lustig Lied zu singen, und es war recht grau- Hch anzusehen, wie er auf einem Fuße dazu her- umsprang, und der Flor (er hatte den Hut auf dem Kopfe) im Zimmer und an den aufgehängten Vio- linen herumstrich; ja ich konnte mich eines über- lauten Schreies nicht erwehren, als der Flor bei einer raschen Wendung des Rates über mich her- fuhr; es war mir, als wollte er mich verhüllt herab- ziehen in den schwarzen entsetzlichen Abgrund des Wahnsinns. Da stand der Rat plötzlich stille und sprach in seinem singenden Ton: „Söhn- chen? — Söhnchen? — warum schreist du so; hast du den Totenengel geschaut? — das geht allemal der Zeremonie vorher !" — Nun trat er in die Mitte des Zimmers, riß den Violinbogen aus dem Gehenke, hielt ihn mit beiden Händen 213 über den Kopf und zerbrach ihn, daß er in viele Stücke zersplitterte. Laut lachend rief Krespel: „Nun ist der Stab über mich gebrochen, meinst du. Söhnchen? nicht wahr? Mit nichten, mit nich- ten, nun bin ich frei — frei — frei — heisa, frei ! — Nun bau' ich keine Geigen mehr — keine Geigen mehr — heisa, keine Geigen mehr." — Das sang der Rat nach einer schauerlich lustigen Melodie, indem er wieder auf einem Fuße herumsprang. Voll Grauen wollte ich schnell zur Thüre heraus, aber der Rat hielt mich fest, indem er sehr gelassen sprach: ,, Bleiben Sie, Herr Studiosus, halten Sie diese Ausbrüche des Schmerzes, der mich mit Todesmartern zerreißt, nicht für Wahnsinn; aber es geschieht nur alles deshalb, weil ich mir vor einiger Zeit einen Schlafrock anfertigte, in dem ich aussehen wollte wie das Schicksal oder wie Gott !" — Der Rat schwatzte tolles, grauliches Zeug durcheinander, bis er ganz erschöpft zusam- mensank; auf mein Rufen kam die alte Haushälte- rin herbei, und ich war froh, als ich mich nur wie- der im Freien befand. — Nicht einen Augenblick zweifelte ich daran, daß Krespel wahnsinnig ge- worden, der Professor behauptete jedoch das Ge- genteil. „Es gibt Menschen", sprach er, „denen die Natur oder ein besonderes Verhängnis die Decke wegzog, unter der wir andern unser tolles Wesen unbemerkter treiben. Sie gleichen dünn- gehäuteten Insekten, die im regen, sichtbaren Muskelspiel mißgestaltet erscheinen, ungeachtet sich alles bald wieder in die gehörige Form fügt. Was bei uns Gedanke bleibt, wird dem Krespel alles zur That. — Den bittern Hohn, wie der in 214 das irdische Thun und Treiben eingeschachtete Geist ihn wohl oft bei der Hand hat, führt Krespel aus in tollen Gebärden und geschickten Hasen- sprüngen. Das ist aber sein Blitzableiter. Was aus der Erde steigt, gibt er wieder der Erde, aber das Göttliche weiß er zu bewahren; und so steht es mit seinem Innern Bewußtsein recht gut, glaub' ich, unerachtet der scheinbaren nach außen her- ausspringenden Tollheit. Antoniens plötzlicher Tod mag freilich schwer auf ihn lasten, aber ich wette, daß der Rat schon morgenden Tages seinen Eselstritt im gewöhnüchen Geleise weiter fort- trabt." — Beinahe geschah es so, w^ie der Professor es vorausgesagt. Der Rat schien andern Tages ganz der vorige, nur erklärte er, daß er niemals mehr VioHnen bauen und auch auf keiner jemals mehr spielen wolle. Das hat er, wie ich später er- fuhr, gehalten. Des Professors Andeutungen bestärkten meine innere Überzeugung, daß das nähere, so sorgfältig verschwiegene Verhältnis Antoniens zum Rat, ja daß selbst ihr Tod eine schwer auf ihn lastende, nicht abzubüßende Schuld sein könne. Nicht woll- te ich H — verlassen, ohne ihm das Verbrechen, welches ich ahnete, vorzuhalten; ich wollte ihn bis ins Innerste hinein erschüttern und so das offene Geständnis der gräßlichen That erzwingen. Je mehr ich der Sache nachdachte, desto klarer wurde es mir, daß Krespel ein Bösewicht sein müsse, und desto feuriger, eindringlicher wurde die Rede, die sich wie von selbst zu einem wahren rhetorischen Meisterstück formte. So gerüstet und ganz erhitzt, lief ich zu dem Rat. Ich fand ihn, wie 215 er mit sehr ruhiger lächelnder Miene Spielsachen drechselte. „Wie kann nur", fuhr ich auf ihn los, „wie kann nur auf einen Augenblick Frieden in Ihre Seele kommen, da der Gedanke an die gräß- liche That Sie mit Schlangenbissen peinigen muß?" — Der Rat sah mich verwundert an, den Meißel beiseite legend. „Wieso, mein Bester?" fragte er; — „setzen Sie sich doch gefälligst auf jenen Stuhl !" — Aber eifrig fuhr ich fort, indem ich, mich selbst immer mehr erhitzend, ihn gera- dezu anklagte, Antonien ermordet zu haben, und ihm mit der Rache der ewigen Macht drohte. Ja, als nicht längst eingeweihte Justizperson, erfüllt von meinem Beruf, ging ich so weit, ihn zu ver- sichern, daß ich alles anwenden würde, der Sache auf die Spur zu kommen und so ihn dem weltlichen Richter schon hienieden in die Hände zu liefern. — Ich wurde in der That etwas verlegen, da nach dem Schlüsse meiner gewaltigen pomphaften Rede der Rat, ohne ein Wort zu erwidern, mich sehr ruhig anblickte, als erwarte er, ich müsse noch weiter fortfahren. Das versuchte ich auch in der That, aber es kam nun alles so schief, ja so albern heraus, daß ich gleich wieder schwieg. Krespel weidete sich an meiner Verlegenheit, ein boshaf- tes, ironisches Lächeln flog über sein Gesicht. Dann wurde er aber sehr ernst und sprach mit feierlichem Tone: „Junger Mensch! Du magst mich für närrisch, für wahnsinnig halten, das ver- zeihe ich dir, da wir beide in demselben Irrenhause eingesperrt sind, und du mich darüber, daß ich Gott der Vater zu sein wähne, nur deshalb schiltst, weil du dich für Gott den Sohn hältst; wie magst 216 du dich aber unterfangen, in ein Leben eindringen 2u wollen, seine geheimsten Fäden erfassend, das dir fremd blieb und bleiben mußte? — Sie ist da- hin, und das Geheimnis gelöst I" — Krespel hielt inne, stand auf und schritt die Stube einige Male auf und ab. Ich wagte die Bitte um Aufklärung; er sah mich starr an, faßte mich bei der Hand und führte mich an das Fenster, beide Flügel öffnend. Mit aufgestüt2ten Armen legte er sich hinaus, und so in den Garten herabblickend, erzählte er mir die Geschichte seines Lebens. — Als er geendet, verließ ich ihn gerührt und beschämt. Mit Antonien verhielt es sich kürzlich in fol- gender Art. — Vor zwanzig Jahren trieb die bis zur Leidenschaft gesteigerte Liebhaberei, die be- sten Geigen alter Meister aufzusuchen und zu kau- fen, den Rat nach Italien. Selbst baute er damals noch keine und unterließ daher auch das Zerlegen jener alten Geigen. In Venedig hörte er die be- rühmte Sängerin Angela — i, welche damals auf dem Teatro di S. Benedetto in den ersten Rollen glänzte. Sein Enthusiasmus galt nicht der Kunst allein, die Signora Angela freilich auf die herr- lichste Weise übte, sondern auch wohl ihrer En- gelsschönheit. Der Rat suchte Angelas Bekannt- schaft, und trotz aller seiner Schroffheit gelang es ihm, vorzüglich durch sein keckes und dabei höchst ausdrucksvolles Violinspiel sie ganz für sich zu gewinnen. — Das engste Verhältnis führte in wenigen Wochen zur Heirat, die deshalb ver- borgen blieb, weil Angela sich weder vom Thea- ter, noch von dem Namen, der die berühmte Sän- gerin bezeichnete, trennen oder ihm auch nur das 217 übeltönende „Krespel" hinzufügen wollte. — Mit der tollsten Ironie beschrieb Krespel die ganz eigene Art, wie Signora Angela, sobald sie seine Frau worden, ihn marterte und quälte. Aller Ei- gensinn, alles launische Wesen sämtlicher erster Sängerinnen sei, wie Krespel meinte, in Angelas kleine Figur hineingebannt worden. Wollte er sich einmal in Positur setzen, so schickte ihm Angela ein ganzes Heer von Abbates, Maestros, Akade- mikos über den Hals, die, unbekannt mit seinem eigentlichen Verhältnis, ihn als den unerträglich- sten, unhöflichsten Liebhaber, der sich in die liebenswürdige Laune der Signora nicht zu schik- ken wisse, ausfilzten. Gerade nach einem solchen stürmischen Auftritt war Krespel auf Angelas Landhaus geflohen und vergaß, auf seiner Cre- moneser Geige phantasierend, die Leiden des Ta- ges. Doch nicht lange dauerte es, als Signora, die dem Rat schnell nachgefahren, in den Saal trat. Sie war gerade in der Laune, die ZärtHche zu spielen, sie umarmte den Rat mit süßen schmach- tenden Blicken, sie legte das Köpfchen auf seine Schulter. Aber der Rat, in die Welt seiner Ak- korde verstiegen, geigte fort, daß die Wände wie- derhallten, und es begab sich, daß er mit Arm und Bogen die Signora etwas unsanft berührte. Die sprang aber voller Furie zurück; „bestia tedesca", schrie sie auf, riß dem Rat die Geige aus der Hand und zerschlug sie an dem Marmortisch in tausend Stücke. Der Rat blieb erstarrt zur Bildsäule vor ihr stehen, dann aber, wie aus dem Traume er- wacht, faßte er Signora mit Riesenstärke, warf sie durch das Fenster ihres eigenen Lusthauses und 218 floh, ohne sich weiter um etwas 2u bekümmern, nach Venedig — nach Deutschland zurück. Erst nach einiger Zeit wurde es ihm recht deutlich, was er gethan; obschon er wußte, daß die Höhe des Fensters vom Boden kaum fünf Fuß betrug, und ihm die Notwendigkeit, Signora bei obbe- wandten Umständen durchs Fenster 2u werfen, gan2 einleuchtete, so fühlte er sich doch von pein- licher Unruhe gequält, um so mehr, da Signora ihm nicht undeutlich zu verstehen gegeben, daß sie guter Hoffnung sei. Er wagte kaum Erkundi- gungen einzuziehen, und nicht wenig überraschte es ihn, als er nach ungefähr acht Monaten einen gar zärtlichen Brief von der geliebten Gattin er- hielt, worin sie jenes Vorganges im Landhause mit keiner Silbe erwähnte und der Nachricht, daß sie von einem herzallerliebsten Töchterchen ent- bunden, die herzlichste Bitte hinzufügte, daß der marito amato e padre felicissimo doch nur gleich nach Venedig kommen möge. Das that Krespel nicht, erkundigte sich vielmehr bei einem ver- trauten Freunde nach den näheren Umständen und erfuhr, daß Signora damals leicht wie ein Vogel in das weiche Gras herabgesunken sei und der Fall oder Sturz durchaus keine andere als psy- chische Folgen gehabt habe. Signora sei nämlich nach Krespels heroischer That wie umgewandelt; von Launen, närrischen Einfällen, von irgend einer Quälerei ließe sie durchaus nichts mehr ver- spüren, und der Maestro, der für das nächste Kar- neval komponiert, sei der glücklichste Mensch unter der Sonne, weil Signora seine Arien ohne hunderttausend Abänderungen, die er sich sonst 219 gefallen lassen müssen, singen wolle. Übrigens habe man alle Ursache, meinte der Freund, es sorg- fältig zu verschweigen, wie Angela kuriert wor- den, da sonst jedes Tages Sängerinnen durch die Fenster fliegen würden. Der Rat geriet nicht in geringe Bewegung, er bestellte Pferde, er setzte sich in den Wagen. „Halt !" rief er plötzlich. — „Wie", murmelte er dann in sich hinein, „ist's denn nicht ausgemacht, daß, sobald ich mich blicken lasse, der böse Geist wieder Kraft und Macht erhält über Angela? — Da ich sie schon zum Fenster herausgeworfen, was soll ich nun in gleichem Falle thun? was ist mir noch übrig?" — Er stieg wieder aus dem Wagen, schrieb einen zärtlichen Brief an seine genesene Frau, worin er höflich berührte, wie zart es von ihr sei, ausdrück- lich es zu rühmen, daß das Töchterchen gleich ihm ein kleines Mal hinter dem Ohre trage, und — blieb in Deutschland. Der Briefwechsel dauerte sehr lebhaft fort. — Versicherungen der Liebe — Einladungen — Klagen über die Abwesenheit der Geliebten — verfehlte Wünsche — Hoff"nungen U.S.W, flogen hin und her von Venedig nach H — , von H — nach Venedig. — Angela kam endlich nach Deutschland und glänzte, wie bekannt, als Prima Donna auf dem großen Theater in F**. Ungeachtet sie gar nicht mehr jung war, riß sie doch alles hin mit dem unwiderstehlichen Zauber ihres wunderbar herrhchen Gesanges. Ihre Stim- me hatte damals nicht im mindesten verloren. Antonie war indessen herangewachsen, und die Mutter konnte nicht genug dem Vater schreiben, wie in Antonien eine Sängerin vom ersten Range 220 aufblühe. In der That bestätigten dies die Freunde Krespels in F**, die ihm zusetzten, doch nur ein- mal nach F** zu kommen, um die seltne Erschei- nung zwei ganz sublimer Sängerinnen zu bewun- dern. Sie ahneten nicht, in welchem nahen Ver- hältnis der Rat mit diesem Paare stand. Krespel hätte gar zu gern die Tochter, die recht in seinem Innersten lebte, und die ihm öfters als Traumbild erschien, mit leiblichen Augen gesehen, aber sowie er an seine Frau dachte, wurde es ihm ganz un- heimlich zu Mute, und er blieb zu Hause unter seinen zerschnittenen Geigen sitzen. Ihr werdet von dem hoflfnungsvollen Kompo- nisten B ... in F** gehört haben, der plötzlich ver- scholl, man wußte nicht wie; oder kanntet Ihr ihn vielleicht selbst? Dieser verliebte sich in An- tonien so sehr, daß er, da Antonie seine Liebe recht herzlich erwiderte, die Mutter anlag, doch nur gleich in eine Verbindung zu willigen, die die Kunst heilige. Angela hatte nichts dagegen, und der Rat stimmte um so lieber bei, als des jungen Meisters Kompositionen Gnade gefunden vor seinem strengen Richterstuhl. Krespel glaubte Nachricht von der vollzogenen Heirat zu erhalten, statt derselben kam ein schwarz gesiegelter Brief von fremder Hand überschrieben. Der Doktor R.... meldete dem Rat, daß Angela an den Folgen einer Erkältung im Theater heftig erkrankt und gerade in der Nacht, als am andern Tage Antonie getraut werden sollen, gestorben sei. Ihm, dem Doktor, habe Angela entdeckt, daß sie Krespels Frau und Antonie seine Tochter sei; er möge daher eilen, sich der Verlassenen anzunehmen. So sehr auch 221 der Rat von Angelas Hinscheiden erschüttert wur- de, war es ihm doch bald, als sei ein störendes, unheimliches Prinzip aus seinem Leben gewichen, und er könne nun erst recht frei atmen. Noch denselben Tag reiste er ab nach F**. — Ihr könnt nicht glauben, wie herzzerreißend mir der Rat den Moment schilderte, als er Antonien sah. Selbst in der Bizarrerie seines Ausdrucks lag eine wun- derbare Macht der Darstellung, die auch nur an- zudeuten ich gar nicht im stände bin. — Alle Liebenswürdigkeit, alle Anmut Angelas wurde Antonien zu teil, der aber die häßliche Kehrseite ganz fehlte. Es gab kein zweideutig Pferdefüß- chen, das hin und wieder hervorgucken konnte. Der junge Bräutigam fand sich ein; Antonie, mit zartem Sinn den wunderlichen Vater im tiefsten Innern richtig auffassend, sang eine jener Motet- ten des alten Padre Martini, von denen sie wußte, daß Angela sie dem Rat in der höchsten Blüte ih- rer Liebeszeit unaufhörlich vorsingen müssen. Der Rat vergoß Ströme von Thränen, nie hatte er selbst Angela so singen hören. Der Klang von Antoniens Stimme war ganz eigentümlich und seltsam, oft dem Hauch der Äolsharfe, oft dem Schmettern der Nachtigall gleichend. Die Töne schienen nicht Raum haben za können in der menschlichen Brust. Antonie, vor Freude und Liebe glühend, sang und sang alle ihre schönsten Lieder, und B . . . spielte dazwischen, wie es nur die wonnetrunkene Begeisterung vermag. Krespel schwamm erst in Entzücken, dann wurde er nach- denklich — still — in sich gekehrt. Endlich sprang er auf, drückte Antonien an seine Brust und bat 222 sehr leise und dumpf: „Nicht mehr singen, wenn du mich liebst — es drückt mir das Herz ab — die Angst — die Angst. — Nicht mehr singen." „Nein", sprach der Rat andern Tages 2um Dok- tor R**, „als während des Gesanges ihre Röte sich 2usammen20g in zwei dunkelrote Flecke auf den blassen Wangen, da war es nicht mehr dumme Familienähnlichkeit, da war es das, was ich ge- fürchtet." — Der Doktor, dessen Miene vom An- fang des Gesprächs von tiefer Bekümmernis zeug- te, erwiderte: ,,Mag es sein, daß es von zu früher Anstrengung im Singen herrührt, oder hat die Natur es verschuldet, genug, Antonie leidet an einem organischen Fehler in der Brust, der eben ihrer Stimme die wundervolle Kraft und den selt- samen, ich möchte sagen, über die Sphäre des menschlichen Gesanges hinaustönenden Klang gibt. Aber auch ihr früher Tod ist die Folge davon, denn singt sie fort, so gebe ich ihr noch höchstens sechs Monate Zeit." Den Rat zerschnitt es im Innern wie mit hundert Schwertern. Es war ihm, als hinge zum ersten Male ein schöner Baum die wunderherrlichen Blüten in sein Leben hinein, und der solle recht an der Wurzel zersägt werden, damit er nie mehr zu grünen und zu blühen ver- möge. Sein Entschluß war gefaßt. Er sagte An- tonien alles, er stellte ihr die Wahl, ob sie dem Bräutigam folgen und seiner und der Welt Ver- lockung nachgeben, so aber früh untergehen, oder ob sie dem Vater noch in seinen alten Tagen nie gefühlte Ruhe und Freude bereiten, so aber noch jahrelang leben wolle. Antonie fiel dem Vater schluchzend in die Arme; er wollte, das Zerreißen- 223 de der kommenden Momente wohl fühlend, nichts Deutlicheres vernehmen. Er sprach mit dem Bräu- tigam, aber unerachtet dieser versicherte, daß nie ein Ton über Antoniens Lippen gehen solle, so wußte der Rat doch wohl, daß selbst B. . . nicht der Versuchung würde widerstehen können, An- tonien singen zu hören, wenigstens von ihm selbst komponierte Arien. Auch die Welt, das musika- lische Publikum, mocht' es auch unterrichtet sein von Antoniens Leiden, gab gewiß die Ansprüche nicht auf, denn dies Volk ist ja, kommt es auf Genuß an, egoistisch und grausam. Der Rat ver- schwand mit Antonien aus F** und kam nach H — . Verzweiflungsvoll vernahm B . . . die Ab- reise. Er verfolgte die Spur, holte den Rat ein und kam zugleich mit ihm nach H — . — „Nur einmal ihn sehen und dann sterben", flehte Antonie. „Sterben? — sterben?" rief der Rat in wildem Zorn, eiskalter Schauer durchbebte sein Inneres. — Die Tochter, das einzige Wesen auf der weiten Welt, das nie gekannte Lust in ihm entzündet, das allein ihn mit dem Leben versöhnte, riß sich ge- waltsam los von seinem Herzen, und er wollte, daß das Entsetzliche geschehe. — B. . , mußte an den Flügel, Antonie sang, Krespel spielte lustig die Geige, bis sich jene roten Flecke auf Antoniens Wangen zeigten. Da befahl er einzuhalten; als nun aber B. , . Abschied nahm von Antonien, sank sie plötzlich mit einem lauten Schrei zusammen. ,,Ich glaubte (so erzählte mir Krespel), ich glaubte, sie wäre, wie ich es vorausgesehen, nun wirklich tot, und blieb, da ich einmal mich selbst auf die höch- ste Spitze gestellt hatte, sehr gelassen und mit mir 224 einig. Ich faßte den B . . . , der in seiner Erstarrung schafsmäßig und albern anzusehen war, bei den Schultern und sprach (der Rat fiel in seinen sin- genden Ton): ,Da Sie, verehrungswürdigster Kla- viermeister, wie Sie gewollt und gewünscht, Ihre liebe Braut wirklich ermordet haben, so können Sie nun ruhig abgehen, es wäre denn, Sie wollten so lange gütigst verziehen, bis ich Ihnen den blanken Hirschfänger durch das Herz renne, damit so meine Tochter, die, wie Sie sehen, ziemlich verblaßt, einige Couleur bekomme durch Ihr sehr wertes Blut. — Rennen Sie nur geschwind, aber ich könnte Ihnen auch ein flinkes Messerchen nachwerfen !' — Ich muß wohl bei diesen Worten etwas graulich ausgesehen haben; denn mit einem Schrei des tiefsten Entsetzens sprang er, sich von mir losreißend, fort durch die Thüre, die Treppe herab." — Wie der Rat nun, nachdem B . . . fort- gerannt war, Antonien, die bewußtlos auf der Er- de lag, aufrichten wollte, öffnete sie tiefseufzend die Augen, die sich aber bald wieder zum Tode zu schließen schienen. Da brach Krespel aus in lautes, trostloses Jammern. Der von der Haus- hälterin herbeigerufene Arzt erklärte Antoniens Zustand für einen heftigen, aber nicht im min- desten gefährlichen Zufall, und in der That er- holte sich diese auch schneller, als der Rat es nur zu hoffen gewagt hatte. Sie schmiegte sich nun mit der innigsten kindlichsten Liebe an Krespel; sie ging ein in seine Lieblingsneigungen — in seine tollen Launen und Einfälle. Sie half ihm alte Gei- gen auseinanderlegen und neue zusammenleimen. ,,Ich will nicht mehr singen, aber für dich leben", 225 sprach sie oft lächelnd 2um Vater, wenn jemand sie zum Gesänge aufgefordert und sie es abge- schlagen hatte. Solche Momente suchte der Rat indessen ihr soviel möglich zu ersparen, und daher kam es, daß er ungern mit ihr in Gesellschaft ging und alle Musik sorgfältig vermied. Er wußte es ja wohl, wie schmerzlich es Antonien sein mußte, der Kunst, die sie in solch hoher Vollkommenheit geübt, ganz zu entsagen. Als der Rat jene wunder- bare Geige, die er mit Antonien begrub, gekauft hatte und zerlegen wollte, blickte ihn Antonie sehr wehmütig an und sprach leise bittend: „Auch diese?" — Der Rat wußte selbst nicht, welche un- bekannte Macht ihn nötigte, die Geige unzer- schnitten zu lassen und darauf zu spielen. Kaum hatte er die ersten Töne angestrichen, als Antonie laut und freudig rief: „Ach, das bin ich ja — ich singe ja wieder." Wirklich hatten die silberhellen Glockentöne des Instruments etwas ganz eigenes Wundervolles, sie schienen in der menschüchen Brust erzeugt. Krespel wurde bis in das Innerste gerührt, er spielte wohl herrlicher als jemals, und wenn er in kühnen Gängen mit voller Kraft, mit tiefem Ausdruck auf und nieder stieg, dann schlug Antonie die Hände zusammen und rief entzückt: ,,Ach, das habe ich gut gemacht ! das habe ich gut gemacht !" — Seit dieser Zeit kam eine große Ru- he und Heiterkeit in ihr Leben. Oft sprach sie zum Rat: „Ich möchte wohl etwas singen, Vater 1" Dann nahm Krespel die Geige von der Wand und spielte Antoniens schönste Lieder, sie war recht aus dem Herzen froh. — Kurz vor meiner An- kunft war es in einer Nacht dem Rat so, als höre 226 er im Nebenzimmer auf seinem Pianoforte spielen, und bald unterschied er deutlich, daß B . . . nach gewöhnlicher Art präludiere. Er wollte aufstehen, aber wie eine schwere Last lag es auf ihm, wie mit eisernen Banden gefesselt vermochte er sich nicht 2u regen und zu rühren. Nun fiel Antonie ein in leisen hingehauchten Tönen, die immer steigend und steigend zum schmetternden Fortissimo wur- den, dann gestalteten sich die wunderbaren Laute zu dem tief ergreifenden Liede, welches B . . . einst ganz im frommen Stil der alten Meister für Anto- nie komponiert hatte. Krespel sagte, unbegreiflich sei der Zustand gewesen, in dem er sich befunden, denn eine entsetzliche Angst habe sich gepaart mit nie gefühlter Wonne. Plötzlich umgab ihn eine blendende Klarheit, und in derselben erblickte er B . . . und Antonien, die sich umschlungen hielten und sich voll seligem Entzücken anschauten. Die Töne des Liedes und des begleitenden Pianofortes dauerten fort, ohne daß Antonie sichtbar sang oder B . . . das Fortepiano berührte. Der Rat fiel nun in eine Art dumpfer Ohnmacht, in der das Bild mit den Tönen versank. Als er erwachte, war ihm noch jene fürchterliche Angst aus dem Trau- me geblieben. Er sprang in Antoniens Zimmer. Sie lag mit geschlossenen Augen, mit holdselig lächelndem Blick, die Hände fromm gefaltet, auf dem Sofa, als schliefe sie und träume von Him- melswonne und Freudigkeit. Sie war aber tot. 227 JOSEPH VON EICHENDORFF. Aus dem Leben eines Taugenichts. Das Rad an meines Vaters Mühle brauste und rauschte schon wieder recht lustig, der Schnee tröpfelte emsig vom Dache, die SperHnge zwit- scherten und tummelten sich dazwischen; ich saß auf der Türschwelle und wischte mir den Schlaf aus den Augen; mir war aber so recht wohl in dem warmen Sonnenscheine. Da trat der Vater aus dem Hause; er hatte schon seit Tagesanbruch in der Mühle rumort und die Schlafmütze schief auf dem Kopfe, der sagte zu mir: ,,Du Taugenichts! da sonnst du dich schon wieder und dehnst und reckst dir die Knochen müde und läßt mich alle Arbeit allein tun. Ich kann dich hier nicht länger füttern. Der Frühling ist vor der Tür, geh auch einmal hinaus in die Welt und erwirb dir selber dein Brot." „Nun," sagte ich, ,,wenn ich ein Taugenichts bin, so ists gut, so will ich in die Welt gehn und mein Glück machen." Und eigentlich war mir das recht lieb, denn es war mir kurz vorher selber ein- gefallen, auf Reisen zu gehn, da ich die Goldam- mer, welche im Herbst und Winter immer betrübt an unserm Fenster sang: Bauer, miet mich, Bauer, miet mich ! nun in der schönen Frühlingszeit wie- der ganz stolz und lustig vom Baume rufen hörte: Bauer, behalt deinen Dienst ! — Ich ging also in das Haus hinein und holte meine Geige, die ich recht artig spielte, von der Wand, mein Vater gab mir noch einige Groschen Geld mit auf den Weg, 228 und so schlenderte ich durch das lange Dorf hin- aus. Ich hatte recht meine heimliche Freude, als ich da alle meine alten Bekannten und Kameraden rechts und hnks, wie gestern und vorgestern und immerdar, zur Arbeit hinausziehen, graben und pflügen sah, während ich so in die freie Welt hin- ausstrich. Ich rief den armen Leuten nach allen Seiten recht stolz und zufrieden Adjes zu, aber es kümmerte sich eben keiner sehr darum. Mir war es wie ein ewiger Sonntag im Gemüte. Und als ich endlich ins freie Feld hinauskam, da nahm ich meine Hebe Geige vor und spielte und sang, auf der Landstraße fortgehend: Wem Gott will rechte Gunst erweisen, Den schickt er in die weite Welt, Dem will er seine Wunder weisen In Berg und Wald und Strom und Feld. Die Trägen, die zu Hause liegen. Erquicket nicht das Morgenrot, Sie wissen nur vom Kinderwiegen, Von Sorgen, Last und Not um Brot. Die Bächlein von den Bergen springen. Die Lerchen schwirren hoch vor Lust, Was sollt ich nicht mit ihnen singen Aus voller Kehl und frischer Brust? Den lieben Gott laß ich nur walten; Der Bächlein, Lerchen, Wald und Feld Und Erd und Himmel will erhalten. Hat auch mein Sach aufs best bestellt ! 229 Indem, wie ich mich so umsehe, kommt ein köstlicher Reisewagen ganz nahe an mich heran, der mochte wohl schon einige Zeit hinter mir drein gefahren sein, ohne daß ich es merkte, weil mein Herz so voller Klang war, denn es ging ganz langsam, und zwei vornehme Damen steckten die Köpfe aus dem Wagen und hörten mir zu. Die eine war besonders schön und jünger als die an- dere, aber eigentüch gefielen sie mir alle beide. Als ich nun aufhörte zu singen, ließ die ältere still- halten und redete mich holdselig an: ,,Ei, lustiger Gesell, Er weiß ja recht hübsche Lieder zu singen." Ich nicht zu faul dagegen: „Ew. Gnaden aufzu- warten, wüßt ich noch viel schönere." Darauf fragte sie mich wieder: ,, Wohin wandert Er denn schon so am frühen Morgen?" Da schämte ich mich, daß ich das selber nicht wußte, und sagte dreist: ,,Nach Wien"; nun sprachen beide mitein- ander in einer fremden Sprache, die ich nicht ver- stand. Die jüngere schüttelte einigemal mit dem Kopfe, die andere lachte aber in einem fort und rief mir endlich zu: „Spring Er nur hinten mit auf, wir fahren auch nach Wien." Wer war froher als ich ! Ich machte eine Reverenz und war mit einem Sprunge hinter dem Wagen, der Kutscher knallte, und wir flogen über die glänzende Straße fort, daß mir der Wind am Hute pfiff. Hinter mir gingen nun Dorf, Gärten und Kirch- türme unter, vor mir neue Dörfer, Schlösser und Berge auf; unter mir Saaten, Büsche und Wiesen bunt vorüberfliegend, über mir unzählige Lerchen in der klaren blauen Luft — ich schämte mich, laut zu schreien, aber innerlichst jauchzte ich und 230 strampelte und tanzte auf dem Wagentritt herum, daß ich bald meine Geige verloren hätte, die ich unterm Arme hielt. Wie aber dann die Sonne im- mer höher stieg, rings am Horizont schwere weiße Mittagswolken aufstiegen und alles in der Luft und auf der weiten Fläche so leer und schwül und still wurde über den leise wogenden Kornfeldern, da fiel mir erst wieder mein Dorf ein und mein Vater und unsere Mühle, wie es da so heimUch kühl war an dem schattigen Weiher und daß nun alles so weit, weit hinter mir lag. Mir war dabei so kurios zumute, als müßte ich wieder umkehren; ich steckte meine Geige zwischen Rock und We- ste, setzte mich voller Gedanken auf den Wagen- tritt hin und schlief ein. Als ich die Augen aufschlug, stand der Wagen still unter hohen Lindenbäumen, hinter denen eine breite Treppe zwischen Säulen in ein präch- tiges Schloß führte. Seitwärts durch die Bäume sah ich die Türme von Wien. Die Damen waren, wie es schien, längst ausgestiegen, die Pferde ab- gespannt. Ich erschrak sehr, da ich auf einmal so allein saß, und sprang geschwind in das Schloß hinein, da hörte ich von oben aus dem Fenster lachen. In diesem Schlosse ging es mir wunderlich. Zu- erst, wie ich mich in der weiten kühlen Vorhalle umschaue, klopft mir jemand mit dem Stocke auf die Schulter. Ich kehre mich schnell um, da steht ein großer Herr in Staats kleidern, ein breites Ban- delier von Gold und Seide bis an die Hüften über- gehängt, mit einem oben versilberten Stab in der Hand und einer außerordentlich langen geboge- 231 nen kurfürstlichen Nase im Gesicht, breit und prächtig wie ein aufgeblasener Puter, der mich fragt, was ich hier will. Ich war ganz verblüfft und konnte vor Schreck und Erstaunen nichts hervor- bringen. Daraufkamen mehrere Bediente die Trep- pe herauf und herunter gerannt, die sagten gar nichts, sondern sahen mich nur von oben bis un- ten an. Sodann kam eine Kammerjungfer (wie ich nachher hörte) gerade auf mich los und sagte: ich wäre ein scharmanter Junge, und die gnädigste Herrschaft ließe mich fragen, ob ich hier als Gärt- nerbursche dienen wollte. — Ich griff nach der Weste; meine paar Groschen, weiß Gott, sie müs- sen beim Herumtanzen auf dem Wagen aus der Tasche gesprungen sein, waren weg, ich hatte nichts als mein Geigenspiel, für das mir überdies auch der Herr mit dem Stabe, wie er mir im Vor- beigehen sagte, nicht einen Heller geben wollte. Ich sagte daher in meiner Herzensangst zu der Kammerjungfer: ,,Ja," noch immer die Augen von der Seite auf die unheimliche Gestalt gerichtet, die immerfort wie der Perpendikel einer Turmuhr in der Halle auf und ab wandelte und eben wieder majestätisch und schauerlich aus dem Hintergrun- de heraufgezogen kam. Zuletzt kam endlich der Gärtner, brummte was von Gesindel und Bauer- lümmcl unterm Bart und führte mich nach dem Garten, während er mir unterwegs noch eine lange Predigt hielt: wie ich nur fein nüchtern und arbeit- sam sein, nicht in der Welt herumvagieren, keine brotlosen Künste und unnützes Zeug treiben sol- le, da könnt ich es mit der Zeit auch einmal zu was Rechtem bringen. — Es waren noch mehr sehr 232 hübsche, gutgesetzte, nützliche Lehren, ich habe nur seitdem fast alles wieder vergessen. Überhaupt weiß ich eigentlich gar nicht recht, wie doch alles so gekommen war, ich sagte nur immerfort zu allem: „Ja", — denn mir war wie einem Vogel, dem die Flügel begossen worden sind. — So war ich denn, Gott sei Dank, im Brote. — In dem Garten war schön leben, ich hatte täg- lich mein warmes Essen vollauf und mehr Geld, als ich zum Weine brauchte, nur hatte ich leider ziemHch viel zu tun. Auch die Tempel, Lauben und schönen grünen Gänge, das gefiel mir alles recht gut, wenn ich nur hätte ruhig drin herum- spazieren können und vernünftig diskurrieren wie die Herren und Damen, die alle Tage dahin ka- men. Sooft der Gärtner fort und ich allein war, zog ich sogleich mein kurzes Tabakspfeifchen her- aus, setzte mich hin und sann auf schöne höfliche Redensarten, wie ich die eine junge schöne Dame, die mich in das Schloß mitbrachte, unterhalten wollte, wenn ich ein Kavalier wäre und mit ihr hier herumginge. Oder ich legte mich an schwülen Nachmittagen auf den Rücken hin, wenn alles so still war, daß man nur die Bienen sumsen hörte, und sah zu, wie über mir die Wolken nach meinem Dorfe zuflogen und die Gräser und Blumen sich hin und her bewegten, und gedachte an die Dame, und da geschah es denn oft, daß die schöne Frau mit der Gitarre oder einem Buche in der Ferne wirklich durch den Garten zog, so still, groß und freundlich wie ein Engelsbild, so daß ich nicht recht wußte, ob ich träumte oder wachte. So sang ich auch einmal, wie ich eben bei einem 233 Lusthause zur Arbeit vorbeiging, für mich hin: Wohin ich geh und schaue, In Feld und Wald und Tal, Vom Berg ins Himmelsbläue^ Vielschöne gnädge Fraue, Grüß ich dich tausendmal. Da seh ich aus dem dunkelkühlen Lusthause zwischen den halbgeöffneten Jalousieen und Blu- men, die dort standen, zwei schöne, junge, frische Augen hervorfunkeln. Ich war ganz erschrocken, ich sang das Lied nicht aus, sondern ging, ohne mich umzusehen, fort an die Arbeit. Abends, es war gerade an einem Sonnabend, und ich stand eben in der Vorfreude kommenden Sonntags mit der Geige im Gartenhause am Fen- ster und dachte noch an die funkelnden Augen, da kommt auf einmal die Kammer] ungfer durch die Dämmerung dahergestrichen. ,,Da schickt Euch die vielschöne gnädige Frau was, das sollt Ihr auf ihre Gesundheit trinken. Eine gute Nacht auch !" Damit setzte sie mir fix eine Flasche Wein aufs Fenster und war sogleich wieder zwischen den Blumen und Hecken verschwunden wie eine Eidechse. Ich aber stand noch lange vor der wundersamen Flasche und wußte nicht, wie mir geschehen war. — Und hatte ich vorher lustig die Geige gestri- chen, so spielt und sang ich jetzt erst recht und sang das Lied von der schönen Frau ganz aus und alle meine Lieder, die ich nur wußte, bis alle Nach- tigallen draußen erwachten und Mond und Sterne schon lange über dem Garten standen. Ja, das war einmal eine gute schöne Nacht ! 234 Es wird keinem an der Wiege gesungen, was künftig aus ihm wird, eine blinde Henne findet manchmal auch ein Korn, wer 2ulet2t lacht, lacht am besten, unverhofft kommt oft, der Mensch denkt und Gott lenkt, so meditiert ich, als ich am folgenden Tage wieder mit meiner Pfeife im Gar- ten saß und es mir dabei, da ich so aufmerksam an mir heruntersah, fast vorkommen wollte, als wäre ich doch eigentlich ein rechter Lump, — Ich stand nunmehr, ganz wider meine sonstige Gewohn- heit, alle Tage sehr zeitig auf, eh sich noch der Gärtner und die andern Arbeiter rührten. Da war es so wunderschön draußen im Garten. Die Blu- men, die Springbrunnen, die Rosenbüsche und der ganze Garten funkelten von der Morgensonne wie lauter Gold und Edelstein. Und in den hohen Buchenalleen, da war es noch so still, kühl und andächtig wie in einer Kirche, nur die Vögel flat- terten und pickten auf dem Sande. Gleich vor dem Schlosse, gerade unter den Fenstern, wo die schö- ne Frau wohnte, war ein blühender Strauch. Dort- hin ging ich dann immer am frühesten Morgen und duckte mich hinter die Äste, um so nach den Fenstern zu sehen, denn mich im Freien zu pro- duzieren, hatt ich keine Courage. Da sah ich nun allemal die allerschönste Dame noch heiß und halb verschlafen im schneeweißen Kleid an das offene Fenster hervortreten. Bald flocht sie sich die dun- kelbraunen Haare und ließ dabei die anmutig spie- lenden Augen über Busch und Garten ergehen, bald bog und band sie die Blumen, die vor ihrem Fenster standen, oder sie nahm auch die Gitarre in den weißen Arm und sang dazu so wundersam 235 über den Garten hinaus, daß sich mir noch das Herz umwenden will vor Wehmut, wenn mir eins von den Liedern bisweilen einfällt — und ach, das alles ist schon lange her ! So dauerte das wohl über eine Woche. Aber das eine Mal, sie stand gerade wieder am Fenster, und alles war stille ringsumher, fliegt mir eine fatale Fliege in die Nase, und ich gebe mich an ein er- schrecküches Niesen, das gar nicht enden will. Sie legt sich weit zum Fenster hinaus und sieht mich Ärmsten hinter dem Strauche lauschen. — Nun schämte ich mich und kam viele Tage nicht hin. Endhch wagte ich es wieder, aber das Fenster blieb diesmal zu, ich saß vier, fünf, sechs Morgen hinter dem Strauche, aber sie kam nicht wieder ans Fenster. Da wurde mir die Zeit lang, ich faßte mir ein Herz und ging nun alle Morgen frank und frei längs dem Schlosse unter allen Fenstern hin. Aber die liebe schöne Frau bheb immer und immer aus. Eine Strecke weiter sah ich dann immer die andere Dame am Fenster stehen. Ich hatte sie sonst so genau noch niemals gesehen. Sie war wahrhaf- tig recht schön rot und dick und gar prächtig und hoffärtig anzusehn wie eine Tulipane. Ich machte ihr immer ein tiefes Kompliment, und, ich kann nicht anders sagen, sie dankte mir jedesmal und nickte und bünzelte mit den Augen dazu ganz außerordentlich höflich. — Nur ein einziges Mal glaub ich gesehn zu haben, daß auch die Schöne an ihrem Fenster hinter der Gardine stand und versteckt hervorguckte. — Viele Tage gingen jedoch ins Land, ohne daß ich sie sah. Sie kam nicht mehr in den Garten, sie 236 kam nicht mehr ans Fenster. Der Gärtner schalt mich einen faulen Bengel, ich war verdrießlich, meine eigene Nasenspitze war mir im Wege, wenn ich in Gottes freie Welt hinaussah. So lag ich eines Sonntags nachmittag im Garten und ärgerte mich, wie ich so in die blauen Wolken meiner Tabakspfeife hinaussah, daß ich mich nicht auf ein anderes Handwerk gelegt und mich also morgen nicht auch wenigstens auf einen blauen Montag zu freuen hätte. Die andern Burschen waren indes alle wohlausstaffiert nach den Tanz- böden in der nahen Vorstadt hinausgezogen. Da wallte und wogte alles im Sonntagsputze in der warmen Luft zwischen den lichten Häusern und wandernden Leierkästen schwärmend hin und zu- rück. Ich aber saß wie eine Rohrdommel im Schil- fe eines einsamen Weihers im Garten und schau- kelte mich auf dem Kahne, der dort angebunden war, während die Vesperglocken aus der Stadt über den Garten herüberschallten und die Schwä- ne auf dem Wasser langsam neben mir hin und her zogen. Mir war zum Sterben bange. — Währenddes hörte ich von weitem allerlei Stim- men, lustiges Durcheinandersprechen und Lachen, immer näher und näher, dann schimmerten rot und weiße Tücher, Hüte und Federn durchs Grüne, auf einmal kommt ein heller lichter Haufen von jungen Herren und Damen vom Schlosse über die Wiese auf mich los, meine beiden Damen mitten unter ihnen. Ich stand auf und wollte weggehen, da erbückte mich die ältere von den schönen Da- men. ,,Ei, das ist ja wie gerufen," rief sie mir mit lachendem Munde zu, „fahr Er uns doch an das 237 jenseitige Ufer über den Teich !" Die Damen stie- gen nun eine nach der andern vorsichtig und furchtsam in den Kahn, die Herren halfen ihnen dabei und machten sich ein wenig groß mit ihrer Kühnheit auf dem Wasser. Als sich darauf die Frauen alle auf die Seitenbänke gelagert hatten, stieß ich vom Ufer. Einer von den jungen Herren, der ganz vorn stand, fing unmerklich an zu schau- keln. Da wandten sich die Damen furchtsam hin und her, einige schrieen gar. Die schöne Frau, welche eine Lilie in der Hand hielt, saß dicht am Bord des Schiffleins und sah so still lächelnd in die klaren Wellen hinunter, die sie mit der Liüe be- rührte, so daß ihr ganzes Bild zwischen den wider- scheinenden Wolken und Bäumen im Wasser noch einmal zu sehen war, wie ein Engel, der leise durch den tiefen blauen Himmelsgrund zieht. Wie ich noch so auf sie hinsehe, fällts auf ein- mal der andern lustigen Dicken von meinen Da- men ein, ich sollte ihr während der Fahrt eins sin- gen. Geschwind dreht sich ein sehr zierlicher jun- ger Herr mit einer Brille auf der Nase, der neben ihr saß, zu ihr herum, küßt ihr sanft die Hand und sagt: „Ich danke Ihnen für den sinnigen Einfall! ein Volkslied, gesungen vom Volk in freiem Feld und Wald, ist ein Alpenröslein auf der Alpe selbst — die Wunderhörner sind nur Herbarien — ist die Seele der Nationalseele." Ich aber sagte, ich wisse nichts zu singen, was für solche Herrschaf- ten schön genug wäre. Da sagte die schnippische Kammer Jungfer, die mit einem Korbe voll Tassen und Flaschen hart neben mir stand und die ich bis jetzt noch gar nicht bemerkt hatte: „Weiß Er doch 238 ein recht hübsches Liedchen von einer vielschönen Fraue." — „Ja, ja, das sing Er nur recht dreist weg", rief darauf sogleich die Dame wieder. Ich wurde über und über rot. — Indem blickte auch die schöne Frau auf einmal vom Wasser auf und sah mich an, daß es mir durch Leib und Seele ging. Da besann ich mich nicht lange, faßt ein Herz und sang so recht aus voller Brust und Lust: Wohin ich geh und schaue. In Feld und Wald und Tal, Vom Berg hinab in die Aue: Vielschöne, hohe Fraue, Grüß ich dich tausendmal. In meinem Garten find ich Viel Blumen, schön und fein. Viel Kränze wohl draus wind ich. Und tausend Gedanken bind ich Und Grüße mit darein. Ihr darf ich keinen reichen, Sie ist zu hoch und schön. Die müssen alle verbleichen. Die Liebe nur ohnegleichen Bleibt ewig im Herzen stehn. Ich schein wohl froher Dinge Und schaffe auf und ab. Und ob das Herz zerspringe. Ich grabe fort und singe Und grab mir bald mein Grab. 239 Wir stießen ans Land, die Herrschaften stiegen alle aus, viele von den jungen Herren hatten mich, ich bemerkte es wohl, während ich sang, mit listi- gen Mienen und Flüstern verspottet vor den Da- men. Der Herr mit der Brille faßte mich im Weg- gehen bei der Hand und sagte mir, ich weiß selbst nicht mehr was, die ältere von meinen Damen sah mich sehr freundlich an. Die schöne Frau hatte während meines ganzen Liedes die Augen nieder- geschlagen und ging nun auch fort und sagte gar nichts. — Mir aber standen die Tränen in den Augen, schon wie ich noch sang, das Herz wollte mir zerspringen von dem Liede vor Scham und vor Schmerz, es fiel mir jetzt auf einmal alles recht ein, wie sie so schön ist und ich so arm bin und verspottet und verlassen von der Welt, — und als sie alle hinter den Büschen verschwunden waren, da könnt ich mich nicht länger halten, ich warf 'mich in das Gras hin und weinte bitterlich. Dicht am herrschaftlichen Garten ging die Land- straße vorüber, nur durch eine hohe Mauer von derselben geschieden. Ein gar sauberes Zoll- häuschen mit rotem Ziegeldache war da erbaut, und hinter demselben ein kleines, bunt umzäuntes Blumengärtchen, das durch eine Lücke in der Mauer des Schloßgartens hindurch an den schat- tigsten und verborgensten Teil des letzteren stieß. Dort war eben der Zolleinnehmer gestorben, der das alles sonst bewohnte. Da kam eines Morgens frühzeitig, da ich noch im tiefsten Schlafe lag, der Schreiber vom Schlosse zu mir und rief mich schleunigst zum Herrn Amtmann. Ich zog mich 240 geschwind an und schlenderte hinter dem lustigen Schreiber her, der unterwegs bald da, bald dort eine Blume abbrach und vorn an den Rock steckte, bald mit seinem Spa2ierstöckchen künstlich in der Luft herumfocht und allerlei zu mir in den Wind hineinparlierte, wovon ich aber nichts verstand, weil mir die Augen und Ohren noch voller Schlaf lagen. Als ich in die Kanzlei trat, wo es noch gar nicht recht Tag war, sah der Amtmann hinter einem ungeheuren Tintenfasse und Stößen von Papier und Büchern und einer ansehnHchen Pe- rücke, wie die Eule aus ihrem Nest, auf mich und hob an: „Wie heißt Er? Woher ist Er? Kann Er schreiben, lesen und rechnen?" Da ich das bejahte, versetzte er: „Na, die gnädige Herrschaft hat Ihm, in Betrachtung Seiner guten Aufführung und be- sonderen Meriten, die ledige Einnehmerstelle zu- gedacht." — Ich überdachte in der Geschwindig- keit für mich meine bisherige Aufführung und Manieren, und ich mußte gestehen, ich fand am Ende selber, daß der Amtmann recht hatte. — Und so war ich denn wirkUch Zolleinnehmer, ehe ich michs versah. Ich bezog nun sogleich meine neue Wohnung und war in kurzer Zeit eingerichtet. Ich hatte noch mehrere Gerätschaften gefunden, die der seUge Einnehmer seinem Nachfolger hinterlassen, unter andern einen prächtigen roten Schlafrock mit gel- ben Punkten, grüne Pantoffeln, eine Schlafmütze und einige Pfeifen mit langen Röhren. Das alles hatte ich mir schon einmal gewünscht, als ich noch zu Hause war, wo ich immer unsern Pfarrer so bequem herum gehen sah. Den ganzen Tag (zu 9 Romantiktr 241 tun hatte ich weiter nichts) saß ich daher auf dem Bänkchen vor meinem Hause in Schlafrock und Schlafmütze, rauchte Tabak aus dem längsten Rohre, das ich von dem seligen Einnehmer vor- gefunden hatte, und sah zu, wie die Leute auf der Landstraße hin und her gingen, fuhren und ritten. Ich wünschte nur immer, daß auch einmal ein paar Leute aus meinem Dorfe, die immer sagten, aus mir würde mein Lebtag nichts, hier vorüber- kommen und mich so sehen möchten. — Der Schlafrock stand mir schön zu Gesichte, und über- haupt das alles behagte mir sehr gut. So saß ich denn da und dachte mir mancherlei hin und her, wie aller Anfang schwer ist, wie das vornehmere Leben doch eigentlich recht bequem sei, und faßte heimlich den Entschluß, nunmehr alles Reisen zu lassen, auch Geld zu sparen wie die andern und es mit der Zeit gewiß zu etwas Großem in der Welt zu bringen. Inzwischen vergaß ich über mei- nen Entschlüssen, Sorgen und Geschäften die allerschönste Frau keineswegs. Die Kartoffeln und anderes Gemüse, das ich in meinem kleinen Gärtchen fand, warf ich hinaus und bebaute es ganz mit den auserlesensten Blu- men, worüber mich der Portier vom Schlosse mit der großen kurfürstlichen Nase, der, seitdem ich hier wohnte, oft zu mir kam und mein intimer Freund geworden war, bedenkÜch von der Seite ansah und mich für einen hielt, den sein plötzliches Glück verrückt gemacht hätte. Ich aber ließ mich das nicht anfechten. Denn nicht weit von mir im herrschaftlichen Garten hörte ich feine Stimmen sprechen, unter denen ich die meiner schönen Frau 242 2U erkennen meinte, obgleich ich wegen des dich- ten Gebüsches niemand sehen konnte. Da band ich denn alle Tage einen Strauß von den schön- sten Blumen, die ich hatte, stieg jeden Abend, wenn es dunkel wurde, über die Mauer und legte ihn auf einen steinernen Tisch hin, der dort inmit- ten einer Laube stand; und jeden Abend, wenn ich den neuen Strauß brachte, war der alte von dem Tische fort. Eines Abends war die Herrschaft auf die Jagd geritten; die Sonne ging eben unter und bedeckte das ganze Land mit Glanz und Schimmer, die Donau schlängelte sich prächtig wie von lauter Gold und Feuer in die weite Ferne, von allen Bergen bis tief ins Land hinein sangen und jauchzten die Winzer. Ich saß mit dem Portier auf dem Bänkchen vor meinem Hause und freute mich in der lauen Luft, wie der lustige Tag so langsam vor uns verdunkelte und verhallte. Da ließen sich auf einmal die Hörner der zurück- kehrenden Jäger von ferne vernehmen, die von den Bergen gegenüber einander von Zeit zu Zeit lieblich Antwort gaben. Ich war recht im inner- sten Herzen vergnügt und sprang auf und rief wie bezaubert und verzückt vor Lust: ,,Nein, das ist mir doch ein Metier, die edle Jägerei !" Der Por- tier aber klopfte sich ruhig die Pfeife aus und sagte: ,,Das denkt Ihr Euch just so. Ich habe es auch mitgemacht, man verdient sich kaum die Sohlen, die man sich abläuft; und Husten und Schnupfen wird man erst gar nicht los, das kommt von den ewig nassen Füßen." — Ich weiß nicht, mich packte da ein närrischer Zorn, daß ich or- dentHch am ganzen Leibe zitterte. Mir war auf 243 einmal der ganze Kerl mit seinem langweiligen Mantel, die ewigen Füße, sein Tabaksschnupfen, die große Nase und alles abscheulich. — Ich faßte ihn, wie außer mir, bei der Brust und sagte: ,, Por- tier, jetzt schert Ihr Euch nach Hause, oder ich prügle Euch hier sogleich durch !" Den Portier überfiel bei diesen Worten seine alte Meinung, ich wäre verrückt geworden. Er sah mich bedenklich und mit heimlicher Furcht an, machte sich, ohne ein Wort zu sprechen, von mir los und ging, immer noch unheimUch nach mir zurückblickend, mit langen Schritten nach dem Schlosse, wo er atemlos aussagte, ich sei nun wirklich rasend ge- worden. Ich aber mußte am Ende laut auflachen und war herzlich froh, den superklugen Gesellen los zu sein, denn es war gerade die Zeit, wo ich den Blumenstrauß immer in die Laube zu legen pfleg- te. Ich sprang auch heute schnell über die Mauer und ging eben auf das steinerne Tischchen los, als ich in einiger Entfernung Pferdetritte vernahm. Entspringen könnt ich nicht mehr, denn schon kam meine schöne gnädige Frau selber, in einem grünen Jagdhabit und mit nickenden Federn auf dem Hute, langsam und, wie es schien, in tiefen Gedanken die Allee herabgeritten. Es war mir nicht anders zumute, als da ich sonst in den alten Büchern bei meinem Vater von der schönen Ma- gelone gelesen, wie sie so zwischen den immer näher schallenden Waldhornsklängen und wech- selnden Abendlichtern unter den hohen Bäumen hervorkam, — ich konnte nicht vom Fleck. Sie aber erschrak heftig, als sie mich auf einmal ge- 244 wahr wurde, und hielt fast unwillkürlich still. Ich war wie betrunken vor Angst, Herzklopfen und großer Freude, und da ich bemerkte, daß sie wirk- lich meinen Blumenstrauß von gestern an der Brust hatte, konnte ich mich nicht länger halten, sondern sagte ganz verwirrt: ,, Schönste gnädige Frau, nehmt auch noch diesen Blumenstrauß von mir und alle Blumen aus meinem Garten und alles, was ich habe. Ach, könnt ich nur für Euch ins Feuer springen !" — Sie hatte mich gleich an- fangs so ernsthaft und fast böse angeblickt, daß es mir durch Mark und Bein ging, dann aber hielt sie, solange ich redete, die Augen tief nieder- geschlagen. Soeben ließen sich einige Reiter und Stimmen im Gebüsch hören. Da ergriff sie schnell den Strauß aus meiner Hand und war bald, ohne ein Wort zu sagen, am andern Ende des Bogen- ganges verschwunden. Seit diesem Abend hatte ich weder Ruh noch Rast mehr. Es war mir beständig zumute wie sonst immer, wenn der Frühling anfangen sollte, so unruhig und fröhlich, ohne daß ich wußte, warum, als stünde mir ein großes Glück oder sonst etwas Außerordentliches bevor. Besonders das fatale Rechnen wollte mir nun erst gar nicht mehr von der Hand, und ich hatte, wenn der Sonnen- schein durch den Kastanienbaum vor dem Fen- ster grüngolden auf die Ziffern fiel und so fix vom Transport bis zum Latus und wieder hinauf und hinab addierte, gar seltsame Gedanken dabei, so daß ich manchmal ganz verwirrt wurde und wahr- haftig nicht bis drei zählen konnte. Denn die Acht kam mir immer vor wie meine dicke enggeschnürte 245 Dame mit dem breiten Kopfputz, die böse Sieben war gar wie ein ewig rückwärtszeigender Weg- weiser oder Galgen. — Am meisten Spaß machte mir noch die Neun, die sich mir so oft, eh ich michs versah, lustig als Sechs auf den Kopf stellte, während die Zwei wie ein Fragezeichen so pfiffig dreinsah, als wollte sie mich fragen: Wo soll das am Ende noch hinaus mit dir, du arme Null? Ohne sie, diese schlanke Eins und alles, bleibst du doch ewig nichts ! Auch das Sitzen draußen vor der Tür wollte mir nicht mehr behagen. Ich nahm mir, um es beque- mer zu haben, einen Schemel mit heraus und streckte die Füße darauf, ich flickte ein altes Para- sol vom Einnehmer und steckte es gegen die Son- ne wie ein chinesisches Lusthaus über mich. Aber es half nichts. Es schien mir, wie ich so saß und rauchte und spekulierte, als würden mir allmäh- lich die Beine immer länger vor Langeweile, und die Nase wüchse mir vom Nichtstun, wenn ich so stundenlang an ihr heruntersah. — Und wenn dann manchmal noch vor Tagesanbruch eine Ex- trapost vorbeikam, und ich trat halb verschlafen in die kühle Luft hinaus, und ein niedliches Ge- sichtchen, von dem man in der Dämmerung nur die funkelnden Augen sah, bog sich neugierig zum Wagen hervor und bot mir freundlich einen guten Morgen, in den Dörfern aber ringsumher krähten die Hähne so frisch über die leise wogen- den Kornfelder herüber, und zwischen den Mor- genstreifen hoch am Himmel schweiften schon einzelne zu früh erwachte Lerchen, und der Po- stillion nahm dann sein Posthorn und fuhr weiter 246 und blies und blies — da stand ich lange und sah dem Wagen nach, und es war mir nicht anders, als müßt ich nur sogleich mit fort, weit, weit in die Welt. — Meine Blumensträuße legte ich indes immer noch, sobald die Sonne unterging, auf den stei- nernen Tisch in der dunklen Laube. Aber das war es eben: damit war es nun aus seit jenem Abend. — Kein Mensch kümmerte sich darum: sooft ich des Morgens frühzeitig nachsah, lagen die Blumen noch immer da wie gestern und sahen mich mit ihren verwelkten niederhängenden Köpfchen und daraufstehenden Tautropfen ordentHch betrübt an, als ob sie weinten. — Das verdroß mich sehr. Ich band gar keinen Strauß mehr. In meinem Gar- ten mochte nun auch das Unkraut treiben, wie es wollte, und die Blumen ließ ich ruhig stehen und wachsen, bis der Wind die Blätter verwehte. War mirs doch ebenso wild und bunt und verstört im Herzen. In diesen kritischen Zeitläuften geschah es denn, daß einmal, als ich eben zu Hause im Fenster hege und verdrießlich in die leere Luft hinaussehe, die Kammerjungfer vom Schlosse über die Straße da- hergetrippelt kommt. Sie lenkte, da sie mich er- blickte, schnell zu mir ein und blieb am Fenster stehen. — „Der gnädige Herr ist gestern von sei- ner Reise zurückgekommen", sagte sie eilfertig. „So?" entgegnete ich verwundert — denn ich hatte mich schon seit einigen Wochen um nichts bekümmert und wußte nicht einmal, daß der Herr auf Reisen war — , ,,da wird seine Tochter, die junge gnädige Frau, auch große Freude gehabt 247 haben." — Die Kammer) ungfer sah mich kurios von oben bis unten an, so daß ich mich ordentlich selber besinnen mußte, ob ich was Dummes ge- sagt hätte. — „Er weiß aber auch gar nichts", sagte sie endlich und rümpfte das kleine Naschen. ,,Nun," fuhr sie fort, ,,es soll heute abend dem Herrn zu Ehren Tanz im Schlosse sein und Mas- kerade. Meine gnädige Frau wird auch maskiert sein, als Gärtnerin — versteht Er auch recht — als Gärtnerin. Nun hat die gnädige Frau gesehen, daß Er besonders schöne Blumen hat in Seinem Garten." — Das ist seltsam, dachte ich bei mir selbst, man sieht doch jetzt fast keine Blume mehr vor Unkraut. — Sie aber fuhr fort: ,,Da nun die gnädige Frau schöne Blumen zu ihrem Anzüge braucht, aber ganz frische, die eben vom Beete kommen, so soll Er ihr welche bringen und damit heute abend, wenns dunkel geworden ist, unter dem großen Birnbaum im Schloßgarten warten, da wird sie dann kommen und die Blumen ab- holen." Ich war ganz verblüfft vor Freude über diese Nachricht und lief in meiner Entzückung vom Fenster zu Kammerjungfer hinaus. — ,,Pfui, der garstige Schlafrock !" rief diese aus, da sie mich auf einmal so in meinem Aufzuge im Freien sah. Das ärgerte mich, ich wollte auch nicht dahinter- bleiben in der Galanterie und machte einige artige Kapriolen, um sie zu erhaschen und zu küssen. Aber unglücklicherweise verwickelte sich mir dabei der Schlafrock, der mir viel zu lang war, unter den Füßen, und ich fiel der Länge nach auf die Erde. Als ich mich wieder zusammenraffte, 248 war die Kammerjungfer schon weit fort, und ich hörte sie noch von fern lachen, daß sie sich die Seiten halten mußte. Nun aber hatt ich was 2u sinnen und mich 2u freuen. Sie dachte ja noch immer an mich und meine Blumen ! Ich ging in mein Gärtchen und riß hastig alles Unkraut von den Beeten und warf es hoch über meinen Kopf weg in die schimmern- de Luft, als 2Ög ich alle Übel und MelanchoHe mit der Wurzel heraus. Die Rosen waren nun wieder wie ihr Mund, die himmelblauen Winden wie ihre Augen, die schneeweiße Lilie mit ihrem schwermütig gesenkten Köpfchen sah ganz aus wie s i e. Ich legte alle sorgfältig in ein Körbchen zusammen. Es war ein schöner stiller Abend und kein Wölkchen am Himmel. Einzelne Sterne tra- ten schon am Firmamente hervor, von weitem rauschte die Donau über die Felder herüber, in den hohen Bäumen im herrschaftlichen Garten neben mir sangen unzählige Vögel lustig durch- einander. Ach, ich war so glücklich ! Als endlich die Nacht hereinbrach, nahm ich mein Körbchen an den Arm und machte mich auf den Weg nach dem großen Garten. In dem Körb- chen lag alles so bunt und anmutig durcheinander, weiß, rot, blau und duftig, daß mir ordentlich das Herz lachte, wenn ich hineinsah. Ich ging voller fröhlicher Gedanken bei dem schönen Mondschein durch die stillen, reinlich mit Sand bestreuten Gänge über die kleinen weißen Brücken, unter denen die Schwäne einge- schlafen auf dem Wasser saßen, an den zierlichen Lauben und Lusthäusern vorüber. Den großen 249 Birnbaum hatte ich gar bald aufgefunden, denn es war derselbe, unter dem ich sonst, als ich noch Gärtnerbursche war, an schwülen Nachmittagen gelegen. Hier war es so einsam dunkel. Nur eine hohe Espe zitterte und flüsterte mit ihren silbernen Blät- tern in einem fort. Vom Schlosse schallte manch- mal die Tanzmusik herüber. Auch Menschenstim- men hörte ich zuweilen im Garten, die kamen oft ganz nahe an mich heran, dann wurde es auf ein- mal wieder ganz still. Mir klopfte das Herz. Es war mir schauerlich und seltsam zumute, als wenn ich jemand besteh- len wollte. Ich stand lange Zeit stockstill an den Baum gelehnt und lauschte nach allen Seiten; da aber immer niemand kam, könnt ich es nicht län- ger aushalten. »Ich hing mein Körbchen an den Arm und kletterte schnell auf den Birnbaum hin- auf, um wieder im Freien Luft zu schöpfen. Da droben schallte mir die Tanzmusik erst recht über die Wipfel entgegen. Ich übersah den ganzen Garten und gerade in die hellerleuchteten Fenster des Schlosses hinein. Dort drehten sich die Kron- leuchter langsam wie Kränze von Sternen, unzäh- lige geputzte Herren und Damen, wie in einem Schattenspiele, wogten und walzten und wirrten da bunt und unkenntlich durcheinander, manch- mal legten sich welche ins Fenster und sahen hin- unter in den Garten. Draußen vor dem Schlosse aber waren der Rasen, die Sträucher und die Bäu- me von den vielen Lichtern aus dem Saale wie vergoldet, so daß ordentlich die Blumen und die Vögel aufzuwachen schienen. Weiterhin um mich 250 herum und hinter mir lag der Garten so schwarz und still. Da tanzt sie nun, dacht ich in dem Baume dro- ben bei mir selber, und hat gewiß lange dich und deine Blumen wieder vergessen. Alles ist so fröh- lich, um dich kümmert sich kein Mensch. — Und so geht es mir überall und immer. Jeder hat sein Plätzchen auf der Erde ausgesteckt, hat seinen warmen Ofen, seine Tasse Kaffee, seine Frau, sein Glas Wein zu Abend und ist so recht zufrieden; selbst dem Portier ist ganz wohl in seiner langen Haut. — Mir ists nirgends recht. Es ist, als wäre ich überall eben zu spät gekommen, als hätte die ganze Welt gar nicht auf mich gerechnet. — Wie ich eben so philosophiere, höre ich auf ein- mal unten im Grase etwas einherrascheln. Zwei feine Stimmen sprachen ganz nahe und leise mit- einander. Bald darauf bogen sich die Zweige in dem Gesträuche auseinander, und die Kammer- jungfer steckte ihr kleines Gesichtchen, sich nach allen Seiten umsehend, zwischen der Laube hin- durch. Der Mondschein funkelte recht auf ihren pfiffigen Augen, wie sie hervorguckten. Ich hielt den Atem an mich und blickte unverwandt hin- unter. Es dauerte auch nicht lange, so trat wirk- lich die Gärtnerin, ganz so wie mir sie die Kam- merjungfer gestern beschrieben hatte, zwischen den Bäumen heraus. Mein Herz klopfte mir zum Zerspringen. Sie aber hatte eine Larve vor und sah sich, wie mir schien, verwundert auf dem Platze um. — Da woUts mir vorkomnien, als wäre sie gar nicht recht schlank und niedlich. — End- lich trat sie ganz nahe an den Baum und nahm die 251 Larve ab. — Es war wahrhaftig die andere ältere gnädige Frau ! Wie froh war ich nun, als ich mich vom ersten Schreck erholt hatte, daß ich mich hier oben in Sicherheit befand. Wie in aller Welt, dachte ich, kommt die nur jet2t hierher? wenn nun die liebe schöne gnädige Frau die Blumen abholt, — das wird eine schöne Geschichte werden I Ich hätte am Ende weinen mögen vor Ärger über den gan- zen Spektakel. Indem hub die verkappte Gärtnerin unten an: „Es ist so stickend heiß droben im Saale, ich muß- te gehen, mich ein wenig abzukühlen in der freien schönen Natur." Dabei fächelte sie sich mit der Larve in einem fort und blies die Luft von sich. Bei dem hellen Mondschein könnt ich deutlich erkennen, wie ihr die Flechsen am Halse ordent- lich aufgeschwollen waren; sie sah ganz erbost aus und ziegelrot im Gesicht. Die Kammerjung- fer suchte unterdes hinter allen Hecken herum, als hätte sie eine Stecknadel verloren. — ,,Ich brauche so notwendig noch frische Blu- men zu meiner Maske," fuhr die Gärtnerin von neuem fort, ,,wo er auch stecken mag !" — Die Kammerjungfer suchte und kicherte dabei immer- fort heimlich in sich selbst hinein. — ,, Sagtest du was, Rosette?" fragte die Gärtnerin spitzig. — „Ich sage, was ich immer gesagt habe," erwiderte die Kammerjungfer und machte ein ganz ernst- haftes treuherziges Gesicht, ,,der ganze Einneh- mer ist und bleibt ein Lümmel, er liegt gewiß irgendwo hinter einem Strauche und schläft." Mir zuckte es in allen meinen Gliedern, herunterzu- 252 springen und meine Reputation zu retten — da hörte man auf einmal ein großes Pauken und Mu- sizieren und Lärmen vom Schlosse her. Nun hielt sich die Gärtnerin nicht länger. „Da bringen die Menschen", fuhr sie verdrießlich fort, „dem Herrn das Vivat. Komm, man wird uns vermissen !" — Und hiermit steckte sie die Larve schnell vor und ging wütend mit der Kammer- jungfer nach dem Schlosse zu fort. Die Bäume und Sträucher wiesen kurios, wie mit langen Nasen und Fingern, hinter ihr drein, der Mondschein tanzte noch fix, wie über eine Klaviatur, über ihre breite Taille auf und nieder, und so nahm sie, so recht wie ich auf dem Theater manchmal die Sängerinnen gesehn, unter Trompeten und Pau- ken schnell ihren Abzug. Ich aber wußte in meinem Baume droben eigentlich gar nicht recht, wie mir geschehen, und richtete nunmehr meine Augen unverwandt auf das Schloß hin; denn ein Kreis hoher Windhchter unten an den Stufen des Einganges warf dort einen seltsamen Schein über die bHtzenden Fenster und weit in den Garten hinein. Es war die Diener- schaft, die soeben ihrer jungen Herrschaft ein Ständchen brachte. Mitten unter ihnen stand der prächtig aufgeputzte Portier, wie ein Staatsmini- ster, vor einem Notenpulte und arbeitete sich emsig an einem Fagotte ab. Wie ich mich soeben zurechtsetzte, um der schönen Serenade zuzuhören, gingen auf einmal oben auf dem Balkon des Schlosses die Flügel- türen auf. Ein hoher Herr, schön und stattlich in Uniform und mit vielen funkelnden Sternen, trat 253 auf den Balkon heraus, und an seiner Hand — die schöne junge gnädige Frau, in ganz weißem Klei- de, wie eine Lilie in der Nacht, oder wie wenn der Mond über das klare Firmament zöge. Ich konnte keinen Blick von dem Platze ver- wenden, und Garten, Bäume und Felder gingen unter vor meinen Sinnen, wie sie so wundersam beleuchtet von den Fackeln hoch und schlank dastand und bald anmutig mit dem schönen Offi- zier sprach, bald wieder freundlich zu den Musi- kanten herunternickte. Die Leute unten waren außer sich vor Freude, und ich hielt mich am Ende auch nicht mehr und schrie immer aus Lei- beskräften Vivat mit. — Als sie aber bald darauf wieder von dem Balkon verschwand, unten eine Fackel nach der andern verlöschte und die Notenpulte weggeräumt wur- den und nun der Garten ringsumher auch wieder finster wurde und rauschte wie vorher — da merkt ich erst alles — da fiel es mir auf einmal aufs Herz, daß mich wohl eigentlich nur die Tante mit den Blumen bestellt hatte, daß die Schöne gar nicht an mich dachte und lange verheiratet ist und daß ich selber ein großer Narr war. Alles das versenkte mich recht in einen Ab- grund von Nachsinnen. Ich wickelte mich, gleich einem Igel, in die Stacheln meiner eigenen Gedan- ken zusammen; vom Schlosse schallte die Tanz- musik nur noch seltener herüber, die Wolken wanderten einsam über den dunklen Gartenweg. Und so saß ich auf dem Baume droben, wie die Nachteule, in den Ruinen meines Glücks die ganze Nacht hindurch. 254 Die kühle Morgenluft weckte mich endlich aus meinen Träumereien. Ich erstaunte ordentlich, wie ich so auf einmal um mich herblickte. Musik und Tanz war lange vorbei, im Schlosse und rings um das Schloß herum auf dem Rasenplatze und den steinernen Stufen und Säulen sah alles so still, kühl und feierlich aus ; nur der Springbrunnen vor dem Eingange plätscherte einsam in einem fort. Hin und her in den Zweigen neben mir erwachten schon die Vögel, schüttelten ihre bunten Federn und sahen, die kleinen Flügel dehnend, neugierig und verwundert ihren seltsamen Schlafkameraden an. Fröhlich schweifende Morgenstrahlen funkel- ten über den Garten weg auf meine Brust. Da richtete ich mich in meinem Baume auf und sah seit langer Zeit zum ersten Male wieder ein- mal so recht weit in das Land hinaus, wie da schon einzelne Schiffe auf der Donau zwischen den Wein- bergen herabfuhren und die noch leeren Landstra- ßen wie Brücken über das schimmernde Land sich fern über die Berge und Täler hinausschwangen. Ich weiß nicht, wie es kam — aber mich packte da auf einmal wieder meine ehemalige Reiselust: alle die alte Wehmut und Freude und große Er- wartung. Mir fiel dabei zugleich ein, wie nun die schöne Frau droben auf dem Schlosse zwischen Blumen und unter seidnen Decken schlummerte und ein Engel bei ihr auf dem Bette säße in der Morgenstille. — „Nein," rief ich aus, „fort muß ich von hier und immer fort, so weit, als der Himmel blau ist !" Und hiermit nahm ich mein Körbchen und warf es hoch in die Luft, so daß es recht heblich anzu- 255 sehen war, wie die Blumen zwischen den Zweigen und auf dem grünen Rasen unten bunt umher- lagen. Dann stieg ich selber schnell herunter und ging durch den stillen Garten auf meine Wohnung zu. Gar oft blieb ich da noch stehen auf manchem Plätzchen, wo ich sie sonst wohl einmal gesehen oder im Schatten liegend an sie gedacht hatte. In und um mein Häuschen sah alles noch so aus, wie ich es gestern verlassen hatte. Das Gärtchen war geplündert und wüst, im Zimmer drin lag noch das große Rechnungsbuch aufgeschlagen, meine Geige, die ich schon fast ganz vergessen hatte, hing verstaubt an der Wand. Ein Morgen- strahl aber aus dem gegenüberstehenden Fenster fuhr gerade blitzend über die Saiten. Das gab einen rechten Klang in meinem Herzen. „Ja," sagt ich, „komm nur her, du getreues Instrument ! Unser Reich ist nicht von dieser Welt !" — Und so nahm ich die Geige von der Wand, ließ Rechnungsbuch, Schlafrock, Pantoffeln, Pfeifen und Parasol Hegen und wanderte, arm wie ich gekommen war, aus meinem Häuschen und auf der glänzenden Land- straße von dannen. Ich blickte noch oft zurück; mir war gar selt- sam zumute, so traurig und doch auch wieder so überaus fröhlich, wie ein Vogel, der aus seinem Käfig ausreißt. Und als ich schon eine weite Strecke gegangen war, nahm ich draußen im Freien meine Geige vor und sang: Den lieben Gott laß ich nur walten; Der Bächlein, Lerchen, Wald und Feld Und Erd und Himmel tut erhalten. Hat auch mein Sach aufs best bestellt ! 256 Das Schloß, der Garten und die Türme von Wien waren schon hinter mir im Morgenduft ver- sunken, über mir jubilierten unzählige Lerchen hoch in der Luft; so zog ich zwischen den grünen Bergen und an lustigen Städten und Dörfern vor- bei gen Italien hinunter. 257 EDUARD MORIKE. Mo:(ari auf der Reise nach Prag. Im Herbst des Jahres 1787 unternahm Mozart in Begleitung seiner Frau eine Reise nach Prag, um Don Juan daselbst zur AuflFührung zu bringen. Am dritten Reisetag, dem vierzehnten Septem- ber, gegen elf Uhr morgens, fuhr das wohl- gelaunte Ehepaar, noch nicht viel über dreißig Stunden Wegs von Wien entfernt, in nordwest- licher Richtung jenseits vom Mannhardsberg und der deutschen Thaya bei Schrems, wo man das schöne Mährische Gebirg' bald vollends über- stiegen hat. „Das mit drei Postpferden bespannte Fuhr- werk," schreibt die Baronesse von T. an ihre Freundin, „eine stattliche gelbrote Kutsche, war Eigentum einer gewissen alten Frau Generalin Volkstett, die sich auf ihren Umgang mit dem Mozartischen Hause und ihre ihm erwiesenen Gefälligkeiten von jeher scheint etwas zugut' ge- tan zu haben." — Die ungenaue Beschreibung des fragüchen Gefährts wird sich ein Kenner des Geschmacks der achtziger Jahre noch etwa durch einige Züge ergänzen. Der gelbrote Wagen ist hüben und drüben am Schlage mit Blumenbuketts, in ihren natürlichen Farben, gemalt, die Ränder mit schmalen Goldleisten verziert, der Anstrich aber noch keineswegs von jenem spiegelglatten Lack der heutigen Wiener Werkstätten glänzend, der Kasten auch nicht völlig ausgebaucht, ob- wohl nach unten zu kokett mit einer kühnen 258 Schweifung eingezogen; dazu kommt ein hohes Gedeck mit starrenden Ledervorhängen, die gegenwärtig zurückgestreift sind. Von dem Kostüm der beiden Passagiere sei überdies so viel bemerkt 1 Mit Schonung für die neuen im Koffer eingepackten Staatsgewänder war der Anzug des Gemahls bescheidentlich von Frau Konstanzen ausgewählt: zu der gestickten Weste von etwas verschossenem Blau sein ge- wohnter brauner Überrock mit einer Reihe großer und dergestalt fassonierter Knöpfe, daß eine Lage rötliches Rauschgold durch ihr sternartiges Ge- webe schimmerte, schwarzseidene Beinkleider, Strümpfeundauf den Schuhen vergoldete Schnal- len. Seit einer halben Stunde hat er wegen der für diesen Monat außerordentlichen Hitze sich des Rocks entledigt und sitzt, vergnüglich plaudernd, barhaupt, in Hemdärmeln da. Madame Mozart trägt ein bequemes Reisehabit, hellgrün und weiß gestreift; halb aufgebunden fällt der Überfluß ihrer schönen, lichtbraunen Locken auf Schulter und Nacken herunter; sie waren zeit ihres Lebens noch niemals von Puder entstellt, während der starke in einen Zopf gefaßte Haarwuchs ihres Gemahls für heute nur nachlässiger als gewöhnlich damit versehen ist. Man war eine sanft ansteigende Höhe zwischen fruchtbaren Feldern, welche hie und da die aus- gedehnte Waldung unterbrachen, gemachsam hinauf und jetzt am Waldsaum angekommen. „Durch wieviel Wälder", sagte Mozart, „sind wir nicht heute, gestern und ehegestern schon passiert ! Ich dachte nichts dabei, geschweige daß 259 mir eingefallen wäre, den Fuß hineinzusetzen. Wir steigen einmal aus da, Herzenskind, und holen von den blauen Glocken, die dort so hübsch im Schatten stehen ! Deine Tiere, Schwager, mö- gen ein bißchen verschnaufen 1" Indem sie sich beide erhoben, kam ein kleines Unheil an den Tag, welches dem Meister einen Zank zuzog. Durch seine Achtlosigkeit- war ein Flakon mit kostbarem Riechwasser aufgegangen und hatte seinen Inhalt unvermerkt in die Kleider und Polster ergossen. „Ich hätt' es denken kön- nen !" klagte sie; „es duftete schon lang so stark. O weh, ein volles Fläschchen echte Rosee d'Auro- re rein ausgeleert ! Ich sparte sie wie Gold." „Ei, Närrchen," gab er ihr zum Trost zurück, „begreife doch ! auf solche Weise ganz allein war uns dein Götter-Riechschnaps etwas nütze. Erst saß man in einem Backofen, und all dein Gefächel half nichts, bald aber schien der ganze Wagen gleich- sam ausgekühlt; du schriebst es den paar Tropfen zu, die ich mir auf den Jabot goß; wir waren neu belebt, und das Gespräch floß munter fort, statt daß wir sonst die Köpfe hätten hängen lassen, wie die Hammel auf des Fleischers Karren, und diese Wohltat wird uns auf dem ganzen Weg be- gleiten. Jetzt aber laßt uns doch einmal zwei Wienerische Nos'n recht expreß hier in die grüne Wildnis stecken !" Sie stiegen Arm in Arm über den Graben an der Straße und sofort tiefer in die Tannendunkel- heit hinein, die, sehr bald bis zur Finsternis ver- dichtet, nur hin und wieder von einem Streifen Sonne auf samtnem Moosboden grell durch- 260 brochen ward. Die erquickliche Frische, im plötz- lichen Wechsel gegen die außerhalb herrschende Glut, hätte dem sorglosen Mann ohne die Vor- sicht der Begleiterin gefährlich werden können. Mit Mühe drang sie ihm das in Bereitschaft gehal- tene Kleidungsstück auf. „Gott, welche Herrlich- keit I" rief er, an den hohen Stämmen hinauf- blickend, aus. „Man ist als wie in einer Kirche. Ivlir deucht, ich war niemals in einem Wald, und besinne mich jet2t erst, was es doch heißt: ein ganzes Volk von Bäumen beieinander ! Keine Menschenhand hat sie gepflanzt, sind alle selbst gekommen und stehen so, nur eben weil es lustig ist beisammen wohnen und wirtschaften. Siehst du, mit jungen Jahren fuhr ich doch in halb Euro- pa hin und her, habe die Alpen gesehn und das Meer, das Größeste und Schönste, was erschaffen ist: jetzt steht von ungefähr der Gimpel in einem ordinären Tannenwald an der böhmischen Grenze verwundert und verzückt, daß solches Wesen irgend existiert, nicht etwa nur so una fin^ione dt poeti ist, wie ihre Nymphen, Faune und derglei- chen mehr, auch kein Komödienwald, nein, aus dem Erdboden herausgewachsen, von Feuchtig- keit und Wärmelicht der Sonne großgezogen. Hier ist zu Haus der Hirsch mit seinem wunder- samen zackigen Gestäude auf der Stirn, das pos- sierliche Eichhorn, der Auerhahn, der Häher." — Er bückte sich, brach einen Pilz und pries die prächtige hochrote Farbe des Schirms, die zarten weißlichen Lamellen an dessen unterer Seite, auch steckte er verschiedene Tannenzapfen ein. „Man könnte denken," sagte die Frau, „du 261 habest noch nicht 2wanzig Schritte hinein in den Prater gesehen, der solche Raritäten doch auch wohl aufzuweisen hat." „Was Prater ! Sapperlot, wie du nur das Wort hier nennen magst ! Vor lauter Karossen, Staats- degen, Roben und Fächern, Musik und allem Spektakel der Welt, wer sieht denn da noch sonst etwas? Und selbst die Bäume dort, so breit sie sich auch machen, ich weiß nicht — Bucheckern und Eicheln, am Boden verstreut, sehn halter aus als wie Geschwisterkind mit der Unzahl verbrauch- ter Korkstöpsel darunter. Zwei Stunden weit riecht das Gehölz nach Kellnern und nach Soßen." „O unerhört !" rief sie, „so redet nun der Mann, dem gar nichts über das Vergnügen geht, Back- hähnl im Prater zu speisen 1" Als beide wieder in dem Wagen saßen und sich die Straße jetzt nach einer kurzen Strecke ebenen Wegs allmählich abwärts senkte, wo eine lachende Gegend sich bis an die entfernteren Berge verlor, fing unser Meister, nachdem er eine Zeitlang still gewesen, wieder an: „Die Erde ist wahrhaftig schön und keinem zu verdenken, wenn er so lang wie möglich darauf bleiben will. Gott sei's ge- dankt ! ich fühle mich so frisch und wohl wie je und wäre bald zu tausend Dingen aufgelegt, die denn auch alle nacheinander an die Reihe kommen sollen, wie nur mein neues Werk vollendet und aufgeführt sein wird. Wieviel ist draußen in der Welt und wieviel daheim. Merkwürdiges und Schönes, das ich noch gar nicht kenne, an Wun- derwerken der Natur, an Wissenschaften, Kün- sten und nützlichen Gewerben 1 Der schwarze 262 Köhlerbube dort bei seinem Meiler weiß dir von manchen Sachen auf ein Haar so viel Bescheid wie ich, da doch ein Sinn und ein Verlangen in mir wäre, auch einen Blick in dies und jenes zu tun, das eben nicht zu meinem nächsten Kram gehört.'* „Mir kam", versetzte sie, „in diesen Tagen dein alter Sackkalender in die Hände von Anno fünf- undachtzig; da hast du hinten angemerkt drei bis vier Notabene. Zum ersten steht: Mitte Ok- tober gießet man die großen Löwen in kaiserlicher Erzgießerei; fürs zweite, doppelt angestrichen: Professor Gattner zu besuchen! Wer ist der?" ,,0 recht, ich weiß: auf dem Observatorio der gute alte Herr, der mich von Zeit zu Zeit dahin einlädt. Ich wollte längst einmal den Mond und 's Mandldrin mit dir betrachten. Sie haben jetzt ein mächtig großes Fernrohr oben: da soll man auf der Ungeheuern Scheibe hell und deutlich bis zum Greifen Gebirge, Täler, Klüfte sehen und von der Seite, wo die Sonne nicht hinfällt, den Schatten, den die Berge werfen. Schon seit zwei Jahren schlag' ich's an, den Gang zu tun, und komme nicht dazu, elender- und schändlicherweise !" „Nun," sagte sie, „der Mond entläuft uns nicht. Wir holen manches nach." Nach einer Pause fuhr er fort: „Und geht es nicht mit allem so? O pfui ! ich darf nicht daran denken, was man verpaßt, verschiebt und hängen läßt — von Pflichten gegen Gott und Menschen nicht zu reden — , ich sage, von purem Genuß, von den kleinen, unschuldigen Freuden, die einem jeden täghch vor den Füßen liegen." 263 Madame Mozart konnte oder wollte von der Richtung, die sein leicht bewegliches Gefühl hier mehr und mehr nahm, auf keine Weise ablenken, und leider konnte sie ihm nur von ganzem Herzen recht geben, indem er mit steigendem Eifer fort- fuhr: „Ward ich denn je nur meiner Kinder ein volles Stündchen froh? Wie halb ist das bei mir und immer en passant ! Die Buben einmal rittlings auf das Knie gesetzt, mich zwei Minuten mit ihnen durchs Zimmer gejagt: und damit basta, wieder abgeschüttelt ! Es denkt mir nicht, daß wir uns auf dem Lande zusammen einen schönen Tag gemacht hätten, an Ostern oder Pfingsten, in einem Garten oder Wäldel, auf der Wiese, wir unter uns allein, bei Kinderscherz und Blumen- spiel, um selber einmal wieder Kind zu werden. Allmittels geht und rennt und saust das Leben hin — Herr Gott ! bedenkt man's recht, es möcht' einem der Angstschweiß ausbrechen 1" Mit der soeben ausgesprochenen Selbstanklage war unerwartet ein sehr ernsthaftes Gespräch in aller Traulichkeit und Güte zwischen beiden er- öffnet. Wir teilen dasselbe nicht ausführlich mit und werfen lieber einen allgemeinen Blick auf die Verhältnisse, die teils ausdrücklich und unmittel- bar den Stoff, teils auch nur den bewußten Hinter- grund der Unterredung ausmachten. Hier drängt sich uns voraus die schmerzliche Betrachtung auf, daß dieser feurige, für jeden Reiz der Welt und für das Höchste, was dem ahnenden Gemüt erreichbar ist, unglaublich emp- fängliche Mensch, soviel er auch in seiner kurzen Spanne Zeit erlebt, genossen und aus sich hervor- 264 gebracht, ein stetiges und rein befriedigtes Ge- fühl seiner selbst doch lebenslang entbehrte. Wer die Ursachen dieser Erscheinung nicht et- wa tiefer suchen will, als sie vermutlich liegen, wird sie zunächst einfach in jenen, wie es scheint, unüberwindlich eingewohnten Schwächen finden, die wir so gern, und nicht ganz ohne Grund, mit alledem, was an Mozart der Gegenstand unsrer Bewunderung ist, in eine Art notwendiger Ver- bindung bringen. Des Mannes Bedürfnisse waren sehr vielfach, seine Neigung zumal für gesellige Freuden außer- ordentlich groß. Von den vornehmsten Häusern der Stadt als unvergleichliches Talent gewürdigt und gesucht, verschmähte er Einladungen zu Fe- sten, Zirkeln und Partien selten oder nie. Dabei tat er der eigenen Gastfreundschaft innerhalb seiner näheren Kreise gleichfalls genug. Einen längst hergebrachten musikalischen Abend am Sonntag bei ihm, ein ungezwungenes Mittagsmahl an sei- nem wohlbestellten Tisch mit ein paar Freunden und Bekannten, zwei-, dreimal in der Woche, das wollte er nicht missen. Bisweilen brachte er die Gäste, zum Schrecken der Frau, unangekündigt von der Straße weg ins Haus, Leute von sehr un- gleichem Wert, Liebhaber, Kunstgenossen, Sän- ger und Poeten. Der müßige Schmarotzer, dessen ganzes Verdienst in einer immer aufgeweckten Laune, in Witz und Spaß, und zwar vom gröbern Korn, bestand, kam so gut wie der geistvolle Ken- ner und der treffliche Spieler erwünscht. Den größ- ten Teil seiner Erholung indes pflegte Mozart außer dem eigenen Hause zu suchen. Man konnte 265 ihn nach Tisch einen Tag wie den andern am Bil- lard im Kaffeehaus und so auch manchen Abend im Gasthof finden. Er fuhr und ritt sehr gerne in Gesellschaft über Land, besuchte als ein ausge- machter Tänzer Bälle und Redouten und machte sich des Jahres einige Male einen Hauptspaß an Volksfesten, vor allen am Brigitten-Kirchtag im Freien, wo er als Pierrot maskiert erschien. Diese Vergnügungen, bald bunt und ausgelas- sen, bald einer ruhigeren Stimmung zusagend, waren bestimmt, dem lang gespannten Geist nach ungeheurem Kraftaufwand die nötige Rast zu ge- währen; auch verfehlten sie nicht, demselben ne- benher auf den geheimnisvollen Wegen, auf wel- chen das Genie sein Spiel bewußtlos treibt, die feinen flüchtigen Eindrücke mitzuteilen, wodurch es sich gelegentlich befruchtet. Doch leider kam in solchen Stunden, weil es dann immer galt, den glücklichen Moment bis auf die Neige auszu- schöpfen, eine andere Rücksicht, es sei nun der Klugheit oder der Pflicht, der Selbsterhaltung wie der Häuslichkeit, nicht in Betracht. Genießend oder schaffend, kannte Mozart gleich wenig Maß und Ziel. Ein Teil der Nacht war stets der Kom- position gewidmet. Morgens früh, oft lange noch im Bett, ward ausgearbeitet. Dann machte er, von zehn Uhr an, zu Fuß oder im Wagen abgeholt, die Runde seiner Lektionen, die in der Regel noch einige Nachmittagsstunden wegnahmen. „Wir plagen uns wohl auch rechtschaffen," so schreibt er selber einmal einem Gönner, ,,und es hält öfter schwer, nicht die Geduld zu verlieren. Da halst man sich als wohl akkreditierter Cembalist und 266 Musiklehrmeister ein Dutzend Schüler auf und immer wieder einen neuen, unangesehn, was wei- ter an ihm ist, wenn er nur seinen Taler per marca bezahlt. Ein jeder ungrische Schnurrbart vom Ge- niekorps ist willkommen, den der Satan plagt, für nichts und wieder nichts Generalbaß und Kontra- punkt zu studieren, das übermütigste Komteß- chen, das mich, wie Meister Coquerel, den Haar- kräusler, mit einem roten Kopf empfängt, wenn ich einmal nicht auf den Glockenschlag bei ihr an- klopfte usw." Und wenn er nun, durch diese und andere Berufsarbeiten, Akademien, Proben und dergleichen abgemüdet, nach frischem Atem schmachtete, war den erschlafften Nerven häufig nur in neuer Aufregung eine scheinbare Stärkung vergönnt. Seine Gesundheit wurde heimlich an- gegriffen, ein je und je wiederkehrender Zustand von Schwermut wurde, wo nicht erzeugt, doch sicherlich genährt an ebendiesem Punkt und so die Ahnung eines frühzeitigen Todes, die ihn zu- letzt auf Schritt und Tritt begleitete, unvermeid- lich erfüllt. Gram aller Art und Farbe, das Gefühl der Reue nicht ausgenommen, war er als eine her- be Würze jeder Lust auf seinen Teil gewöhnt. Doch wissen wir, auch diese Schmerzen rannen, abgeklärt und rein, in jenem tiefen Quell zusam- men, der, aus hundert goldenen Röhren sprin- gend, im Wechsel seiner Melodien unerschöpf- lich, alle Qual und alle Seligkeit der Menschen- brust ausströmte. Am offenbarsten zeigten sich die bösen Wir- kungen der Lebensweise Mozarts in seiner häus- lichen Verfassung. Der Vorwurf törichter, leicht- 267 sinniger Verschwendung lag sehr nahe; er mußte sich sogar an einen seiner schönsten Herzenszüge hängen. Kam einer, in dringender Not ihm eine Summe abzuborgen, sich seine Bürgschaft zu er- bitten, so war meist schon darauf gerechnet, daß er sich nicht erst lang nach Pfand und Sicherheit erkundigte; dergleichen hätte ihm auch in der Tat so wenig als einem Kinde angestanden. Am lieb- sten schenkte er gleich hin und immer mit lachen- der Großmut, besonders wenn er meinte, gerade Überfluß zu haben. Die Mittel, die ein solcher Aufwand neben dem ordentlichen Hausbedarf erheischte, standen aller- dings in keinem Verhältnis mit den Einkünften. Was von Theatern und Konzerten, von Verlegern und Schülern einging, zusamt der kaiserlichen Pension, genügte um so weniger, da der Ge- schmack des Publikums noch weit davon entfernt war, sich entschieden für Mozarts Musik zu er- klären. Die lauterste Schönheit, Fülle und Tiefe befremdete gemeinhin gegenüber der bisher be- liebten leicht faßlichen Kost, Zwar hatten sich die Wiener an Belmonte und Konstanze — dank den populären Elementen dieses Stücks — seinerzeit kaum ersättigen können, hingegen tat einige Jahre später Figaro, und sicher nicht allein durch die Intrigen des Direktors, im Wettstreit mit der lieb- lichen, doch weit geringeren Cosa rara einen un- erwarteten kläglichen Fall: derselbe Figaro, den gleich darauf die gebildeten oder unbefangenen Prager mit solchem Enthusiasmus aufnahmen, daß der Meister in dankbarer Rührung darüber seine nächste große Oper eigens für sie zu schrei- 268 ben beschloß. Trotz der Ungunst der Zeit und dem Einfluß der Feinde hätte Mozart mit etwas mehr Umsicht und Klugheit noch immer einen sehr ansehnlichen Gewinn von seiner Kunst ge- zogen: so aber kam er selbst bei jenen Unterneh- mungen zu kurz, wo auch der große Haufen ihm Beifall zujauchzen mußte. Genug, es wirkte eben alles, Schicksal und Naturell und eigene Schuld, zusammen, den einzigen Mann nicht gedeihen zu lassen. Welch einen schlimmen Stand nun aber eine Hausfrau, sofern sie ihre Aufgabe kannte, unter solchen Umständen gehabt haben müsse, begrei- fen wir leicht. Obgleich selbst jung und lebens- froh, als Tochter eines Alusikers ein ganzes Künst- lerblut, von Hause aus übrigens schon an Ent- behrung gewöhnt, bewies Konstanze allen guten Willen, dem Unheil an der Quelle zu steuern, man- ches Verkehrte abzuschneiden und den Verlust im Großen durch Sparsamkeit im Kleinen zu ersetzen. Nur eben in letzterer Hinsicht vielleicht ermangelte sie des rechten Geschicks und der frühern Erfah- rung. Sie hatte die Kasse und führte das Hausbuch: jede Forderung, jede Schuldmahnung, und was es Verdrießliches gab, ging ausschließlich an sie. Da stieg ihr wohl mitunter das Wasser an die Kehle, zumal wenn oft zu dieser Bedrängnis, zu Mangel, peinlicher Verlegenheit und Furcht vor offenbarer Unehre noch gar der Trübsinn ihres Mannes kam, worin er tagelang verharrte, untätig, keinem Trost zugänglich, indem er mit Seufzen und Kla- gen neben der Frau oder stumm in einem Winkel vor sich hin den einen traurigen Gedanken, zu 269 sterben, wie eine endlose Schraube verfolgte. Ihr guter Mut verließ sie dennoch selten, ihr heller Blick fand meist, wenn auch nur auf einige Zeit, Rat und Hilfe. Im wesentlichen wurde wenig oder nichts gebessert. Gewann sie ihm mit Ernst und Scherz, mit Bitten und Schmeicheln für heute so viel ab, daß er den Tee an ihrer Seite trank, sich seinen Abendbraten daheim bei der Familie schmecken ließ, um nachher nicht mehr auszuge- hen, was war damit erreicht? Er konnte wohl ein- mal, durch ein verweintes Auge seiner Frau plötz- lich betroffen und bewegt, eine schlimme Gewohn- heit aufrichtig verwünschen, das Beste verspre- chen, mehr als sie verlangte — umsonst, er fand sich unversehens im alten Fahrgeleise wieder. Man war versucht zu glauben, es habe anders nicht in seiner Macht gestanden, und eine völlig veränder- te Ordnung nach unseren Begriffen von dem, was allen Menschen ziemt und frommt, ihm irgendwie gewaltsam aufgedrungen, müßte das wunderbare Wesen geradezu selbst aufgehoben haben. Einen günstigen Umschwung der Dinge hoffte Konstanze doch stets insoweit, als derselbe von außen her möglich war: durch eine gründliche Verbesserung ihrer ökonomischen Lage, wie sol- che bei dem wachsenden Ruf ihres Mannes nicht ausbleiben könne. Wenn erst, so meinte sie, der stete Druck wegfiel, der sich auch ihm, bald näher, bald entfernter, von dieser Seite fühlbar machte, wenn er, anstatt die Hälfte seiner Kraft und Zeit dem bloßen Gelderwerb zu opfern, ungeteilt sei- ner wahren Bestimmung nachleben dürfe, wenn endlich der Genuß, nach dem er nicht mehr jagen, 270 den er mit ungleich besserem Gewissen haben würde, ihm noch einmal so wohl an Leib und See- le gedeihe: dann sollte bald sein ganzer Zustand leichter, natürlicher, ruhiger werden. Sie dachte gar an einen gelegentlichen Wechsel ihres Wohn- orts, da seine unbedingte Vorliebe für Wien, wo nun einmal nach ihrer Überzeugung kein rechter Segen für ihn sei, am Ende doch zu überwinden wäre. Den nächsten entscheidenden Vorschub aber zur Verwirklichung ihrer Gedanken und Wünsche versprach sich Madame Mozart vom Erfolg der neuen Oper, um die es sich bei dieser Reise han delte. Die Komposition war weit über die Hälfte vor- geschritten. Vertraute, urteilsfähige Freunde, die, als Zeugen der Entstehung des außerordentlichen Werks, einen hinreichenden Begriff von seiner Art und Wirkungsweise haben mußten, sprachen über- all davon in einem Tone, daß viele selber von den Gegnern darauf gefaßt sein konnten, es werde dieser Don Juan, bevor ein halbes Jahr verginge, die gesamte musikalische Welt von einem Ende Deutschlands bis zum andern erschüttert, auf den Kopf gestellt, im Sturm erobert haben. Vorsichti- ger und bedingter waren die wohlwollenden Stim- men anderer, die, von dem heutigen Standpunkt der Musik ausgehend, einen allgemeinen und ra- schen Sukzeß kaum hofften. Der Meister selber teilte im stillen ihre nur zu wohl begründeten Zweifel. Konstanze ihrerseits, wie die Frauen immer, wo ihr Gefühl einmal lebhaft bestimmt und noch dazu 271 vom Eifer eines höchst gerechten Wunsches ein- genommen ist, durch spätere Bedenklichkeiten von da und dorther sich viel seltener als die Män- ner irremachen lassen, hielt fest an ihrem guten Glauben und hatte eben jetzt im Wagen wiederum Veranlassung, denselben zu verfechten. Sie tat's in ihrer fröhlichen und blühenden Manier mit dop- pelter Geflissenheit, da Mozarts Stimmung im Verlauf des vorigen Gesprächs, das weiter zu nichts führen konnte und deshalb äußerst unbe- friedigend abbrach, bereits merklich gesunken war. Sie setzte ihrem Gatten sofort mit gleicher Heiterkeit umständUch auseinander, wie sie nach ihrer Heimkehr die mit dem Prager Unternehmer als Kaufpreis für die Partitur akkordierten hun- dert Dukaten zur Deckung der dringendsten Po- sten und sonst zu verwenden gedenke, auch wie sie zufolge ihres Etats den kommenden Winter hin- durch bis zum Frühjahr gut auszureichen hoffe. „Dein Herr Bondini wird sein Schäfchen an der Oper scheren, glaub' es nur 1 und ist er halb der Ehrenmann, den du ihn immer rühmst, so läßt er dir nachträglich noch ein artiges Prozentchen von den Summen ab, die ihm die Bühnen nacheinander für die Abschrift zahlen; wo nicht, nun ja, gottlob ! so stehen uns noch andere Chancen in Aussicht, und zwar noch tausendmal solidere. Mir ahnet allerlei." ,, Heraus damit !" „Ich hörte unlängst ein Vögelchen pfeifen, der König von Preußen hab' einen Kapellmeister nötig." „Oho!" 272 „Generalmusikdirektor, wollt' ich sagen. Laß mich ein wenig phantasieren I Die Schwachheit habe ich von meiner Mutter." „Nur zu I je toller, je besser I" „Nein, alles ganz natürlich. — Vornweg also nimm an 1 übers Jahr um diese Zeit — " ,,Wenn der Papst die Grete freit — " „Still doch, Hanswurst ! Ich sage, aufs Jahr um Sankt Ägidi muß schon längst kein kaiserlicher Kammerkomponist mit Namen Wolf Mozart in Wien mehr weit und breit zu finden sein." „Beiß dich der Fuchs dafür 1" ,,Ich höre schon im Geist, wie unsere alten Freunde von uns plaudern, was sie sich alles zu erzählen wissen." „Zum Exempel?" ,,Da kommt zum Beispiel eines Morgens früh nach neun schon unsere alte Schwärmerin, die Volkstett, in ihrem feurigsten Besuchssturmschritt quer übern Kohlmarkt hergesegelt. Sie war drei Monat' fort; die große Reise zum Schwager in Sachsen, ihr tägliches Gespräch, so lang wir sie kennen, kam endlich zustand'; seit gestern nacht ist sie zurück, und jetzt mit ihrem übervollen Her- zen — es schwattelt ganz von Reiseglück und Freundschaftsungeduld und allerliebsten Neuig- keiten — stracks hin zur Oberstin damit ! die Trepp' hinauf und angeklopft und das Herein nicht abgewartet ! Stell' dir den Jubel selber vor und das Embrassement beiderseits ! — Nun, lieb- ste, beste Oberstin, hebt sie nach einigem Vor- gängigen mit frischem Odem an, ich bringe Ihnen ein Schock Grüße mit; ob Sie erraten von wem? 10 Romantiker 273 Ich komme nicht so geradeswegs von Stendal her, es wurde ein Icleiner Abstecher gemacht, linkshin, nach Brandenburg zu. — Wie? war' es möglich! Sie kamen nach Berlin? sind bei Mozarts gewe- sen? — Zehn himmlische Tage ! — O liebe, süße, einzige Generalin, erzählen Sie,, beschreiben Sie ! Wie geht es unsern guten Leutchen? Gefallen sie sich immer noch so gut wie anfangs dort? Es ist mir fabelhaft, undenkbar, heute noch, und jetzt nur desto mehr, da Sie von ihm herkommen: Mo- zart als Berliner ! Wie benimmt er sich doch? wie sieht er denn aus? — O der ! Sie sollten ihn nur sehen ! Diesen Sommer hat ihn der König ins Karlsbad geschickt. Wann wäre seinem herzge- liebten Kaiser Joseph so etwas eingefallen, he? Sie waren beide kaum erst wieder da, als ich hinkam. Er glänzt von Gesundheit und Leben, ist rund und beleibt und vif wie Quecksilber; das Glück sieht ihm und die Behaglichkeit recht aus den Augen." Und nun begann die Sprecherin in ihrer ange- nommenen Rolle die neue Lage mit den hellsten Farben auszumalen. Von seiner Wohnung unter den Linden, von seinem Garten und Landhaus an bis zu den glänzenden Schauplätzen seiner öffent- lichen Wirksamkeit und den engeren Zirkeln des Hofs, wo er die Königin auf dem Piano zu beglei- ten hatte, wurde alles durch ihre Schilderung gleichsam zur Wirklichkeit und Gegenwart. Gan- ze Gespräche, die schönsten Anekdoten schüttelte sie aus dem Ärmel. Sie schien fürwahr mit jener Residenz, mit Potsdam und mit Sanssouci bekann- ter als im Schlosse zu Schönbrunn und auf der kaiserlichen Burg. Nebenbei war sie schalkhaft ge- 274 nug, die Person unsers Helden mit einer Anzahl völlig neuer hausväterlicher Eigenschaften auszu- statten, die sich auf dem soliden Boden der preußi- schen Existenz entwickelt hatten, und unter wel- chen die besagte Volkstett, als höchstes Phänomen und zum Beweis, wie die Extreme sich manchmal berühren, den Ansatz eines ordentlichen Geizchens wahrgenommen hatte, das ihn unendlich liebens- würdig kleide. „Ja, nehmen S' nur 1 er hat drei- tausend Taler fix, und das wofür? Daß er die Woche einmal ein Kammerkonzert, zweimal die große Oper dirigiert. Ach, Oberstin, ich habe ihn gesehn, unsern Lieben, kleinen, goldenen Mann in- mitten seiner trefflichen Kapelle, die er sich zuge- schult, die ihn anbetet ! saß mit der Mozartin in ihrer Loge, schräg gegen den höchsten Herrschaf- ten über ! Und was stand auf dem Zettel, bitte Sie? — ich nahm ihn mit für Sie — ein kleines Reis'präsent von mir und Mozarts drein gewickelt — hier schauen Sie, hier lesen Sie ! da steht's mit ellenlangen Buchstaben gedruckt. — Hilf Him- mel ! was? Tarar ! — Ja, gelten S', Freundin, was man erleben kann ! Vor zwei Jahren, wie Mozart den Don Juan schrieb und der verwünschte gif- tige, schwarzgelbe Salieri auch schon im stillen Anstalt machte, den Triumph, den er mit seinem Stück davontrug in Paris, demnächst auf seinem eigenen Territorio zu begehen und unserem guten, Schnepfen liebenden, allzeit in Cosa rara vergnüg- ten Publikum nun doch auch mal so eine Gattung Falken sehn zu lassen, und er und seine Helfers- helfer bereits zusammen munkelten und raffinier- ten, daß sie den Don Juan so schön gerupft wie 275 jenesmal den Figaro, nicht tot und nicht lebendig, auf das Theater stellen wollten: wissen S', da tat ich ein Gelübd', wenn das infame Stück gegeben wird, ich geh' nicht hin, um keine Welt 1 Und hielt auch Wort. Als alles lief und rannte — und, Oberstin, Sie mit — , blieb ich an meinem Ofen sitzen, nahm meine Katze auf den Schoß und aß meine Kaldausche, und so die folgenden paar Male auch. Jetzt aber, stellen Sie sich vor, Tarar auf der Berliner Opernbühne, das Werk seines Todfeinds, von Mozart dirigiert ! — Da müssen Sie schon drein ! rief er gleich in der ersten Viertelstunde, und wär's auch nur, daß Sie den Wienern sagen können, ob ich dem Knaben Absalon ein Härchen krümmen ließ. Ich wünschte, er war' selbst dabei; der Erzneidhammel sollte sehen, daß ich nicht nötig hab', einem andern sein Zeug zu verhunzen, damit ich immerfort der bleiben möge, der ich bin !" „Brava ! bravissima !" rief Mozart überlaut und nahm sein Weibchen bei den Ohren, verküßte, herzte, kitzelte sie, so daß sich dieses Spiel mit bun- ten Seifenblasen einer erträumten Zukunft, die leider niemals, auch nicht im bescheidensten Maße, erfüllt werden sollte, zuletzt in hellen Mutwillen, Lärm und Gelächter auflöste. Sie waren unterdessen längst ins Tal herabge- kommen und näherten sich einem Dorf, das ihnen bereits auf der Höhe bemerklich gewesen, und hin- ter welchem sich unmittelbar ein kleines Schloß von modernem Ansehen, der Wohnsitz eines Gra- fen von Schinzberg, in der freundlichen Ebene zeigte. Es sollte in dem Ort gefüttert, gerastet und 276 Mittag gehalten werden. Der Gasthof, wo sie hiel- ten, lag vereinzelt am Ende des Dorfs bei der Straße, von welcher seitwärts eine Pappelallee von nicht sechshundert Schritten zum herrschaftlichen Garten führte. Mozart, nachdem man ausgestiegen, überließ, wie gewöhnlich, der Frau die Bestellung des Es- sens . Inzwischen befahl er für sich ein Glas Wein in die untere Stube, während sie nächst einem Trünke frischen Wassers nur irgendeinen stillen Winkel, um ein Stündchen zu schlafen, verlangte. Man führte sie eine Treppe hinauf, der Gatte folgte, ganz munter vor sich hin singend und pfeifend. In einem rein geweißten und schnell gelüfteten Zimmer befand sich unter andern veralteten Mö- beln von edlerer Herkunft — sie waren ohne Zwei- fel aus den gräflichen Gemächern seinerzeit hier- hergewandert — ein sauberes, leichtes Bett mit gemaltem Himmel auf dünnen, grün lackierten Säulen, dessen seidene Vorhänge längst durch einen gewöhnlicheren Stoff ersetzt waren. Kon- stanze machte sich's bequem, er versprach, sie rechtzeitig zu wecken, sie riegelte die Tür hinter ihm zu, und er suchte nunmehr Unterhaltung für sich in der allgemeinen Schenkstube. Hier war jedoch außer dem Wirt keine Seele, und weil des- sen Gespräch dem Gast so wenig wie sein Wein behagte, so bezeigte er Lust, bis der Tisch bereit wäre, noch einen Spaziergang nach dem Schloß- garten zu machen. Der Zutritt, hörte er, sei an- ständigen Fremden wohl gestattet und die Familie überdies heut ausgefahren. Er ging und hatte bald den kurzen Weg bis zu 277 dem offenen Gattertor zurückgelegt, dann lang- sam einen hohen alten Lindengang durchmessen, an dessen Ende linker Hand er in geringer Ent- fernung das Schloß von seiner Fronte auf einmal vor sich hatte. Es war von italienischer Bauart, hell getüncht, mit weit vorliegender Doppeltrep- pe; das Schieferdach verzierten einige Statuen in üblicher Manier, Götter und Göttinnen, samt einer Balustrade. Von der Mitte zweier großen, noch reichlich blühenden Blumenparterre ging unser Meister nach dem buschigen Teil der Anlagen zu, berührte ein paar schöne dunkle Piniengruppen und lenkte seine Schritte auf vielfach gewundenen Pfaden, indem er sich allmählich den lichteren Partien wie- der näherte, dem lebhaften Rauschen eines Spring- brunnens nach, den er sofort erreichte. Das ansehnlich weite, ovale Bassin war rings von einer sorgfältig gehaltenen Orangerie in Kü- beln, abwechselnd mit Lorbeeren und Oleandern, umstellt; ein weicher Sandweg, gegen den sich eine schmale Gitterlaube öffnete, lief rund umher. Die Laube bot das angenehmste Ruheplätzchen dar: ein kleiner Tisch stand vor der Bank, und Mozart ließ sich vorn am Eingang nieder. Das Ohr behaglich dem Geplätscher des Was- sers hingegeben, das Aug' auf einen Pomeranzen- baum von mittlerer Größe geheftet, der außer- halb der Reihe, einzeln, ganz dicht an seiner Seite auf dem Boden stand und voll der schönsten Früchte hing, ward unser Freund durch diese An- schauung des Südens alsbald auf eine liebliche Erinnerung aus seiner Knabenzeit geführt. Nach- 278 denklich lächelnd reicht er hinüber nach der näch- sten Frucht, als wie um ihre herrliche Runde, ihre saftige Kühle in hohler Hand 2u fühlen. Ganz im Zusammenhang mit jener Jugendszene aber, die wieder vor ihm aufgetaucht, stand eine längst ver- wischte musikalische Reminiszenz, auf deren un- bestimmter Spur er sich ein Weilchen träumerisch erging. Jetzt glänzen seine Blicke, sie irren da und dort umher, er ist von einem Gedanken ergriffen, den er sogleich eifrig verfolgt. Zerstreut hat er zum zweiten Male die Pomeranze angefaßt: sie geht vom Zweige los und bleibt ihm in der Hand. Er sieht und sieht es nicht; ja, so weit geht die künstlerische Geistesabwesenheit, daß er, die duf- tige Frucht beständig unter der Nase hin und her wirbelnd und bald den Anfang, bald die Mitte einer Weise unhörbar zwischen den Lippen be- wegend, zuletzt instinktmäßig ein emailliertes Etui aus der Seitentasche des Rocks hervorbringt, ein kleines Messer mit silbernem Heft daraus nimmt und die gelbe kugelige Masse von oben nach unten langsam durchschneidet. Es mochte ihn dabei entfernt ein dunkles Durstgefühl gelei- tet haben, jedoch begnügten sich die angeregten Sinne mit Einatmung des köstlichen Geruchs. Er starrt minutenlang die beiden inneren Flächen an, fügt sie sachte wieder zusammen, ganz sachte, trennt und vereinigt sie wieder. Da hört er Tritte in der Nähe, er erschrickt, und das Bewußtsein, wo er ist, was er getan, stellt sich urplötzlich bei ihm ein. Schon im Begriff, die Pomeranze zu verbergen, hält er doch gleich da- mit inne, sei es aus Stolz, sei's, weil es zu spät dazu 279 war. Ein großer, breitschulteriger Mann in Livree, der Gärtner des Hauses, stand vor ihm. Derselbe hatte wohl die letzte verdächtige Bewegung noch gesehen und schwieg betroffen einige Sekunden. Mozart, gleichfalls sprachlos, auf seinem Sitz wie angenagelt, schaute ihm halb lachend, unter sicht- barem Erröten, doch gewissermaßen keck und groß mit seinen blauen Augen ins Gesicht; dann setzte er — für einen dritten wäre es höchst ko- misch anzusehen gewesen — die scheinbar un- verletzte Pomeranze mit einer Art von trotzig cou- ragiertem Nachdruck in die Mitte des Tisches. ,, Um Vergebung !"fing jetzt der Gärtner, nach- dem er den wenig versprechenden Anzug des Fremden gemustert, mit unterdrücktem Unwillen an, ,,ich weiß nicht, wen ich hier — " „Kapellmeister Mozart aus Wien.*' „Sind ohne Zweifel bekannt im Schloß?" „Ich bin hier fremd und auf der Durchreise. Ist der Herr Graf anwesend?" „Nein." ,, Seine Gemahlin?" ,,Sind beschäftigt und schwerlich zu sprechen." Mozart stand auf und machte Miene zu gehen. „Mit Erlaubnis, mein Herr ! wie kommen Sie dazu, an diesem Ort auf solche Weise zuzugrei- fen?" „Was?" rief Mozart, ,, zugreifen? Zum Teufel 1 glaubt Er denn, ich wollte stehlen und das Ding da fressen?" „Mein Herr, ich glaube, was ich sehe. Diese Früchte sind gezählt, ich bin dafür verantwort- lich. Der Baum ist vom Herrn Grafen zu einem 280 Fest bestimmt, soeben soll er weggebracht wer- den. Ich lasse Sie nicht fort, ehbevor ich die Sache gemeldet und Sie mir selbst bezeugten, wie das da zugegangen ist." ,, Sei's drum ! Ich werde hier so lange warten. Verlass' Er sich darauf!" Der Gärtner sah sich zögernd um, und Mozart, in der Meinung, es sei vielleicht nur auf ein Trink- geld abgesehen, griff in die Tasche; allein er hatte das geringste nicht bei sich. Zwei Gartenknechte kamen nun wirklich her- bei, luden den Baum auf eine Bahre und trugen ihn hinweg. Inzwischen hatte unser Meister seine Brieftasche gezogen, ein weißes Blatt herausge- nommen und, während daß der Gärtner nicht von der Stelle wich, mit Bleistift angefangen zu schrei- ben: ,, Gnädigste Frau ! Hier sitze ich Unseliger in Ihrem Paradiese, wie weiland Adam, nachdem er den Apfel gekostet. Das Unglück ist geschehen, und ich kann nicht einmal die Schuld auf eine gute Eva schieben, die eben jetzt, von Grazien und Amoretten eines Himmelbetts umgaukelt, im Gasthof sich des unschuldigsten Schlafes erfreut. Befehlen Sie, und ich stehe persönlich Ihro Gna- den Rede über meinen mir selbst unfaßlichen Frevel. Mit aufrichtiger Beschämung Hochdero untertänigster Diener W. A. Mozart, auf dem Wege nach Prag." Er übergab das Billett, ziemlich ungeschickt 281 zusammengefaltet, dem peinlich wartenden Die- ner mit der nötigen Weisung. Der Unhold hatte sich nicht sobald entfernt, als man an der hinteren Seite des Schlosses ein Gefährt in den Hof rollen hörte. Es war der Graf, der eine Nichte und ihren Bräutigam, einen jungen reichen Baron, vom benachbarten Gut herüber- brachte. Da die Mutter des letzteren seit Jahren das Haus nicht mehr verließ, war die Verlobung heute bei ihr gehalten worden; nun sollte dieses Fest in einer fröhlichen Nachfeier mit einigen Ver- wandten auch hier begangen werden, wo Eugenie, gleich ihrer eigenen Tochter, seit ihrer Kindheit eine zweite Heimat fand. Die Gräfin war mit ih- rem Sohne Max, dem Leutnant, etwas früher nach Hause gefahren, um noch verschiedene Anord- nungen zu treffen. Nun sah man in dem Schlosse alles auf Gängen und Treppen in voller Bewe- gung, und nur mit Mühe gelang es dem Gärtner, im Vorzimmer endlich den Zettel der Frau Gräfin einzuhändigen, die ihn jedoch nicht auf der Stelle öffnete, sondern, ohne genau auf die Worte des Überbringers zu achten, geschäftig weitereilte. Er wartete und wartete, sie kam nicht wieder. Eins um das andere von der Dienerschaft, Aufwärter, Zofe, Kammerdiener, rannte an ihm vorbei; er fragte nach dem Herrn: der kleidete sich um; er suchte nun und fand den Grafen Max auf seinem Zimmer, der aber unterhielt sich angelegentlich mit dem Baron und schnitt ihm, wie in Sorge, er wolle etwas melden oder fragen, wovon noch nichts verlauten sollte, das Wort vom Munde ab: „Ich komme schon; geht nur!" Es stand noch 282 eine gute Weile an, bis endlich Vater und Sohn zugleich herauskamen und die fatale Nachricht empfingen. „Das war' ja höllenmäßig !" rief der dicke, gut- mütige, doch etwas jähe Mann, ,,das geht ja über alle Begriffe ! Ein Wiener Musikus, sagt Ihr? Ver- mutlich irgend solch ein Lump, der um ein Viati- kum läuft und mitnimmt, was er findet?" „Verzeihen Ew. Gnaden ! danach sieht er gerad nicht aus. Er deucht mir nicht richtig im Kopf, auch ist er sehr hochmütig. Moser nennt er sich. Er wartet unten auf Bescheid; ich hieß den Franz um den Weg bleiben und ein Aug' auf ihn haben." „Was hilft es hinterdrein, zum Henker ! Wenn ich den Narren auch einstecken lasse, der Schaden ist nicht mehr zu reparieren. Ich sagt' Euch tau- sendmal, das vordere Tor soll allezeit geschlossen bleiben. Der Streich war' aber jedenfalls verhütet worden, hättet Ihr zur rechten Zeit Eure Zurü- stungen gemacht." Hier trat die Gräfin hastig und mit freudiger Aufregung, das offene Billett in der Hand, aus dem anstoßenden Kabinett. ,,Wißt ihr," rief sie, ,,wer unten ist? Um Gottes willen, lest den Brief! — Mozart aus Wien, der Komponist ! Man muß gleich gehen, ihn heraufzubitten — ich fürchte nur, er ist schon fort. Was wird er von mir den- ken ! Ihr, Veiten, seid ihm doch höflich begegnet? Was ist denn eigentlich geschehen?" „Geschehn ?"versetzte der Gemahl, dem die Aus- sicht auf den Besuch eines berühmten Mannes un- möglich allen Ärger auf der Stelle niederschlagen konnte. „Der tolle Mensch hat von dem Baum, 283 den ich Eugenien bestimmte, eine der neun Oran- gen abgerissen — hm ! das Ungeheuer 1 Somit ist unserem Spaß geradezu die Spitze abgebrochen, und Max mag sein Gedicht nur gleich kassieren." „O nicht doch !" sagte die dringende Dame. „Die Lücke läßt sich leicht ausfüllen, überlaßt es nur mir. Geht beide jetzt, erlöst, empfangt den guten Mann, so freundlich und so schmeichelhaft ihr immer könnt ! Er soll, wenn wir ihn irgend halten können, heut nicht weiter. Trefft ihr ihn nicht im Garten mehr, sucht ihn im Wirtshaus auf und bringet ihn mit seiner Frau I Ein größeres Geschenk, eine schönere Überraschung für Euge- nien hätte der Zufall uns an diesem Tage nicht machen können." „Gewiß 1" erwiderte Max, „dies war auch mein erster Gedanke. Geschwinde, kommen Sie, Papa I Und" — sagte er, indem sie eilends nach der Trep- pe liefen — „der Verse wegen seien Sie ganz ru- hig ! Die neunte Muse soll nicht zu kurz kommen: im Gegenteil, ich werde aus dem Unglück noch besondern Vorteil ziehen." — „Das ist unmög- lich." — „Ganz gewiß !" — „Nun, wenn das ist — allein, ich nehme dich beim Wort — so wollen wir dem Querkopf alle erdenkliche Ehre erzei- gen. Solange dies im Schloß vorging, hatte sich un- ser Quasigefangener, ziemlich unbesorgt über den Ausgang der Sache, geraume Zeit schreibend be- schäftigt. Weil sich jedoch gar niemand sehen ließ, fing er an, unruhig hin und her zu gehen; darüber kam dringliche Botschaft vom Wirtshaus, der Tisch sei schon bereit, er möchte ja gleich kom- 284 men, der Postillion pressiere. So suchte er denn seine Sachen zusammen und wollte ohne weiteres aufbrechen, als beide Herren vor der Laube er- schienen. Der Graf begrüßte ihn, beinah wie einen frü- heren Bekannten, lebhaft mit seinem kräftig schal- lenden Organ, ließ ihn zu gar keiner Entschuldi- gung kommen, sondern erklärte sogleich seinen Wunsch, das Ehepaar zum wenigsten für diesen Mittag und Abend im Kreis seiner FamiHe zu ha- ben. „Sie sind uns, mein liebster Maestro, so we- nig fremd, daß ich wohl sagen kann, der Name Mozart wird schwerlich anderswo mit mehr Be- geisterung und häufiger genannt als hier. Meine Nichte singt und spielt, sie bringt fast ihren gan- zen Tag am Flügel zu, kennt Ihre Werke auswen- dig und hat das größte Verlangen, Sie einmal in mehrerer Nähe zu sehen, als es vorigen Winter in einem Ihrer Konzerte anging. Da wir nun dem- nächst auf einige Wochen nach Wien gehen wer- den, so war ihr eine Einladung beim Fürsten Gal- Hzin, wo man Sie öfter findet, von den Verwand- ten versprochen. Jetzt aber reisen Sie nach Prag, werden sobald nicht wiederkehren, und Gott weiß, ob Sie der Rückweg zu uns führt. Machen Sie heute und morgen Rasttag ! Das Fuhrwerk schicken wir sogleich nach Hause, und mir erlau- ben Sie die Sorge für Ihr Weiterkommen." Der Komponist, welcher in solchen Fällen der Freundschaft oder dem Vergnügen leicht zehnmal mehr, als hier gefordert war, zum Opfer brachte, besann sich nicht lange: er sagte diesen einen hal- ben Tag mit Freuden zu, dagegen sollte morgen 285 mit dem frühesten die Reise fortgesetzt werden. Graf Max erbat sich das Vergnügen, Madame Mozart abzuholen und alles Nötige im Wirtshaus abzumachen. Er ging; ein Wagen sollte ihm gleich auf dem Fuße nachfolgen. Von diesem jungen Mann bemerken wir bei- läufig, daß er mit einem von Vater und Mutter angeerbten heitern Sinn Talent und Liebe für schöne Wissenschaften verband und ohne wahre Neigung zum Soldatenstand sich doch als Offizier durch Kenntnisse und gute Sitten hervortat. Er kannte die französische Literatur und erwarb sich zu einer Zeit, wo deutsche Verse in der höheren Gesellschaft wenig galten, Lob und Gunst durch eine nicht gemeine Leichtigkeit der poetischen Form in der Muttersprache nach guten Mustern, wie er sie in Hagedorn, in Götz und andern fand. Für heute war ihm nun, wie wir bereits vernah- men, ein besonders erfreulicher Anlaß geworden, seine Gabe zu nutzen. Er traf Madame Mozart, mit der Wirtstochter plaudernd, vor dem gedeckten Tisch, wo sie sich einen Teller Suppe vorausgenommen hatte. Sie war an außerordentliche Zwischenfälle, an kecke Stegreifsprünge ihres Manns zu sehr gewöhnt, als daß sie über die Erscheinung und den Auftrag des jungen Offiziers mehr als billig hätte betreten sein können. Mit unverstellter Heiterkeit, beson- nen und gewandt, besprach und ordnete sie unge- säumt alles Erforderliche selbst. Es wurde um- gepackt, bezahlt, der Postillion entlassen; sie machte sich, ohne zu große Ängstlichkeit in Her- stellung ihrer Toilette, fertig und fuhr mit dem 286 Begleiter wohlgemut dem Schlosse zu, nicht ah- nend, auf welche sonderbare Weise ihr Gemahl sich dort eingeführt hatte. Der befand sich inzwischen bereits sehr behag- üch daselbst und auf das beste unterhalten. Nach kurzer Zeit sah er Eugenien mit ihrem Verlobten: ein blühendes, höchst anmutiges, inniges Wesen. Sie war blond, ihre schlanke Gestalt in karmoisin- rote, leuchtende Seide mit kostbaren Spitzen fest- Hch gekleidet, um ihre Stirn ein weißes Band mit edlen Perlen. Der Baron, nur wenig älter als sie, von sanftem, offenem Charakter, schien ihrer wert in jeder Rücksicht. Den ersten Aufwand des Gesprächs bestritt, fast nur zu freigebig, der gute, launige Hausherr vermöge seiner etwas lauten, mit Spaßen und Histörchen sattsam gespickten Unterhaltungs- weise. Es wurden Erfrischungen gereicht, die un- ser Reisender im mindesten nicht schonte. Eines hatte den Flügel geöffnet, Figaros Hoch- zeit lag aufgeschlagen, und das Fräulein schickte sich an, von dem Baron akkompagniert, die Arie Susannas in jener Gartenszene zu singen, wo wir den Geist der süßen Leidenschaft stromweise, wie die gewürzte sommerliche Abendluft, einatmen. Die feine Röte auf Eugeniens Wangen wich zwei Atemzüge lang der äußersten Blässe; doch mit dem ersten Ton, der klangvoll über ihre Lippen kam, fiel ihr jede beklemmende Fessel vom Busen. Sie hielt sich lächelnd, sicher auf der hohen Woge, und das Gefühl dieses Moments, des einzigen in seiner Art vielleicht für alle Tage ihres Lebens, begeisterte sie billig. 287 Mozart war offenbar überrascht. Als sie geen- digt hatte, trat er zu ihr und fing mit seinem un- gezierten Herzensausdruck; an: „Was soll man sagen, liebes Kind, hier, wo es ist wie mit der lie- ben Sonne, die sich am besten selber lobt, indem es gleich jedermann wohl in ihr wird ! Bei solchem Gesang ist der Seele zumut wie dem Kindchen im Bad: es lacht und wundert sich und weiß sich in der Welt nichts Besseres. Übrigens glauben Sie mir ! unsereinem in Wien begegnet es nicht jeden Tag, daß er so lauter, ungeschminkt und warm, ja so komplett sich selber zu hören bekommt." — Damit erfaßte er ihre Hand und küßte sie herzlich. Des Mannes hohe Liebenswürdigkeit und Güte nicht minder als das ehrenvolle Zeugnis, wodurch er ihr Talent auszeichnete, ergriff Eugenien mit jener unwiderstehlichen Rührung, die einem leich- ten Schwindel gleicht, und ihre Augen wollten sich plötzlich mit Tränen anfüllen. Hier trat Madame Mozart zur Tür herein, und gleich darauf erschienen neue Gäste, die man er- wartet hatte: eine dem Haus sehr eng verwandte freiherrliche Familie aus der Nähe mit einer Toch- ter, Franziska, die seit den Kinderjahren mit der Braut durch die zärtlichste Freundschaft verbun- den und hier wie daheim war. Man hatte sich allerseits begrüßt, umarmt, be- glückwünscht, die beiden Wiener Gäste vorge- stellt, und Mozart setzte sich an den Flügel. Er spielte einen Teil eines Konzerts von seiner Kom- position, welches Eugenie soeben einstudierte. Die Wirkung eines solchen Vortrags in einem kleinen Kreis, wie der gegenwärtige, unterschei- 288 det sich natürlicherweise von jedem ähnHchen an einem öffentlichen Orte durch die unendliche Be- friedigung, die in der unmittelbaren Berührung mit der Person des Künstlers und seinem Genius innerhalb der häuslichen bekannten Wände liegt. Es war eines jener glänzenden Stücke, worin die reine Schönheit sich einmal, wie aus Laune, freiwillig in den Dienst der Eleganz begibt, so aber, daß sie, gleichsam nur verhüllt in diese mehr willkürlich spielenden Formen und hinter einer Menge blendender Lichter versteckt, doch in jeder Bewegung ihren eigensten Adel verrät und ein herrliches Pathos verschwenderisch ausgießt. Die Gräfin machte für sich die Bemerkung, daß die meisten Zuhörer, vielleicht Eugenie selbst nicht ausgenommen, trotz der gespanntesten Auf- merksamkeit und aller feierlichen Stille während eines bezaubernden Spiels doch zwischen Auge und Ohr gar sehr geteilt waren. In unwillkürlicher Beobachtung des Komponisten, seiner schlichten, beinahe steifen Körperhaltung, seines gutmütigen Gesichts, der rundlichen Bewegung dieser kleinen Hände war es gewiß auch nicht leicht möglich, dem Zudrang tausendfacher Kreuz- und Quer- gedanken über den Wundermann zu widerstehen. Zu Madame Mozart gewendet, sagte der Graf, nachdem der Meister aufgestanden war: ,, Einem berühmten Künstler gegenüber, wenn es ein Ken- nerlob zu spitzen gilt, das halt nicht eines jeden Sache ist, wie haben es die Könige und Kaiser gut ! Es nimmt sich eben alles einzig und außer- ordentlich in einem solchen Munde aus. Was dür- fen sie sich nicht erlauben 1 und wie bequem ist 289 es zum Beispiel, dicht hinterm Stuhl Ihres Herrn Gemahls, beim Schlußakkord einer brillanten Phantasie dem bescheidenen klassischen Mann auf die Schulter zu klopfen und zu sagen: Sie sind ein Tausendsasa, lieber Mozart ! Kaum ist das Wort heraus, so geht's wie ein Lauffeuer durch den Saal: Was hat er gesagt? — Er sei ein Tausendsasa, hat er zu ihm gesagt. Und alles, was da geigt und fistuliert und komponiert, ist außer sich von die- sem einen Wort; kurzum, es ist der große Stil, der familiäre Kaiserstil, der unnachahmliche, um welchen ich die Josephs und die Friedrichs von je beneidet habe, und das nie mehr als eben jetzt, wo ich ganz in Verzweiflung bin, von anderwei- tiger geistreicher Münze zufällig keinen Deut in allen meinen Taschen anzutreffen." Die Art, wie der Schäker dergleichen vorbrach- te, bestach immerhin und rief unausbleiblich ein Lachen hervor. Nun aber, auf die Einladung der Hausfrau, ver- fügte die Gesellschaft sich nach dem geschmück- ten runden Speisesalon, aus welchem den Ein- tretenden ein festlicher Blumengeruch und eine kühlere, dem Appetit willkommene Luft entge- genwehte. Man nahm die schicklich ausgeteilten Plätze ein, und zwar der distinguierte Gast den seinigen dem Brautpaar gegenüber. Von einer Seite hatte er eine kleine ältliche Dame, eine unverheiratete Tante Franziskas, von der andern die junge rei- zende Nichte selbst zur Nebensitzerin, die sich durch Geist und Munterkeit ihm bald besonders zu empfehlen wußte. Frau Konstanze kam zwi- 290 sehen den Hauswirt und ihren freundlichen Ge- leitsmann, den Leutnant; die übrigen reihten sich ein, und so saß man zu elfen nach Möglichkeit bunt an der Tafel, deren unteres Ende leer blieb. Auf ihr erhoben sich mitten zwei mächtig große Porzellanaufsätze mit gemalten Figuren, breite Schalen, gehäuft voll natürlicher Früchte und Blumen, über sich haltend. An den Wänden des Saals hingen reiche Festons. Was sonst da war oder nach und nach folgte, schien einen ausge- dehnten Schmaus zu verkünden. Teils auf der Ta- fel zwischen Schüsseln und Platten, teils vom Serviertisch herüber im Hintergrund blinkte ver- schiedenes edle Getränk vom schwärzesten Rot bis hinauf zu dem gelblichen Weiß, dessen lustiger Schaum herkömmlich erst die zweite Hälfte eines Festes krönt. Bis gegen diesen Zeitpunkt hin bewegte sich die Unterhaltung, von mehreren Seiten gleich lebhaft genährt, in allen Richtungen. Weil aber der Graf gleich anfangs einigemal von weitem und jetzt nur immer näher und mutwilliger auf Mozarts Gartenabenteuer anpielte, so daß die einen heim- lich lächelten, die andern sich umsonst den Kopf zerbrachen, was er denn meine, so ging unser Freund mit der Sprache heraus. „Ich will in Gottes Namen beichten," fing er an, ,,auf was Art mir eigentlich die Ehre der Be- kanntschaft mit diesem edlen Haus geworden ist. Ich spiele dabei nicht die würdigste Rolle, und um ein Haar, so saß' ich jetzt, statt hier vergnügt zu tafeln, in einem abgelegenen Arrestantenwinkel des gräflichen Schlosses und könnte mir mit lee- 291 rem Magen die Spinneweben an der Wand herum betrachten." „Nun ja," rief Madame Mozart, „da werd' ich schöne Dinge hören !" Ausführlich nun beschrieb er erst, wie er im Weißen Roß seine Frau zurückgelassen, die Pro- menade in den Park, der Unstern in der Laube, den Handel mit der Gartenpolizei: kurz, ungefähr was wir schon wissen, gab er alles mit größter Treuherzigkeit und zum höchsten Ergötzen der Zuhörer preis. Das Lachen wollte fast kein Ende nehmen; selbst die gemäßigte Eugenie enthielt sich nicht, es schüttelte sie ordentlich. „Nun," fuhr er fort, „das Sprichwort sagt: Hat einer den Nutzen, dem Spott mag er trutzen ! Ich hab' meinen kleinen Profit von der Sache; Sie werden schon sehen. Vor allem aber hören Sie, wie's eigentlich geschah, daß sich ein alter Kinds- kopf so vergessen konnte. Eine Jugenderinnerung war mit im Spiele. Im Frühling 1770 reiste ich als dreizehnjähriges Bürschchen mit meinem Vater nach Italien. Wir gingen von Rom nach Neapel. Ich hatte zweimal im Konservatorium und sonst zu verschiedenen Malen gespielt. Adel und Geistlichkeit erzeigten uns manches Angenehme, vornehmlich attachierte sich ein Abbate an uns, der sich als Kenner schmeichelte und übrigens am Hofe etwas galt. Den Tag vor unserer Abreise führte er uns in Begleitung einiger anderer Herren in einen könig- lichen Garten, die Villa reale, bei einer prachtvol- len Straße geradhin am Meer gelegen, wo eine Bande sizilianischer commedianti sich produzierte 292 — figli di Nettuno, wie sie sich neben andern schönen Titeln auch nannten. Mit vielen vorneh- men Zuschauern, worunter selbst die junge lie- benswürdige Königin Karolina samt zwei Prin- zessen, saßen wir auf einer langen Reihe von Bänken im Schatten einer zeltartig bedeckten nie- dern Galerie, an deren Mauer unten die Wellen plätscherten. Das Meer mit seiner vielfarbigen Streifung strahlte den blauen Sonnenhimmel herr- lich wider. Gerade vor sich hat man den Vesuv, links schimmert, sanft geschwungen, eine reizende Küste herein. Die erste Abteilung der Spiele war vorüber; sie wurde auf dem trockenen Bretterboden einer Art von Flöße ausgeführt, die auf dem Wasser stand, und hatte nichts Besonderes; der zweite aber und der schönste Teil bestand aus lauter Schiffer-, Schwimm- und Taucherstücken und blieb mir stets mit allen Einzelheiten frisch im Gedächtnis eingeprägt. Von entgegengesetzter Seite her näherten sich einander zwei zierliche, sehr leicht gebaute Barken, beide, wie es schien, auf einer Lustfahrt begriffen. Die eine, etwas größere, war mit einem Halbver- deck versehen und nebst den Ruderbänken mit einem dünnen Mast und einem Segel ausgerüstet, auch prächtig bemalt, der Schnabel vergoldet. Fünf JüngHnge von idealischem Aussehen, kaum bekleidet. Arme, Brust und Beine dem Anschein nach nackt, waren teils an dem Ruder beschäftigt, teils ergötzten sie sich mit einer gleichen Anzahl artiger Mädchen, ihren Gehebten. Eine darunter, welche mitten auf dem Verdecke saß und Blumen- 293 kränze wand, zeichnete sich durch Wuchs und Schönheit sowie durch ihren Putz vor allen übri- gen aus. Diese dienten ihr willig, spannten gegen die Sonne ein Tuch über sie und reichten ihr die Blumen aus dem Korb. Eine Flötenspielerin saß zu ihren Füßen, die den Gesang der andern mit ihren hellen Tönen unterstützte. Auch jener vor- züglichen Schönen fehlte es nicht an einem eige- nen Beschützer; doch verhielten sich beide ziem- lich gleichgültig gegeneinander, und der Lieb- haber deuchte mir fast etwas roh. Inzwischen war das andere, einfachere Fahrzeug näher gekommen. Hier sah man bloß männliche Jugend. Wie jene Jünglinge Hochrot trugen, so war die Farbe der letztern Seegrün. Sie stutzten beim Anblick der lieblichen Kinder, winkten Grüße herüber und gaben ihr Verlangen nach näherer Bekanntschaft zu erkennen. Die munter- ste hierauf nahm eine Rose vom Busen und hielt sie schelmisch in die Höhe, gleichsam fragend, ob solche Gaben bei ihnen wohl angebracht wären, worauf von drüben allerseits mit unzweideutigen Gebärden geantwortet wurde. Die Roten sahen ver- ächtlich und finster darein, konnten aber nichts ma- chen, als mehrere der Mädchen einig wurden, den armen Teufeln wenigstens doch etwas für den Hunger und Durst zuzuwerfen. Es stand ein Korb voll Orangen am Boden: wahrscheinUch waren es nur gelbe Bälle, den Früchten ähnlich nachge- macht. Und jetzt begann ein entzückendes Schau- spiel unter Mitwirkung der Musik, die auf dem Uferdamm aufgestellt war. Eine der Jungfrauen machte den Anfang und 294 schickte fürs erste ein paar Pomeranzen aus leich- ter Hand hinüber, die dort mit gleicher Leichtig- keit aufgefangen, alsbald zurückkehrten; so ging es hin und her, und weil nach und nach immer mehr Mädchen zuhalfen, so flog's mit Pomeranzen bald dem Dutzend nach in immer schnellerem Tempo hin und wieder. Die Schöne in der Mitte nahm an dem Kampfe keinen Anteil, als daß sie höchst begierig von ihrem Schemel aus zusah. Wir konnten die GeschickUchkeit auf beiden Sei- ten nicht genug bewundern. Die Schiffe drehten sich auf etwa dreißig Schritte in langsamer Bewe- gung umeinander, kehrten sich bald die ganze Flanke zu, bald schief das halbe Vorderteil; es waren gegen vierundzwanzig Bälle unaufhörlich in der Luft, doch glaubte man in der Verwirrung ihrer viel mehr zu sehen. Manchmal entstand ein förmliches Kreuzfeuer, oft stiegen sie und fielen in einem hohen Bogen, kaum ging einmal einer und der andere fehl; es war, als stürzten sie von selbst durch eine Kraft der Anziehung in die ge- öffneten Finger. So angenehm jedoch das Auge beschäftigt wur- de, so Heblich gingen fürs Gehör die Melodien nebenher: siziHanische Weisen, Tänze, Saltarelli, Canzoni a ballo, ein ganzes Quodlibet, auf Gir- landenart leicht aneinandergehängt. Die jüngere Prinzeß, ein holdes, unbefangenes Geschöpf, etwa von meinem Alter, begleitete den Takt gar artig mit Kopfnicken; ihr Lächeln und die langen Wim- pern ihrer Augen kann ich noch heute vor mir sehen. Nun lassen Sie mich kürzlich den Verlauf der 295 Posse noch erzählen, obschon er weiter nichts zu meiner Sache tut ! Man kann sich nicht leicht etwas Hübscheres denken. Währenddem das Schauspiel ausging und nur noch einzelne Würfe gewechselt wurden, die Mädchen ihre goldenen Äpfel sam- melten und in den Korb zurückbrachten, hatte drüben ein Knabe, wie spielenderweis, ein breites, grüngestricktes Netz ergriffen und kurze Zeit un- ter dem Wasser gehalten; er hob es auf, und zum Erstaunen aller fand sich ein großer, blau, grün und gold schimmernder Fisch in demselben. Die Nächsten sprangen eifrig zu, um ihn herauszuho- len: da glitt er ihnen aus den Händen, als war' es wirklich ein lebendiger, und fiel in die See. Das war nun eine abgeredete Kriegslist, die Roten zu betören und aus dem Schiff zu locken. Diese, gleichsam bezaubert von dem Wunder, sobald sie merkten, daß das Tier nicht untertauchen wollte, nur immer auf der Oberfläche spielte, besannen sich nicht einen Augenblick, stürzten sich alle ins Meer, die Grünen ebenfalls, und also sah man zwölf gewandte, wohlgestalte Schwimmer den fliehenden Fisch zu erhaschen bemüht, indem er auf den Wellen gaukelte, minutenlang unter den- selben verschwand, bald da, bald dort, dem einen zwischen den Beinen, dem andern zwischen Brust und Kinn herauf, wieder zum Vorschein kam. Auf einmal, wie die Roten eben am hitzigsten auf ihren Fang aus waren, ersah die andere Partei ihren Vor- teil und erstieg schnell wie der Blitz das fremde, ganz den Mädchen überlassene Schiff unter gro- ßem Gekreische der letztern. Der nobelste der Burschen, wie ein Merkur gewachsen, flog mit 296 freudestrahlendem Gesicht auf die Schönste zu, umfaßte, küßte sie, die, weit entfernt in das Ge- schrei der andern einzustimmen, ihre Arme gleich- falls feurig um den ihr wohlbekannten Jüngling schlang. Die betrogene Schar schwamm zwar ei- lends herbei, wurde aber mit Rudern und Waffen vom Bord abgetrieben. Ihre unnütze Wut, das Angstgeschrei der Mädchen, der gewaltsame Wi- derstand einiger von ihnen, ihr Bitten und Flehen, fast erstickt vom übrigen Alarm, des Wassers, der Musik, die plötzlich einen andern Charakter an- genommen hatte — es war schön über alle Be- schreibung, und die Zuschauer brachen darüber in einen Sturm von Begeisterung aus. In diesem Moment nun entwickelte sich das bisher locker eingebundene Segel: daraus ging ein rosiger Knabe hervor mit silbernen Schwin- gen, mit Bogen, Pfeil und Köcher, und in anmut- voller Stellung schw^ebte er frei auf der Stange. Schon sind die Ruder alle in voller Tätigkeit, das Segel blähte sich auf: allein gewaltiger als beides schien die Gegenwart des Gottes und seine heftig vorwärtseilende Gebärde, das Fahrzeug fortzu- treiben, dergestalt, daß die fast atemlos nachset- zenden Schwimmer, deren einer den goldenen Fisch hoch mit der Linken über seinem Haupte hielt, die Hoffnung bald aufgaben und bei er- schöpften Kräften notgedrungen ihre Zuflucht zu dem verlassenen Schiffe nahmen. Derweil haben die Grünen eine kleine bebuschte Halbinsel er- reicht, wo sich unerwartet ein stattliches Boot mit bewaffneten Kameraden im Hinterhalt zeigte. Im Angesicht so drohender Umstände pflanzte das 297 Häufchen eine weiße Flagge auf, zum Zeichen, daß man gütlich unterhandeln wolle. Durch ein gleiches Signal von jenseits ermuntert, fuhren sie auf jenen Haltort zu, und bald sah man daselbst die guten Mädchen alle bis auf die eine, die mit Willen blieb, vergnügt mit ihren Liebhabern das eigene Schiff besteigen. — Hiermit war die Ko- mödie beendigt." „Mir deucht," so flüsterte Eugenie mit leuch- tenden Augen dem Baron in einer Pause zu, worin sich jedermann beifällig über das eben Gehörte aussprach, ,,wir haben hier eine gemalte Sympho- nie von Anfang bis zu Ende gehabt und ein voll- kommenes Gleichnis überdies des Mozartischen Geistes selbst in seiner ganzen Heiterkeit. Hab' ich nicht recht? ist nicht die ganze Anmut Figaros darin?" Der Bräutigam war im Begriff, ihre Bemerkung dem Komponisten mitzuteilen, als dieser zu reden fortfuhr. „Es sind nun siebzehn Jahre her, daß ich Italien sah. Wer, der es einmal sah, insonderheit Neapel, denkt nicht sein Leben lang daran? und war' er auch, wie ich, noch halb in Kinderschuhen ge- steckt ! So lebhaft aber wie heut in Ihrem Garten war mir der letzte schöne Abend am Golf kaum jemals wieder aufgegangen. Wenn ich die Augen schloß — ganz deuthch, klar und hell, den letzten Schleier von sich hauchend, lag die himmlische Gegend vor mir verbreitet. Meer und Gestade, Berg und Stadt, die bunte Menschenmenge an dem Ufer hin und dann das wundersame Spiel der Bälle durcheinander ! Ich glaubte wieder dieselbe Musik 298 in den Ohren zu haben, ein ganzer Rosenkranz von fröhlichen Melodien zog innerlich an mir vorbei, fremdes und eigenes, Krethi und Plethi, eins im- mer das andre ablösend. Von ungefähr springt ein Tanzliedchen hervor, Sechsachtelstakt, mir völHg neu. Halt, dacht' ich, was gibt's hier? Das scheint ein ganz verteufelt niedliches Ding. Ich sehe näher zu — alle Wetter ! das ist ja Masetto, das ist ja Zerlina." — Er lachte gegen Madame Mozart hin, die ihn sogleich erriet. „Die Sache", fuhr er fort, „ist einfach diese. In meinem ersten Akt blieb eine kleine, leichte Num- mer unerledigt, Duett und Chor einer ländlichen Hochzeit. Vor zwei Monaten nämlich, als ich dieses Stück der Ordnung nach vornehmen wollte, da fand sich auf den ersten Wurf das Rechte nicht alsbald. Eine Weise, einfältig und kindlich und sprühend vor FröhHchkeit über und über, ein frischer Busenstrauß mit Flatterband dem Mädel angesteckt — so mußte es sein. Weil man nun im geringsten nichts erzwingen soll, und weil der- gleichen Kleinigkeiten sich oft gelegentlich von selber machen, ging ich darüber weg und sah mich im Verfolg der größeren Arbeit kaum wieder danach um. Ganz flüchtig kam mir heut im Wa- gen, kurz eh' wir ins Dorf hereinfuhren, der Text in den Sinn; da spann sich denn weiter nichts an, zum wenigsten nicht daß ich's wüßte. Genug, ein Stündchen später in der Laube beim Brunnen er- wisch' ich ein Motiv, wie ich es glücklicher und besser zu keiner andern Zeit, auf keinem andern Weg erfunden haben würde. Man macht bisweilen in der Kunst besondere Erfahrungen: ein ähnli- 299 eher Streich ist mir nie vorgekommen. Denn eine Melodie, dem Vers wie auf den Leib gegossen — doch, um nicht vorzugreifen, so weit sind wir noch nicht: der Vogel hatte nur den Kopf erst aus dem Ei, und auf der Stelle fing ich an, ihn vollends rein herauszuschälen. Dabei schwebte mir lebhaft der Tanz der Zerline vor Augen, und wunderlich spielte zugleich die lachende Land- schaft am Golf von Neapel herein. Ich hörte die wechselnden Stimmen des Brautpaares, die Dir- nen und Bursche im Chor." Hier trällerte Mozart ganz lustig den Anfang des Liedchens: Giovinette, che fatte all' amore, che fatte all' amore, Non lasciate, che passi l'etä, che passi l'etä, che passi l'etä 1 Se nel seno vi bulica il core, vi bulica il core, II remedio vedete lo qua ! La la la ! La la la ! Che piacer, che piacer che sarä ! Ah la la ! Ah la la usf. „Mittlerweile hatten meine Hände das große Unheil angerichtet. Die Nemesis lauerte schon an der Hecke und trat jetzt hervor in Gestalt des entsetzlichen Mannes im galonjerten blauen Rock. Ein Ausbruch des Vesuvio, wenn er in Wirklich- keit damals an dem göttlichen Abend am Meer Zuschauer und Akteurs, die ganze Herrlichkeit Parthenopes mit einem schwarzen Aschenregen urplötzlich verschüttet und zugedeckt hätte, bei Gott ! die Katastrophe wäre mir nicht unerwarte- ter und schrecklicher gewesen. Der Satan der ! so 300 heiß hat mir nicht leicht jemand gemacht. Ein Gesicht wie aus Erz, einigermaßen dem grausa- men römischen Kaiser Tiberius ähnlich ! Sieht so der Diener aus, dacht' ich, nachdem er weg- gegangen, wie mag erst Seine Gnaden selbst drein- sehen ! Jedoch, die Wahrheit zu gestehn, ich rech- nete schon ziemlich auf den Schutz der Damen, und das nicht ohne Grund. Denn diese Stanzel da, mein Weibchen, etwas neugierig von Natur, Heß sich im Wirtshaus von der dicken Frau das Wissenswürdigste von denen sämtlichen Persön- lichkeiten der gnädigen Herrschaft in meinem Beisein erzählen, ich stand dabei und hörte so — " Hier konnte Madame Mozart nicht umhin, ihm in das Wort zu fallen und auf das angelegentlichste zu versichern, daß im Gegenteil er der Ausfrager gewesen; es kam zu heitern Kontestationen zwi- schen Mann und Frau, die viel zu lachen gaben. — ,,Dem sei nun, wie ihm wolle," sagte er, „kurz- um, ich hörte so entfernt etwas von einer lieben Pflegetochter, welche Braut, sehr schön, dazu die Güte selber sei und singe wie ein Engel. Per Dio ! fiel mir jetzt ein, das hilft dir aus der Lauge. Du setz'st dich auf der Stelle hin, schreibst 's Liedchen auf, so weit es geht, erklärst die Sottise der Wahr- heit gemäß, und es gibt einen trefflichen Spaß. Gedacht, getan ! Ich hatte Zeit genug, auch fand sich noch ein sauberes Bögehen grün liniiert Pa- pier. — Und hier ist das Produkt. Ich lege es in diese schönen Hände, ein Brautlied aus dem Steg- reif, wenn Sie es dafür gelten lassen." So reichte er sein reinlichst geschriebenes No- tenblatt Eugenien über den Tisch; des Onkels 301 Hand kam aber der ihrigen zuvor, er haschte es hinweg und rief: „Geduld noch einen Augen- blick, mein Kind !" Auf seinen Wink tat sich die Flügeltüre des Salons weit auf, und es erschienen einige Diener, die den verhängnisvollen Pomeranzenbaum an- ständig, ohne Geräusch in den Saal hereintrugen und an der Tafel unten auf eine Bank niedersetz- ten; gleichzeitig wurden rechts und links zwei schlanke Myrtenbäumchen aufgestellt. Eine am Stamm des Orangenbaumes befestigte Inschrift bezeichnete ihn als Eigentum der Braut; vorn aber auf dem Moosgrund stand, mit einer Serviette bedeckt, ein Porzellanteller, der, als man das Tuch hinwegnahm, eine zerschnittene Orange zeigte, neben welche der Oheim mit listigem Blick des Meisters Autographon steckte. Allgemeiner, un- endlicher Jubel erhob sich darüber. „Ich glaube gar," sagte die Gräfin, „Eugenie weiß noch nicht einmal, was eigentlich da vor ihr steht. Sie kennt wahrhaftig ihren alten Liebling in seinem neuen Flor und Früchteschmuck nicht mehr !" Bestürzt, ungläubig sah das Fräulein bald den Baum, bald ihren Oheim an. „Es ist nicht mög- lich," sagte sie. „Ich weiß ja wohl, er war nicht mehr zu retten." „Du meinst also," versetzte jener, „man habe dir nur irgend ungefähr so ein Ersatzstück aus- gesucht? Das war' was Rechts ! Nein, sieh nur her ! — ich muß es machen, wie's in der Komödie der Brauch ist, wo sich die totgeglaubten Söhne oder Brüder durch ihre Muttermäler und Narben 302 legitimieren. Schau' diesen Auswuchs da ! und hier die Schrunde übers Kreuz ! Du mußt sie hundertmal bemerkt haben. Nun, ist er's, oder ist er's nicht?" — Sie konnte nicht mehr zweifeln; ihr Staunen, ihre Rührung und Freude waren un- beschreiblich. Es knüpfte sich an diesen Baum für die Familie das mehr als hundertjährige Gedächtnis einer aus- gezeichneten Frau, welche wohl verdient, daß wir ihrer mit wenigem hier gedenken. Des Oheims Großvater, durch seine diploma- tischen Verdienste im Wiener Kabinett rühmlich bekannt, von zwei Regenten nacheinander mit gleichem Vertrauen beehrt, war innerhalb seines eigenen Hauses nicht minder glücklich im Besitz einer vortrefflichen Gemahlin, Renate Leonore. Ihr wiederholter Aufenthalt in Frankreich brachte sie vielfach mit dem glänzenden Hofe Ludwigs XIV. und mit den bedeutendsten Männern und Frauen dieser merkwürdigen Epoche in Berüh- rung. Bei ihrer unbefangenen Teilnahme an jenem steten Wechsel des geistreichen Lebensgenusses verleugnete sie auf keinerlei Art in Worten und Werken die angestammte deutsche Ehrenfestig- keit und sittliche Strenge, die sich in den kräftigen Zügen des noch vorhandenen Bildnisses der Grä- fin unverkennbar ausprägt. Vermöge eben dieser Denkungsweise übte sie in der gedachten Sozietät eine eigentümliche naive Opposition, und ihre hinterlassene Korrespondenz weist eine Menge Spuren davon auf, mit wieviel Freimut und herz- hafter Schlagfertigkeit, es mochte nun von Glau- benssachen, von Literatur und Politik, oder von 303 was immer die Rede sein, die originelle Frau ihre gesunden Grundsätze und Ansichten zu vertei- digen, die Blößen der Gesellschaft anzugreifen wußte, ohne doch dieser im mindesten sich lästig zu machen. Ihr reges Interesse für sämtliche Per- sonen, die man im Hause einer Ninon, dem eigent- lichen Herd der feinsten Geistesbildung, treffen konnte, war demnach so beschaffen und geregelt, daß es sich mit dem höheren Freundschaftsver- hältnis zu einer der edelsten Damen jener Zeit, der Frau von Sevigne, vollkommen wohl vertrug. Neben manchen mutwilligen Scherzen Chapelles an sie, vom Dichter eigenhändig auf Blätter mit silberblumigem Rande gekritzelt, fanden sich die liebevollsten Briefe der Marquisin und ihrer Toch- ter an die ehrliche Freundin aus Österreich nach ihrem Tode in einem Ebenholzschränkchen der Großmutter vor. Frau von Sevigne war es denn auch, aus deren Hand sie eines Tages bei einem Feste zu Trianon auf der Terrasse des Gartens den blühenden Oran- genzweig empfing, den sie sofort auf das Gerate- wohl in einen Topf setzte und glücklich angewur- zelt mit nach Deutschland nahm. Wohl fünfundzwanzig Jahre wuchs das Bäum- chen unter ihren Augen allgemach heran und wurde später von Kindern und Enkeln mit äußer- ster Sorgfalt gepflegt. Es konnte nächst seinem persönlichen Werte zugleich als lebendes Symbol der feingeistigen Reize eines beinahe vergötterten Zeitalters gelten, worin wir heutzutage freilich des wahrhaft Preisenswerten wenig finden können, und das schon eine unheilvolle Zukunft in sich 304 trug, deren welterschütternder Eintritt dem Zeit- punkt unserer harmlosen Erzählung bereits nicht ferne mehr lag. Die meiste Liebe widmete Eugenie dem Ver- mächtnis der würdigen Ahnfrau, weshalb der Oheim öfters merken ließ, es dürfte wohl einst eigens in ihre Hände übergehen. Desto schmerz- licher war es dem Fräulein denn auch, als der Baum im Frühling des vorigen Jahres, den sie nicht hier zubrachte, zu trauern begann, die Blät- ter gelb wurden und viele Zweige abstarben. In Betracht, daß irgendeine besondere Ursache seines Verkommens durchaus nicht zu entdecken war und keinerlei Mittel anschlug, gab ihn der Gärtner bald verloren, obwohl er seiner natürlichen Ord- nung nach leicht zwei- und dreimal älter werden konnte. Der Graf hingegen, von einem benach- barten Kenner beraten, ließ ihn nach einer sonder- baren, selbst rätselhaften Vorschrift, wie sie das Landvolk häufig hat, in einem abgesonderten Räume ganz insgeheim behandeln, und seine HoflF- nung, die geliebte Nichte eines Tags mit dem zu neuer Kraft und voller Fruchtbarkeit gelangten alten Freund zu überraschen, ward über alles Er- warten erfüllt. Mit Überwindung seiner Un- geduld und nicht ohne Sorge, ob denn wohl auch die Früchte, von denen etliche zuletzt den höchsten Grad der Reife hatten, so lang am Zweige halten würden, verschob er die Freude um mehrere Wochen auf das heutige Fest, und es bedarf nun weiter keines Worts dar- über, mit welcher Empfindung der gute Herr ein solches Glück noch im letzten Moment durch 11 Romantiker 305 einen Unbekannten sich verkümmert sehen mußte. Der Leutnant hatte schon vor Tische Gelegen- heit und Zeit gefunden, seinen dichterischen Bei- trag zu der feierhchen Übergabe ins reine zu brin- gen und seine vielleicht ohnehin etwas zu ernst gehaltenen Verse durch einen veränderten Schluß den Umständen möglichst anzupassen. Er zog nunmehr sein Blatt hervor, das er, vom Stuhle sich erhebend und an die Cousine gewendet, vor- las. Der Inhalt der Strophen war kurz gefaßt die- ser: Ein Nachkömmling des vielgepriesenen Baums der Hesperiden, der vor alters auf einer westlichen Insel im Garten der Juno, als eine Hochzeitgabe für sie von Mutter Erde, hervorgesproßt war, und welchen die drei melodischen Nymphen bewach- ten, hat eine ähnliche Bestimmung von jeher ge- wünscht und gehofft, da der Gebrauch, eine herr- liche Braut mit seinesgleichen zu beschenken, von den Göttern vorlängst auch unter die Sterblichen kam. Nach langem, vergeblichem Warten scheint end- lich die Jungfrau gefunden, auf die er seine Blicke richten darf. Sie erzeigt sich ihm günstig und ver- weilt oft bei ihm. Doch der musische Lorbeer, sein stolzer Nachbar am Bord der Quelle, hat seine Eifersucht erregt, indem er droht, der kunst- begabten Schönen Herz und Sinn für die Liebe der Männer zu rauben. Die Myrte tröstet ihn um- sonst und lehrt ihn Geduld durch ihr eigenes Bei- spiel; zuletzt jedoch ist es die andauernde Ab- wesenheit der Liebsten, was seinen Gram ver- 306 mehrt und ihm nach kurzem Siechtum tödlich wird. Der Sommer bringt die Entfernte und bringt sie mit glücklich umgewandtem Herzen zurück. Das Dorf, das Schloß, der Garten, alles empfängt sie mit tausend Freuden. Rosen und Lilien in er- höhtem Schimmer sehen entzückt und beschämt zu ihr auf, Glück winken ihr Sträucher und Bäu- me: für einen, ach, den edelsten, kommt sie zu spät. Sie findet seine Krone verdorrt, ihre Finger betasten den leblosen Stamm und die klirrenden Spitzen seines Gezweigs. Er kennt und sieht seine Pflegerin nimmer. Wie weint sie, wie strömt ihre zärtliche Klage 1 Apollo von weitem vernimmt die Stimme der Tochter. Er kommt, er tritt herzu und schaut mit- fühlend ihren Jammer. Alsbald mit seinen allhei- lenden Händen berührt er den Baum, daß er in sich erbebt, der vertrocknete Saft in der Rinde gewaltsam anschwillt, schon junges Laub aus- bricht, schon weiße Blumen da und dort in am- brosischer Fülle aufgehen. Ja — denn was ver- möchten die Himmhschen nicht? — schöne runde Früchte setzen an, dreimal drei nach der Zahl der neun Schwestern; sie wachsen und wachsen, ihr kindliches Grün zusehends mit der Farbe des Goldes vertauschend. Phöbus — so schloß sich das Gedicht — Phöbus überzählt die Stücke, Weidet Selbsten sich daran. Ja, es fängt im Augenblicke Ihm der Mund zu wässern an. 307 Lächelnd nimmt der Gott der Töne Von der saftigsten Besitz: ,,Laß uns teilen, holde Schöne, Und für Amorn — diesen Schnitz 1" Der Dichter erntete rauschenden Beifall, und gern verzieh man die barocke Wendung, durch welche der Eindruck des wirklich gefühlvollen Ganzen so völlig aufgehoben wurde. Franziska, deren froher Mutterwitz schon zu verschiedenen Malen bald durch den Hauswirt, bald durch Mozart in Bewegung gesetzt worden war, lief jetzt geschwinde, wie von ungefähr an etwas erinnert, hinweg und kam zurück mit einem braunen englischen Kupferstich größten Formats, welcher, wenig beachtet, in einem ganz entfernten Kabinett unter Glas und Rahmen hing. „Es muß doch wahr sein, was ich immer hörte," rief sie aus, indem sie das Bild am Ende der Tafel aufstellte, ,,daß sich unter der Sonne nichts Neues begibt ! Hier eine Szene aus dem goldenen Welt- alter — und haben wir sie nicht erst heute erlebt? Ich hoffe doch, Apollo werde sich in dieser Situa- tion erkennen." „Vortrefflich !" triumphierte Max, „da hätten wir ihn ja, den schönen Gott, wie er sich just ge- dankenvoll über den heiligen Quell hinbeugt. Und damit nicht genug — dort, seht nur, einen alten Satyr hinten im Gebüsch, der ihn belauscht ! Man möchte darauf schwören, Apoll besinnt sich eben auf ein lange vergessenes arkadisches Tänzchen, das ihn in seiner Kindheit der alte Chiron zu der Zither lehrte." 308 „So ist's ! nicht anders !" applaudierte Franzis- ka, die hinter Mozart stand. „Und", fuhr sie gegen diesen fort, „bemerken Sie auch wohl den frucht- beschwerten Ast, der sich zum Gott herunter- senkt?" „Ganz recht ! es ist der ihm geweihte Ölbaum." „Keineswegs I die schönsten Apfelsinen sind's 1 Gleich wird er sich in der Zerstreuung eine her- unterholen." „Vielmehr," rief Mozart, „er wird gleich die- sen Schelmenmund mit tausend Küssen schließen." Damit erwischte er sie am Arm und schwur, sie nicht mehr loszulassen, bis sie ihm ihre Lippen reiche, was sie denn auch ohne vieles Sträuben tat. „Erkläre uns doch, Max," sagte die Gräfin, was unter dem Bilde hier steht !" „Es sind Verse aus einer berühmten Horazi- schen Ode. Der Dichter Ramler in Berlin hat uns das Stück vor kurzem unübertrefflich deutsch ge- geben. Es ist vom höchsten Schwung. Wie präch- tig ebendiese eine Stelle: — jjhier, der auf der Schulter Keinen untätigen Bogen führet. Der seines Delos grünenden Mutterhain Und Pataras beschatteten Strand bewohnt. Der seines Hauptes goldne Locken In die kastalischen Fluten tauchet." ,, Schön ! wirlich schön !" sagte der Graf. „Nur hie und da bedarf es der Erläuterung, So zum Bei- spiel ,der keinen untätigen Bogen führet' hieße natürlich schlechtweg: der allezeit einer der flei- ßigsten Geiger gewesen. Doch was ich sagen woll- 309 te: Bester Mozart, Sie säen Unkraut zwischen zwei zärtliche Herzen." „Ich will nicht hoffen — wieso?" „Eugenie beneidet ihre Freundin und hat auch allen Grund." ,,Aha ! Sie haben mir schon meine schwache Seite abgemerkt. Aber was sagt der Bräutigam dazu?" „Ein- oder zweimal will ich durch die Finger sehen." „Sehr gut ! wir werden die Gelegenheit wahr- nehmen. Indes fürchten Sie nichts, Herr Baron ! es hat keine Gefahr, solang mir nicht der Gott hier sein Gesicht und seine langen gelben Haare borgt. Ich wünsche wohl, er tät's ! Er sollte auf der Stelle Mozarts Zopf mitsamt seinem schönsten Bandl dafür haben." „Apollo möge aber dann zusehen," lachte Fran- ziska, ,,wie er es anfängt künftig, seinen neuen französischen Haarschmuck mit Anstand in die kastalische Flut zu tauchen !" Unter diesen und ähnlichen Scherzen stieg Lu- stigkeit und Mutwillen immer mehr. Die Männer spürten nach und nach den Wein, es wurden eine Menge Gesundheiten getrunken, und Mozart kam in den Zug, nach seiner Gewohnheit in Versen zu sprechen, wobei ihm der Leutnant das Gleich- gewicht hielt und auch der Papa nicht zurückblei- ben wollte; es glückte ihm ein paarmal zum Ver- wundern. Doch solche Dinge lassen sich für die Erzählung kaum festhalten: sie wollen eigentlich nicht wiederholt sein, weil eben das, was sie an ihrem Ort unwiderstehlich macht, die allgemein 310 erhöhte Stimmung, der Glanz, die Jovialität des persönlichen Ausdrucks, in Wort und Blick fehlt. Unter anderm wurde von dem alten Fräulein zu Ehren des Meisters ein Toast ausgebracht, der ihm noch eine ganze lange Reihe unsterblicher Werke verhieß. — „A la bonne heure ! ich bin dabei," rief Mozart und stieß sein Kelchglas kräftig an. Der Graf begann hierauf mit großer Macht und Sicherheit der Intonation kraft eigener Eingebung zu singen: Mögen ihn die Götter stärken Zu den angenehmen Werken — Max (fortfahrend). Wovon der da Ponte weder Noch der große Schikaneder — Mozart. Noch bi Gott der Komponist 's mindest weiß zu dieser Frist ! Graf. Max. Alle, alle soll sie jener Hauptspitzbub von Italiener Noch erleben, wünsch' ich sehr, Unser Signor Bonbonniere ! Gut, ich geb' ihm hundert Jahre — Mozart. Wenn ihn nicht samt seiner Ware — Alle drei con forza. Noch der Teufel holt vorher. Unsern Signor Bonbonniere. Durch des Grafen ausnehmende Singlust schweifte das zufällig entstandene Terzett mit Wie- deraufnahme der letzten vier Zeilen in einen soge- 311 nannten endlichen Kanon aus, und die Fräulein Tante besaß Humor oder Selbstvertrauen genug, ihren verfallenen Soprano mit allerhand Verzie- rungen zweckdienlich einzumischen. Mozart gab nachher das Versprechen, bei guter Muße diesen Spaß nach den Regeln der Kunst expreß für die Gesellschaft auszuführen, das er auch später von Wien aus erfüllte. Eugenie hatte sich im stillen längst mit ihrem Kleinod aus der Laube des Tiberius vertraut ge- macht; allgemein verlangte man jetzt, das Duett vom Komponisten und ihr gesungen zu hören, und der Oheim war glücklich, im Chor seine Stimme abermals geltend zu machen. Also erhob man sich und eilte zum Klavier ins große Zimmer nebenan. Ein so reines Entzücken nun auch das köstliche Stück bei allen erregte, so führte doch sein Inhalt selbst mit einem raschen Übergang auf den Gipfel geselliger Lust, wo die Musik an und für sich nicht weiter in Betracht mehr kommt, und zwar gab zuerst unser Freund das Signal, indem er vom Klavier aufsprang, auf Franziska zuging und sie, während Max bereitwilligst die Violine ergriff, zu einem Schleifer persuadierte. Der Hauswirt säum- te nicht, Madame Mozart aufzufordern. Im Nu waren alle beweglichen Möbel, den Raum zu er- weitern, durch geschäftige Diener entfernt. Es mußte nach und nach ein jedes an die Tour, und Fräulein Tante nahm es keineswegs übel, daß der galante Leutnant sie zu einer Menuett abholte, worin sie sich völlig verjüngte. Schließlich, als Mozart mit der Braut den Kehraus tanzte, nahm 312 er sein versichertes Recht auf ihren schönen Mund in bester Form dahin. Der Abend war herbeigekommen, die Sonne nah am Untergehen: es wurde nun erst angenehm im Freien, daher die Gräfin den Damen vorschlug, sich im Garten noch ein wenig zu erholen. Der Graf dagegen lud die Herrn auf das Billardzimmer, da Mozart bekanntlich dies Spiel sehr liebte. So teilte man sich denn in zwei Partien, und wir un- sererseits folgen den Frauen. Nachdem sie den Hauptweg einigemal gemäch- lich auf und ab gegangen, erstiegen sie einen run- den, von einem hohen Rebengeländer zur Hälfte umgebenen Hügel, von wo man in das offene Feld, auf das Dorf und die Landstraße sah. Die letzten Strahlen der herbstlichen Sonne funkelten rötlich durch das Weinlaub herein. „Wäre hier nicht vertraulich zu sitzen," sagte die Gräfin, ,,wenn Madame Mozart uns etwas von sich und dem Gemahl erzählen wollte?" Sie war ganz gerne bereit, und alle nahmen höchst behaglich auf den im Kreis herbeigerück- ten Stühlen Platz. ,,Ich will etwas zum besten geben, das Sie auf alle Fälle hätten hören müssen, da sich ein kleiner Scherz darauf bezieht, den ich im Schilde führe. Ich habe mir in den Kopf gesetzt, der Gräfin Braut zur fröhlichen Erinnerung an diesen Tag ein An- gebind von sonderlicher Qualität zu verehren. Dasselbe ist so wenig Gegenstand des Luxus und der Mode, daß es lediglich nur durch seine Ge- schichte einigermaßen interessieren kann." ,,Was mag das sein, Eugenie?" sagte Franziska. 313 „Zum wenigsten das Tintenfaß eines berühmten Mannes." „Nicht allzu weit gefehlt ! Sie sollen es noch diese Stunde sehen ; im Reisekoffer Hegt der Schatz. Ich fange an und werde mit Ihrer Erlaubnis ein wenig weiter ausholen. Vorletzten Winter wollte mir Mozarts Gesund- heitszustand durch vermehrte Reizbarkeit und häufige Verstimmung, ein fieberhaftes Wesen, nachgerade bange machen. In Gesellschaft noch zuweilen lustig, oft mehr als recht natürlich, war er zu Haus meist trüb in sich hinein, seufzte und klagte. Der Arzt empfahl ihm Diät, Pyrmonter und Bewegung außerhalb der Stadt. Der Patient gab nicht viel auf den guten Rat: die Kur war unbequem, zeitraubend, seinem Taglauf schnur- stracks entgegen. Nun macht ihm der Doktor die Hölle etwas heiß: er mußte eine lange Vorle- sung anhören von der Beschaffenheit des mensch- lichen Geblüts, von denen Kügelgens darin, vom Atemholen und vom Phlogiston — halt unerhörte Dinge; auch wie es eigentlich gemeint sei von der Natur mit Essen, Trinken und Verdauen, das eine Sache ist, worüber Mozart bis dahin ganz ebenso unschuldig dachte wie sein Junge von fünf Jahren. Die Lektion, in der Tat, machte merklichen Ein- druck. Der Doktor war noch keine halbe Stunde weg, so find' ich meinen Mann nachdenklich, aber mit aufgeheitertem Gesicht auf seinem Zimmer über der Betrachtung eines Stocks, den er in einem Schrank mit alten Sachen suchte und auch glück- lich fand; ich hätte nicht gemeint, daß er sich des- sen nur erinnerte. Er stammte noch von meinem 314 Vater: ein schönes Rohr mit hohem Knopf von Lapislazuli. Nie sah man einen Stock in Mozarts Hand; ich mußte lachen. ,Du siehst,' rief er, ,ich bin daran, mit meiner Kur mich völlig ins Geschirr zu werfen. Ich will das Wasser trinken, mir alle Tage Motion im Freien machen und mich dabei dieses Stabes be- dienen. Da sind mir nun verschiedene Gedanken beigegangen. Es ist doch nicht umsonst, dacht' ich, daß andere Leute, was da gesetzte Männer sind, den Stock nicht missen können. Der Kom- merzienrat, unser Nachbar, geht niemals über die Straße, seinen Gevatter zu besuchen, der Stock muß mit. Professionisten und Beamte, Kanzlei- herrn, Krämer und Chalanten, wenn sie am Sonn- tag mit Familie vor die Stadt spazieren, ein jeder führt sein wohlgedientes, rechtschaffenes Rohr mit sich. Vornehmlich hab' ich oft bemerkt, wie auf dem Stephansplatz ein Viertelstündchen vor der Predigt und dem Amt ehrsame Bürger da und dort truppweis beisammenstehen im Gespräch: hier kann man so recht sehen, wie eine jede ihrer stillen Tugenden, ihr Fleiß und Ordnungsgeist, gelaßner Mut, Zufriedenheit, sich auf die wackern Stöcke gleichsam als eine gute Stütze lehnt und stemmt. Mit einem Wort, es muß ein Segen und besonderer Trost in der altvaterischen und immerhin etwas geschmacklosen Gewohnheit liegen. Du magst es glauben oder nicht, ich kann es kaum erwarten, bis ich mit diesem guten Freund das erstemal im Gesundheitspaß über die Brücke anch dem Rennweg promeniere. Wir kennen uns bereits ein wenig, und ich hoffe, daß 315 unsere Verbindung für alle Zeit geschlossen ist." Die Verbindung war von kurzer Dauer: das drittemal, daß beide miteinander aus waren, kam der Begleiter nicht mehr mit zurück. Ein anderer wurde angeschafft, der etwas länger Treue hielt, und jedenfalls schrieb ich der Stockliebhaberei ein gut Teil von der Ausdauer zu, womit Mozart drei Wochen lang der Vorschrift seines Arztes ganz erträglich nachkam. Auch blieben die guten Fol- gen nicht aus: wir sahen ihn fast nie so frisch, so heil und von so gleichmäßiger Laune. Doch mach- te er sich leider in kurzem wieder allzu grün, und täglich hatt' ich deshalb meine Not mit ihm. Da- mals geschah es nun, daß er, ermüdet von der Arbeit eines anstrengenden Tages, noch spät ein paar neugieriger Reisender wegen zu einer musi- kalischen Soiree ging — auf eine Stunde bloß, versprach er mir heilig und teuer; doch das sind immer die Gelegenheiten, wo die Leute, wenn er nur erst am Flügel festsitzt und im Feuer ist, seine Gutherzigkeit am mehrsten mißbrauchen; denn da sitzt er alsdann wie das Männchen in einer Montgolfiere, sechs Meilen hoch über dem Erd- boden schwebend, wo man die Glocken nicht mehr schlagen hört. Ich schickte den Bedienten zweimal mitten in der Nacht dahin: umsonst; er konnte nicht zu seinem Herrn gelangen. Um drei Uhr früh kam dieser denn endlich nach Haus. Ich nahm mir vor, den ganzen Tag ernstlich mit ihm zu schmollen." Hier überging Madame Mozart einige Um- stände mit Stillschweigen. Es war, muß man wis- sen, nicht unwahrscheinlich, daß zu gedachter 316 Abendunterhaltung auch eine junge Sängerin, Signora Malerbi, kommen würde, an welcher Frau Konstanze mit allem Recht Ärgernis nahm. Diese Römerin war durch Mozarts Verwendung bei der Oper angestellt worden, und ohne Zweifel hatten ihre koketten Künste nicht geringen Anteil an der Gunst des Meisters. Sogar wollten einige wissen, sie habe ihn mehrere Monate lang ein- gezogen und heiß genug auf ihrem Rost gehalten. Ob dies nun völlig wahr sei oder sehr übertrieben, gewiß ist, sie benahm sich nachher frech und un- dankbar und erlaubte sich selbst Spöttereien über ihren Wohltäter. So war es ganz in ihrer Art, daß sie ihn einst gegenüber einem ihrer glückHcheren Verehrer kurzweg un piccolo grifo raso (ein klei- nes rasiertes Schweinsrüsselchen) nannte. Der Ein- fall, einer Circe würdig, war um so empfindlicher, weil er, wie man gestehen muß, immerhin ein Körnchen Wahrheit enthielt. Beim Nachhausegehen von jener Gesellschaft, bei welcher übrigens die Sängerin zufällig nicht erschienen war, beging ein Freund im Übermut des Weins die Indiskretion, dem Meister dies bos- hafte Wort zu verraten. Er wurde schlecht davon erbaut, denn eigentlich war es für ihn der erste un- zweideutige Beweis von der gänzlichen Herzlosig- keit seines Schützlings. Vor lauter Entrüstung darüber empfand er nicht einmal sogleich den fro- stigen Empfang am Bette seiner Frau. In einem Atem teilte er ihr die Beleidigung mit, und diese Ehrlichkeit läßt wohl auf einen mindern Grad von Schuldbewußtsein schließen. Fast machte er ihr Mitleid rege. Doch hielt sie geflissentlich an sich; 317 es sollte ihm nicht so leicht hingehen. Als er von einem schweren Schlaf kurz nach Mittag erwachte, fand er das Weibchen samt den beiden Knaben nicht zu Hause, vielmehr säuberlich den Tisch für ihn allein gedeckt. Von jeher gab es wenige Dinge, welche Mozart so unglücklich machten, als wenn nicht alles hübsch eben und heiter zwischen ihm und seiner guten Hälfte stand. Und hätte er nun erst gewußt, welche weitere Sorge sie schon seit mehreren Ta- gen mit sich herumtrug ! Eine der schlimmsten in der Tat, mit deren Eröffnung sie ihn nach alter Gewohnheit so lange wie möglich verschonte. Ihre Barschaft war ehestens alle und keine Aus- sicht auf baldige Einnahme da. Ohne Ahnung von dieser häuslichen Extremität war gleichwohl sein Herz auf eine Art beklommen, die mit jenem ver- legenen, hilflosen Zustand eine gewisse Ähnlich- keit hatte. Er mochte nicht essen, er konnte nicht bleiben. Geschwind zog er sich vollends an, um nur aus der Stickluft des Hauses zu kommen. Auf einem offenen Zettel hinterließ er ein paar Zeilen italienisch: „Du hast mir's redlich eingetränkt, und geschieht mir schon recht. Sei aber wieder gut, ich bitte Dich, und lache wieder, bis ich heim- komme ! Mir ist zumut', als möcht' ich ein Kar- täuser und Trappiste werden, ein rechter Heul- ochs, sag' ich Dir." — Sofort nahm er den Hut, nicht aber auch den Stock zugleich; der hatte seine Epoche passiert. Haben wir Frau Konstanze bis hierher in der Erzählung abgelöst, so können wir auch wohl noch eine kleine Strecke weiter fortfahren. 318 Von seiner Wohnung bei der Schranne, rechts gegen das Zeughaus einbiegend, schlenderte der teure Mann — es war ein warmer, etwas um- wölktet Sommernachmittag — nachdenklich läs- sig über den sogenannten Hof und weiter an der Pfarre zu unsrer lieben Frau vorbei, dem Schotten- tor entgegen, wo er seitwärts zur Linken auf die Mölkerbastei stieg und dadurch der Ansprache mehrerer Bekannten, die eben zur Stadt herein- kamen, entging. Nur kurze Zeit genoß er hier, obwohl von einer stumm bei den Kanonen auf und nieder gehenden Schildwache nicht belästigt, der vortrefflichen Aussicht über die grüne Ebene des Glacis und die Vorstädte hin nach dem Kah- lenberg und südlich nach den Steierischen Alpen. Die schöne Ruhe der äußern Natur widersprach seinem Innern Zustand. Mit einem Seufzer setzte er seinen Gang über die Esplanade und sodann durch die Alservorstadt ohne bestimmten Ziel- punkt fort. Am Ende der Währinger Gasse lag eine Schen- ke mit Kegelbahn, deren Eigentümer, ein Seiler- meister, durch seine gute Ware wie durch die Rein- heit seines Getränks den Nachbarn und Land- leuten, die ihr Weg vorüberführte, gar wohl be- kannt war. Man hörte Kegelschieben, und übri- gens ging es bei einer Anzahl von höchstens einem Dutzend Gästen mäßig zu. Ein kaum bewußter Trieb, sich unter anspruchslosen, natürlichen Menschen in etwas zu vergessen, bewog den Mu- siker zur Einkehr. Er setzte sich an einen der spar- sam von Bäumen beschatteten Tische zu einem Wiener Brunnenobermeister und zwei andern 319 Spießbürgern, ließ sich ein Schöppchen kommen und nahm an ihrem sehr alltäglichen Diskurs ein- gehend teil, ging dazwischen umher oder schaute dem Spiel auf der Kegelbahn zu. Unweit von der letztern an der Seite des Hauses befand sich der offene Laden des Seilers, ein schmaler, mit Fabrikaten vollgepfropfter Raum, weil außer dem, was das Handwerk zunächst lie- ferte, auch allerlei hölzernes Küchen-, Keller- und landwirtschaftliches Gerät, ingleichen Tran und Wagensalbe, auch weniges von Sämereien, Dill und Kümmel zum Verkauf umherstand oder -hing. Ein Mädchen, das als Kellnerin die Gäste zu be- dienen und nebenbei den Laden zu besorgen hatte, war eben mit einem Bauern beschäftigt, welcher, sein Söhnlein an der Hand, herzugetreten war, um einiges zu kaufen: ein Fruchtmaß, eine Bürste, eine Geißel. Er suchte unter vielen Stücken eines heraus, prüfte es, legte es weg, ergriff ein zweites und drittes und kehrte unschlüssig zum ersten zu- rück; es war kein Fertig werden. Das Mädchen entfernte sich mehrmals der Aufwartung wegen, kam wieder und war unermüdlich, ihm seine Wahl zu erleichtern und annehmlich zu machen, ohne daß sie zuviel darum schwatzte. Mozart sah und hörte auf einem Bänkchen bei der Kegelbahn diesem allem mit Vergnügen zu. So sehr ihm auch das gute, verständige Betragen des Mädchens, die Ruhe und der Ernst in ihren ansprechenden Zügen gefiel, noch mehr interes- sierte ihn für jetzt der Bauer, welcher ihm, nach- dem er ganz befriedigt abgezogen, noch viel zu denken gab. Er hatte sich vollkommen in den 320 Mann hineinversetzt, gefühlt, wie wichtig die ge- ringe Angelegenheit von ihm behandelt, wie ängstlich und gewissenhaft die Preise, bei einem Unterschied von wenig Kreuzern, hin und her erwogen wurden. Und, dachte er, wenn nun der Mann zu seinem Weibe heimkommt, ihr seinen Handel rühmt, die Kinder alle passen, bis der Zwerchsack aufgeht, darin auch was für sie sein mag: sie aber eilt, ihm einen Imbiß und einen frischen Trunk selbstgekelterten Obstmost zu holen, darauf er seinen ganzen Appetit verspart hat! Wer auch so glücklich wäre, so unabhängig von den Menschen ! ganz nur auf die Natur gestellt und ihren Segen, wie sauer auch dieser erworben sein will 1 Ist aber mir mit meiner Kunst ein anderes Tag- werk anbefohlen, das ich am Ende doch mit keinem in der Welt vertauschen würde: warum muß ich dabei in Verhältnissen leben, die das gerade Wi- derspiel von solch unschuldiger, einfacher Exi- stenz ausmachen? Ein Gütchen, wenn du hättest, ein kleines Haus bei einem Dorf in schöner Ge- gend, du solltest wahrlich neu aufleben ! Den Morgen über fleißig bei deinen Partituren, die ganze übrige Zeit bei der Familie; Bäume pflan- zen, deinen Acker besuchen, im Herbst mit den Buben die Äpfel und die Birn heruntertun; bis- weilen eine Reise in die Stadt zu einer Aufl^ührung und sonst von Zeit zu Zeit ein Freund und meh- rere bei dir — welch eine Seligkeit ! Nun ja, wer weiß, was noch geschieht ! Er trat vor den Laden, sprach freundlich mit 321 dem Mädchen und fing an, ihren Kram genauer 2u betrachten. Bei der unmittelbaren Verwandt- schaft, welche die meisten dieser Dinge 2u jenem idyllischen Anfluge hatten, zog ihn die Sauber- keit, das Helle, Glatte, selbst der Geruch der mancherlei Holzarbeiten an. Es fiel ihm plötzlich ein, verschiedenes für seine Frau, was ihr nach seiner Meinung angenehm und nutzbar wäre, aus- zuwählen. Sein Augenmerk ging zuvörderst auf Gartenwerkzeug. Konstanze hatte nämlich vor Jahr und Tag auf seinen Antrieb ein Stückchen Land vor dem Kärntner Tor gepachtet und etwas Gemüse darauf gebaut, daher ihm jetzt fürs erste ein neuer großer Rechen, ein kleinerer dito samt Spaten ganz zweckmäßig schien. Dann weiteres anlangend, so macht es seinen ökonomischen Be- griffen alle Ehre, daß er einem ihn sehr appetitlich anlachenden Butterfaß nach kurzer Überlegung, wiewohl ungern, entsagte, dagegen ihm ein hohes, mit Deckel und schön geschnitztem Henkel ver- sehenes Geschirr zu unmaßgeblichem Gebrauch einleuchtete. Es war aus schmalen Stäben von zweierlei Holz, abwechselnd hell und dunkel, zusammengesetzt, unten weiter als oben und innen trefflich ausgepicht. Entschieden für die Küche empfahl sich eine schöne Auswahl Rührlöffel, Wellhölzer, Schneidbretter und Teller von allen Größen sowie ein Salzbehälter einfachster Kon- struktion zum Aufhängen. Zuletzt besah er sich noch einen derben Stock, dessen Handhabe mit Leder und runden Messing- nägeln gehörig beschlagen war. Da der sonder- bare Kunde auch hier in einiger Versuchung 322 schien, bemerkte die Verkäuferin mit Lächeln, das sei just kein Tragen für Herrn. ,,Du hast recht, mein Kind," versetzte er. „Mir deucht, die Metz- ger auf der Reise haben solche; weg damit! ich will ihn nicht. Das übrige hingegen alles, was wir da ausgelesen haben, bringst du mir heute oder morgen ins Haus." Dabei nannte er ihr seinen Namen und die Straße. Er ging hierauf, um aus- zutrinken, an seinen Tisch, wo von den dreien nur noch einer, ein Klempnermeister, saß. ,,Die Kellnerin hat heut mal einen guten Tag !" bemerkte der Mann. „Ihr Vetter läßt ihr vom Er- lös im Laden am Gulden einen Batzen." Mozart freute sich nun seines Einkaufs doppelt; gleich aber sollte seine Teilnahme an der Person noch größer werden. Denn als sie wieder in die Nähe kam, rief ihr derselbe Bürger zu: „Wie steht's, Kreszenz? Was macht der Schlosser? Feilt er nicht bald sein eigen Eisen?" „O was !" erwiderte sie im Weitereilen, ,, selbi- ges Eisen, schätz' ich, wächst noch im Berg zu- hinterst." „Es ist ein guter Tropf," sagte der Klempner. ,,Sie hat lang ihrem Stiefvater hausgehalten und ihn in der Krankheit verpflegt, und da er tot war, kam's heraus, daß er ihr Eigenes aufgezehrt hatte; zeither dient sie da ihrem Verwandten, ist alles und alles im Geschäft, in der Wirtschaft und bei den Kindern. Sie hat mit einem braven Gesellen Bekanntschaft und würde ihn je eher, je Ueber heiraten; das aber hat so seine Haken." „Was für? Er ist wohl auch ohne Vermögen?" „Sie ersparten sich beide etwas, doch langt es 323 nicht gar. Jetzt kommt mdt nächstem drinnen ein halber Hausteil samt Werkstatt in Gant; dem Sei- ler wär's ein Leichtes, ihnen vorzuschießen, was noch zum Kaufschilling fehlt; allein er läßt die Dirne natürlich nicht gern fahren. Er hat gute Freunde im Rat und bei der Zunft: da findet der Geselle nun allenthalben Schwierigkeiten." ,, Verflucht !" fuhr Mozart auf, so daß der ande- re erschrak und sich umsah, ob man nicht horche. ,,Und da ist niemand, der ein Wort nach dem Recht dareinspräche? den Herrn eine Faust vor- hielte? Die Schufte, die ! Wart nur, man kriegt euch noch beim Wickel 1" Der Klempner saß wie auf Kohlen. Er suchte das Gesagte auf eine ungeschickte Art zu mildern, beinahe nahm er es völlig zurück. Doch Mozart hörte ihn nicht an. „Schämt Euch, wie Ihr nun schwatzt ! So macht's ihr Lumpen allemal, sobald es gilt mit etwas einzustehen." — Und hiemit kehrte er dem Hasenfuß ohne Abschied den Rücken. Der Kellnerin, die alle Hände voll zu tun hatte mit neuen Gästen, raunte er nur im Vor- beigehen zu: ,, Komme morgen beizeiten, grüße mir deinen Liebsten ! Ich hoffe, daß eure Sache gut geht." Sie stutzte nur und hatte weder Zeit noch Fassung, ihm zu dankeii. Geschwinder als gewöhnlich, weil der Auftritt ihm das Blut etwas in Wallung brachte, ging er vorerst denselben Weg, den er gekommen, bis an das Glacis, auf welchem er dann langsamer mit einem Umweg im weiten Halbkreis um die Wälle wandelte. Ganz mit der Angelegenheit des armen Liebespaares beschäftigt, durchlief er in Gedan- 324 ken eine Reihe seiner Bekannten und Gönner, die auf die eine oder andere Weise in diesem Fall et- was vermochten. Da indessen, bevor er sich irgend zu einem Schritt bestimmte, noch nähere Erklä- rungen von selten des Mädchens erforderhch wa- ren, beschloß er, diese ruhig abzuwarten, und war nunmehr, mit Herz und Sinn den Füßen voraus- eilend, bei seiner Frau zu Hause. Mit innerer Gewißheit zählte er auf einen freund- lichen, ja fröhlichen Willkommen, Kuß und Um- armung schon auf der Schwelle, und Sehnsucht verdoppelte seine Schritte beim Eintritt in das Kärntner Tor. Nicht weit davon ruft ihn der Postträger an, der ihm ein kleines, doch gewichti- ges Paket übergibt, worauf er eine ehrliche und akkurate Hand augenblicklich erkennt. Er tritt mit dem Boten, um ihn zu quittieren, in den näch- sten Kaufladen; dann, wieder auf der Straße, kann er sich nicht bis in sein Haus gedulden; er reißt die Siegel auf: halb gehend, halb stehend, ver- schlingt er den Brief. „Ich saß", fuhr Madame Mozart hier in der Er- zählung bei den Damen fort, „am Nähtisch, hörte meinen Mann die Stiege heraufkommen und den Bedienten nach mir fragen. Sein Tritt und seine Stimme kam mir beherzter, aufgeräumter vor, als ich erwartete, und als mir wahrhaftig ange- nehm war. Erst ging er auf sein Zimmer, kam aber gleich herüber. , Guten Abend !' sagt' er; ich, ohne aufzusehen, erwiderte ihm kleinlaut. Nach- dem er die Stube ein paarmal stillschweigend ge- messen, nahm er unter erzwungenem Gähnen die Fliegenklatsche hinter der Tür, was ihm noch nie- 325 mals eingefallen war, und murmelte vor sich hin: ,Wo nur die Fliegen gleich wieder herkommen !' — fing an zu patschen da und dort, und zwar so stark wie möglich. Dies war ihm stets der unleid- lichste Ton, den ich in seiner Gegenwart nie hören lassen durfte. Hm, dacht' ich, daß doch, was man selber tut, zumal die Männer, ganz etwas anderes ist ! Übrigens hatte ich so viele Fliegen gar nicht wahrgenommen. Sein seltsames Betragen verdroß mich wirklich sehr. — ,Sechse auf einen Schlag !' rief er. , Willst du sehen?' — Keine Antwort. — Da legte er mir etwas aufs Nähkissen hin, daß ich es sehen mußte, ohne ein Auge von meiner Arbeit zu verwenden. Es war nichts Schlechteres als ein Häufchen Gold, so viel man Dukaten zwi- schen zwei Finger nimmt. Er setzte seine Possen hinter meinem Rücken fort, tat hin und wieder einen Streich und sprach dabei für sich: ,Das fata- le, unnütze, schamlose Gezücht ! Zu was Zweck es nur eigentlich auf der Welt ist ! — Patsch 1 — Offenbar bloß, daß man's totschlage. — Pitsch 1 — Darauf verstehe ich mich einigermaßen, darf ich behaupten. — Die Naturgeschichte belehrt uns über die erstaunliche Vermehrung dieser Ge- schöpfe. — Pitsch 1 Patsch ! — In meinem Hause wird immer sogleich damit aufgeräumt. — Ah maledette ! disperate 1 — Hier wieder ein Stück zwanzig! Magst du sie?' — Er kam und tat wie vorhin. Hatte ich bisher mit Mühe das Lachen unterdrückt, länger war es unmöglich: ich platzte heraus, er fiel mir um den Hals, und beide kicher- ten und lachten wir um die Wette. , Woher kommt dir denn aber das Geld?' frag' 326 ich, während daß er den Rest aus dem Röllelchen schüttelt. — ,Vom Fürsten Esterhazy ! durch den Haydn ! Lies nur den Brief.' — Ich las: Eisenstadt usw. Teuerster Freund ! Seine Durch- laucht, mein gnädigster Herr, hat mich zu meinem größesten Vergnügen damit betraut, Ihnen bei- folgende sechzig Dukaten zu übermachen. Wir haben letzt Ihre Quartennen wieder ausgeführt, und Seine Durchlaucht waren solchermaßen da- von eingenommen und befriedigt, als bei dem erstenmal, vor einem Vierteljahre, kaum der Fall gewesen. Der Fürst bemerkte mir (ich muß es wörtlich schreiben): ,Als Mozart Ihnen diese Arbeit dedizierte, hat er geglaubt, nur Sie zu ehren, doch kann's ihm nichts verschlagen, wenn ich zugleich ein Kompliment für mich darin er- blicke. Sagen Sie ihm, ich denke von seinem Genie bald so groß wie Sie selbst, und mehr könn' er in Ewigkeit nicht verlangen 1' — Amen 1 setz' ich hinzu. Sind Sie zufrieden? Postskript, der lieben Frau ins Ohr: Sorgen Sie gütigst, daß die Danksagung nicht aufgeschoben werde ! Am besten geschah' es persönlich. Wir müssen so guten Wind fein erhalten. ,Du Engelsmann ! o himmlische Seele !' rief Mozart ein übers andere Mal, und es ist schwer zu sagen, was ihn am meisten freute, der Brief oder des Fürsten Beifall oder das Geld. Was mich be- trifft, aufrichtig gestanden, mir kam das letztere gerade damals höchst gelegen. Wir feierten noch einen sehr vergnügten Abend. Von der Affäre in der Vorstadt erfuhr ich jenen Tag noch nichts, die folgenden ebensowenig; die 327 ganze nächste Woche verstrich, keine Kreszenz erschien, und mein Mann, in einem Strudel von Geschäften, vergaß die Sache bald. Wir hatten an einem Sonnabend Gesellschaft: Hauptmann Wes- selt, Graf Hardegg und andere musizierten. In einer Pause werde ich hinausgerufen — da war nun die Bescherung 1 Ich geh' hinein und frage: ,Hast du Bestellung in der Alservorstadt auf aller- lei Holzware gemacht?' — ,Potz Hagel, ja 1 Ein Mädchen wird da sein? Laß sie nur hereinkom- men !' — So trat sie denn in größter Freundlich- keit, einen vollen Korb am Arm, mit Rechen und Spaten ins Zimmer, entschuldigte ihr langes Aus- bleiben: sie habe den Namen der Gasse nicht mehr gewußt und sich erst heut zurechtgefragt. Mozart nahm ihr die Sachen nacheinander ab, die er so- fort mit Selbstzufriedenheit mir überreichte. Ich ließ mir herzlich dankbar alles und jedes wohl ge- fallen, belobte und pries; nur nahm es mich wun- der, wozu er das Gartengerät gekauft. — , Natür- lich', sagt' er, ,für dein Stückchen an der Wien.' — jMein Gott 1 das haben wir ja aber lange abgege- ben, weil uns das Wasser immer so viel Schaden tat und überhaupt gar nichts dabei herauskam. Ich sagte dir's, du hattest nichts dawider.' — ,Was? Und also die Spargeln, die wir dies Früh- jahr speisten' — , Waren immer vom Markt.' jSeht,' sagt' er, ,hätt' ich das gewußt ! Ich lobte sie dir so aus bloßer Artigkeit, weil du mich wirk- lich dauerst mit deiner Gärtnerei; es waren Din- gerl wie die Federspulen.' Die Herren belustigte der Spaß überaus; ich mußte einigen sogleich das Überflüssige zum An- 328 denken lassen. Als aber Mozart nun das Mädchen über ihr Heiratsanliegen ausforschte, sie ermun- terte, hier nur ganz frei zu sprechen, da das, was man für sie und ihren Liebsten tun würde, in der Stille, glimpflich und ohne jemandes Anklagen solle ausgerichtet werden, so äußerte sie sich gleichwohl mit so viel Bescheidenheit, Vorsicht und Schonung, daß sie alle Anwesenden völlig gewann und man sie endlich mit den besten Ver- sprechungen entließ. ,Den Leuten muß geholfen werden 1' sagte der Hauptmann. ,Die Innungskniffe sind das wenigste dabei ; hier weiß ich einen, der das bald in Ordnung bringen wird. Es handelt sich um einen Beitrag für das Haus, Einrichtungskosten und derglei- chen. Wie, wenn wir ein Konzert für Fremde im Trattnerischen Saal mit Entree ad libitum ankün- digten?' — Der Gedanke fand lebhaften Anklang. Einer der Herren ergriff das Salzfaß und sagte: ,Es müßte jemand zur Einleitung einen hübschen historischen Vortrag tun, Herrn Mozarts Einkauf schildern, seine menschenfreundliche Absicht er- klären, und hier das Prachtgefäß stellt man auf einen Tisch als Opferbüchse auf, die beiden Re- chen als Dekoration rechts und links dahinter gekreuzt.' Dies nun geschah zwar nicht, hingegen das Konzert kam zustande; es warfein Erkleckliches ab, verschiedene Beiträge folgten nach, daß das beglückte Paar noch Überschuß hatte, und auch die andern Hindernisse waren schnell beseitigt. Duscheks in Prag, unsre genausten Freunde dort, bei denen wir logieren, vernahmen die Geschich- 329 te, und sie, eine gar gemütliche, herzige Frau, ver- langte von dem Kram aus Kuriosität auch etwas zu haben; so legt' ich denn das Passendste für sie zurück und nahm es bei dieser Gelegenheit mit. Da wir inzwischen unverhofft eine neue liebe Kunstverwandte finden sollten, die nah daran ist, sich den eigenen Herd einzurichten, und ein Stück gemeinen Hausrat, welches Mozart ausgewählt, gewißlich nicht verschmähen wird, will ich mein Mitbringen halbieren, und Sie haben die Wahl zwischen einem schön durchbrochenen Schoko- ladequirl und mehrgedachter Salzbüchse, an wel- cher sich der Künstler mit einer geschmackvollen Tulpe verunköstigt hat. Ich würde unbedingt zu diesem Stück raten: das edle Salz, soviel ich weiß, ist ein Symbol der Häuslichkeit und GastUchkeit, wozu wir alle guten Wünsche für Sie legen wol- len." So weit Madame Mozart. Wie dankbar und wie heiter alles von den Damen auf- und angenommen wurde, kann man denken. Der Jubel erneuerte sich, als gleich darauf bei den Männern oben die Gegenstände vorgelegt und das Muster patriar- chaHscher Simplizität nun förmlich übergeben ward, welchem der Oheim in dem Silberschranke seiner nunmehrigen Besitzerin und ihrer spätesten Nachkommen keinen geringern Platz versprach, als jenes berühmte Kunstwerk des florentinischen Meisters in der Ambraser Sammlung einnehme. Es war schon fast acht Uhr; man nahm den Tee. Bald aber sah sich unser Musiker an sein schon am Mittag gegebenes Wort, die Gesellschaft näher mit dem „Höllenbrand" bekannt zu machen, der 330 unter Schloß und Riegel, doch zum Glück nicht allzu tief im Reisekoffer lag, dringend erinnert. Er war ohne Zögern bereit. Die Auseinanderset- zung der Fabel des Stücks hielt nicht lange auf, das Textbuch wurde aufgeschlagen, und schon brannten die Lichter am Fortepiano. Wir wünschten wohl, unsere Leser streifte hier zum wenigsten etwas von jener eigentümlichen Empfindung an, womit oft schon ein einzeln ab- gerissener, aus einem Fenster beim Vorübergehen an unser Ohr getragener Akkord, der nur von dorther kommen kann, uns wie elektrisch trifft und wie gebannt festhält, etwas von jener süßen Bangigkeit, wenn wir in dem Theater, solange das Orchester stimmt, dem Vorhang gegenüber sitzen. Oder ist es nicht so ? Wenn auf der Schwelle jedes erhabenen tragischen Kunstwerks, es heiße Macbeth, Ödipus oder wie sonst, ein Schauer der ewigen Schönheit schwebt, wo träfe dies in höhe- rem, auch nur in gleichem Maße zu, als eben hier? Der Mensch verlangt und scheut zugleich, aus seinem gewöhnUchen Selbst vertrieben zu wer- den, er fühlt, das UnendHche wird ihn berühren, das seine Brust zusammenzieht, indem es sie aus- dehnen und den Geist gewaltsam an sich reißen will. Die Ehrfurcht vor der vollendeten Kunst tritt hinzu; der Gedanke, ein göttliches Wunder ge- nießen, es als ein Verwandtes in sich aufnehmen zu dürfen, zu können, führt eine Art von Rüh- rung, ja von Stolz mit sich, vielleicht den glück- lichsten und reinsten, dessen wir fähig sind. Unsere Gesellschaft aber hatte damit, daß sie ein uns von Jugend auf völlig zu eigen gewordenes 331 Werk jetzt erstmals kennenlernen sollte, einen von unserem Verhältnis unendlich verschiedenen Stand, und, wenn man das beneidenswerte Glück der persönlichen Vermittlung durch den Urheber abrechnet, bei weitem nicht den günstigen wie wir, da eine reine und vollkommene Auffassung eigent- lich niemand möglich war, auch in mehr als einem Betracht selbst dann nicht möglich gewesen sein würde, wenn das Ganze unverkürzt hätte mit- geteilt werden können. Von achtzehn fertig ausgearbeiteten Nummern gab der Komponist vermuthch nicht die Hälfte (wir finden in dem unserer Darstellung zugrunde liegenden Bericht nur das letzte Stück dieser Rei- he, das Sextett, ausdrücklich angeführt), er gab sie meistens, wie es scheint, in einem freien Auszug, bloß auf dem Klavier, und sang stellenweise dar- ein, wie es kam und sich schickte. Von der Frau ist gleichfalls nur bemerkt, daß sie zwei Arien vor- getragen habe. Wir möchten uns, da ihre Stimme so stark als lieblich gewesen sein soll, die erste der Donna Anna („Du kennst den Verräter") und eine von den beiden der Zerline dabei denken. Genau genommen waren, dem Geist, der Ein- sicht, dem Geschmacke nach, Eugenie und ihr Verlobter die einzigen Zuhörer, wie der Meister sie sich wünschen mußte, und jene war es sicher ungleich mehr als dieser. Sie saßen beide tief im Grunde des Zimmers, das Fräulein regungslos, wie eine Bildsäule, und in die Sache aufgelöst auf einen solchen Grad, daß sie auch in den kurzen Zwischenräumen, wo sich die Teilnahme der übrigen bescheiden äußerte oder die innere Be- 332 wegung sich unwillkürlich mit einem Ausruf der Bewunderung Luft machte, die von dem Bräuti- gam an sie gerichteten Worte immer nur unge- nügend 2u erwidern vermochte. Als Mozart mit dem überschwenglich schönen Sextett geschlossen hatte und nach und nach ein Gespräch aufkam, schien er vornehmlich einzelne Bemerkungendes Barons mit Interesse und Wohl- gefallen aufzunehmen. Es wurde vom Schlüsse der Oper die Rede sowie von der vorläufig auf den Anfang Novembers anberaumten Aufführung, und da jemand meinte, gewisse Teile des Finale möchten noch eine Riesenaufgabe sein, so lächelte der Meister mit einiger Zurückhaltung; Konstan- ze aber sagte zu der Gräfin hin, daß er es hören mußte: „Er hat noch etwas in petto, womit er geheim tut, auch vor mir." „Du fällst", versetzte er, „aus deiner Rolle, Schatz, daß du das jetzt zur Sprache bringst; wenn ich nun Lust bekäme, von neuem anzufangen? und in der Tat, es juckt mich schon." „Leporello !" rief der Graf, lustig aufspringend, und winkte einem Diener. ,,Wein ! Sillery, drei Flaschen !" ,, Nicht doch ! damit ist es vorbei: mein Junker hat sein letztes im Glase." „Wohl bekomm's ihm — und jedem das Seine !" ,,Mein Gott, was hab' ich da gemacht !" lamen- tierte Konstanze mit einem Blick auf die Uhr. ,, Gleich ist es elfe, und morgen früh soll's fort. Wie wird das gehen?" „Es geht halt gar nicht, Beste, nur schlechter- dings gar nicht." 333 „Manchmal", fing Mozart an, ,,kann sich doch ein Ding sonderbar fügen. Was wird denn meine Stanzl sagen, wenn sie erfährt, daß eben das Stück Arbeit, daß sie nun hören soll, um ebendiese Stunde in der Nacht, und zwar gleichfalls vor einer angesetzten Reise, zur Welt geboren ist?" „Wär's möglich? Wann? Gewiß vor drei Wo- chen, wie du nach Eisenstadt wolltest !" „Getroffen ! Und das begab sich so. Ich kam nach zehne — du schliefst schon fest — von Rich- ters Essen heim und wollte versprochenermaßen auch bälder zu Bett, um morgens beizeiten heraus und in den Wagen zu steigen. Inzwischen hatte Veit, wie gewöhnlich, die Lichter auf dem Schreib- tisch angezündet, ich zog mechanisch den Schlaf- rock an, und mir fiel ein, geschwind mein letztes Pensum noch einmal anzusehen. Allein o Miß- geschick ! verwünschte, ganz unzeitige Geschäf- tigkeit der Weiber ! Du hattest aufgeräumt, die Noten eingepackt — die mußten nämlich mit: der Fürst verlangte eine Probe von dem Opus; ich suchte, brummte, schalt — umsonst 1 Darüber fällt mein Bück auf ein versiegeltes Kuvert: vom Abbate, den greulichen Haken nach auf der Adres- se — ja wahrlich ! und schickt mir den umgearbei- teten Rest seines Textes, den ich vor Monatsfrist noch nicht zu sehen hoffte. Sogleich sitz' ich be- gierig hin und lese und bin entzückt wie gut der Kauz verstand, was ich wollte. Es war alles weit simpler, gedrängter und reicher zugleich. Sowohl die Kirchhofsszene wie das Finale bis zum Unter- gang des Helden hat in jedem Betracht sehr ge- wonnen. (Du sollst mir aber auch, dacht' ich, 334 vortrefflicher Poet, Himmel und Hölle nicht un- bedankt zum zweitenmal beschworen haben !)Nun ist es sonst meine Gewohnheit nicht, in der Kom- position etwas vorauszunehmen, und wenn es noch so lockend wäre; das bleibt eine Unart, die sich sehr übel bestrafen kann. Doch gibt es Aus- nahmen, und kurz, der Auftritt bei der Reiter- statue des Gouverneurs, die Drohung, die vom Grabe des Erschlagenen her urplötzlich das Ge- lächter des Nachtschwärmers haarsträubend unter- bricht, war mir bereits in die Krone gefahren. Ich griff einen Akkord und fühlte, ich hatte an der rechten Pforte angeklopft, dahinter schon die gan- ze Legion von Schrecken beieinander liege, die im Finale loszulassen sind. So kam fürs erste ein Ada- gio heraus: D-Moll, vier Takte nur, darauf ein zweiter Satz mit fünfen; es wird, bild' ich mir ein, auf dem Theater etwas Ungewöhnliches geben, wo die stärksten Blasinstrumente die Stimme be- gleiten. Einstweilen hören Sie's, so gut es sich hier machen läßt." Er löschte ohne weiteres die Kerzen der beiden neben ihm stehenden Armleuchter aus, und jener furchtbare Choral ,,Dein Lachen endet vor der Morgenröte" erklang durch die Totenstille des Zimmers. Wie von entlegenen Sternenkreisen fallen die Töne aus silbernen Posaunen, eiskalt, Mark und Seele durchschneidend, herunter durch die blaue Nacht. „Wer ist hier? Antwort !" hört man Don Juan fragen. Da hebt es wieder an, eintönig wie zuvor, und gebietet dem ruchlosen Jüngling, die Toten in Ruhe zu lassen. 335 Nachdem diese dröhnenden Klänge bis auf die letzte Schwingung in der Luft verhallt waren, fuhr Mozart fort: „Jetzt gab es für mich begreiflicher- weise kein Aufhören mehr. Wenn erst das Eis ein- mal an einer Uferstelle bricht, gleich kracht der ganze See und klingt bis an den entferntesten Win- kel hinunter. Ich ergriff unwillkürlich denselben Faden weiter unten bei Don Juans Nachtmahl wieder, wo Donna Elvira sich eben entfernt hat und das Gespenst der Einladung gemäß erscheint. — Hören Sie an 1" Es folgte nun der ganze lange, entsetzenvolle Dialog, durch welchen auch der Nüchternste bis an die Grenze menschlichen Vorstellens, ja über sie hinaus gerissen wird, wo wir das Übersinnliche schauen und hören und innerhalb der eigenen Brust von einem Äußersten zum andern willenlos uns hin und her geschleudert fühlen. Menschlichen Sprachen schon entfremdet, be- quemt sich das unsterbüche Organ des Abgeschie- denen, noch einmal zu reden. Bald nach der ersten fürchterlichen Begrüßung, als der Halbverklärte die ihm gebotene irdische Nahrung verschmäht, wie seltsam schauerlich wandelt seine Stimme auf den Sprossen einer luftgewebten Leiter unregel- mäßig auf und nieder ! Er fordert schleunigen Entschluß zur Buße: kurz ist dem Geist die Zeit gemessen, weit, weit, weit ist der Weg ! Und wenn nun Don Juan, im ungeheuren Eigenwillen den ewigen Ordnungen trotzend, unter dem wachsen- den Andrang der höüischen Mächte ratlos ringt, sich sträubt und windet und endlich untergeht, noch mit dem vollen Ausdruck der Erhabenheit 336 in jeder Gebärde: wem zitterten nicht Herz und Nieren vor Lust und Angst zugleich? Es ist ein Gefühl, ähnlich dem, womit man das prächtige Schauspiel einer unbändigen Naturkraft, den Brand eines herrlichen Schiffes anstaunt. Wir neh- men wider Willen gleichsam Partei für diese blinde Größe und teilen knirschend ihren Schmerz im reißenden Verlauf ihrer Selbstvernichtung. Der Komponist war am Ziele. Eine Zeitlang wagte niemand, das allgemeine Schweigen zuerst zu brechen. „Geben Sie uns," fing endlich mit noch be- klemmtem Atem die Gräfin an, „geben Sie uns, ich bitte Sie, einen Begriff, wie Ihnen war, da Sie in jener Nacht die Feder weglegten." Er blickte, wie aus einer stillen Träumerei er- muntert, helle zu ihr auf, besann sich schnell und sagte, halb zu der Dame, halb zu seiner Frau: „Nun ja, mir schwankte wohl zuletzt der Kopf. Ich hatte dies verzweifelte Dibattimento bis zu dem Chor der Geister in einer Hitze fort beim oflFenen Fenster zu Ende geschrieben und stand nach einer kurzen Rast vom Stuhl auf, im Begriff, nach deinem Kabinett zu gehen, damit wir noch ein bißchen plaudern und sich mein Blut aus- gleiche. Da machte ein überquerer Gedanke mich mitten im Zimmer stillstehen." (Hier sah er zwei Sekunden lang zu Boden, und sein Ton verriet beim Folgenden eine kaum merkbare Bewegung.) ,,Ich sagte zu mir selbst: Wenn du noch diese Nacht wegstürbest und müßtest deine Partitur an diesem Punkt verlassen: ob dir's auch Ruh' im Grabe Heß? — Mein Auge hing am Docht des l Romantiker , 337 Lichts in meiner Hand und auf den Bergen von abgetropftem Wachs. Ein Schmerz bei dieser Vor- stellung durchzuckte mich einen Moment; dann dacht' ich weiter: Wenn dann hernach über kurz oder lang ein anderer, vielleicht gar so ein Wel- scher, die Oper zu vollenden bekäme und fände von der Introduktion bis Numero siebzehn mit Ausnahme einer Piece alles sauber beisammen, lauter gesunde, reife Früchte ins hohe Gras ge- schüttelt, daß er sie nur auflesen dürfte, ihm graute aber doch ein wenig hier vor der Mitte des Finale, und er fände alsdann unverhofft den tüchtigen Felsbrocken da insoweit schon beiseitegebracht: er möchte drum nicht übel in das Fäustchen la- chen ! Vielleicht war' er versucht, mich um die Ehre zu betrügen. Er sollte aber wohl die Finger dran verbrennen: da war' noch immerhin ein Häuflein guter Freunde, die meinen Stempel ken- nen und mir, was mein ist, redlich sichern würden. — Nun ging ich, dankte Gott mit einem vollen Blick hinauf und dankte, liebes Weibchen, deinem Genius, der dir so lange seine beiden Hände sanft über die Stirne gehalten, daß du fortschhefst, wie eine Ratze, und mich kein einzig Mal anrufen konntest. Wie ich dann aber endlich kam und du mich um die Uhr befrugst, log ich dich frischweg ein paar Stunden jünger, als du warst; denn es ging stark auf viere. Und nun wirst du begreifen, warum du mich um sechse nicht aus den Federn brachtest, der Kutscher wieder heimgeschickt und auf den andern Tag bestellt werden mußte." „NatürHch !" versetzte Konstanze. „Nur bilde sich der schlaue Mann nicht ein, man sei so dumm 338 gewesen, nichts zu merken ! Deswegen brauch- test du mir deinen schönen Vorsprung fürwahr nicht 2u verheimlichen." „Auch war es nicht deshalb." „Weiß schon — du wolltest deinen Schatz vor- erst noch unbeschrien haben." „Mich freut nur," rief der gutmütige Wirt, „daß wir morgen nicht nötig haben, ein edles Wiener Kutscherherz zu kränken, wenn Herr Mozart par- tout nicht aufstehen kann. Die Order ,Hans, spann wieder aus !' tut jederzeit sehr weh." Diese indirekte Bitte um längeres Bleiben, mit der sich die übrigen Stimmen im herzlichsten Zu- spruch verbanden, gab den Reisenden Anlaß zu Auseinandersetzung sehr triftiger Gründe dage- gen; doch verglich man sich gerne dahin, daß nicht zu zeitig aufgebrochen und noch vergnügt zusammen gefrühstückt werden solle. Man stand und drehte sich noch eine Zeitlang in Gruppen schwatzend umeinander. Mozart sah sich nach jemanden um, augenscheinlich nach der Braut; da sie jedoch gerade nicht zugegen war, so richtete er naiverweise die ihr bestimmte Frage unmittelbar an die ihm nahe stehende Franziska: ,,Was denken Sie denn nun im ganzen von unserm Don Giovanni? was können Sie ihm Gutes pro- phezeien?" ,,Ich will", versetzte sie mit Lachen, ,,im Na- men meiner Base so gut antworten, als ich kann. Meine einfältige Meinung ist, daß, wenn Don Giovanni nicht aller Welt den Kopf verrückt, so schlägt der hebe Gott seinen Musikkasten gar zu — auf unbestimmte Zeit, heißt das — und gibt 339 der Menschheit zu verstehen — " „Und gibt der Menschheit", fiel der Onkel verbessernd ein, „den Dudelsack in die Hand und verstocket die Her- zen der Leute, daß sie anbeten Baalim." „Behüt' uns Gott !" lachte Mozart. ,,Je nun, im Lauf der nächsten sechzig, siebzig Jahre, nachdem ich lang fort bin, wird mancher falsche Prophet aufstehen." Eugenie trat mit dem Baron und Max herbei, die Unterhaltung hob sich unversehens auf ein Neues, ward nochmals ernsthaft und bedeutend, so daß der Komponist, eh' die Gesellschaft aus- einander ging, sich noch gar mancher schönen, bezeichnenden Äußerung erfreute, die seiner Hoff- nung schmeichelte. Erst lange nach Mitternacht trennte man sich; keines empfand bis jetzt, wie sehr es der Ruhe bedurfte. Den andern Tag (das Wetter gab dem gestrigen nichts nach) um zehn Uhr sah man einen hübschen Reisewagen, mit den Effekten beider Wiener Gäste bepackt, im Schloßhof stehen. Der Graf stand mit Mozart davor, kurz ehe die Pferde her- ausgeführt wurden, und fragte, wie er ihm gefalle. „Sehr gut; er scheint äußerst bequem." „Wohlan, so machen Sie mir das Vergnügen und behalten Sie ihn zu meinem Andenken !" „Wie? ist das Ernst?" „Was war' es sonst !" ,, Heiliger Sixtus und Calixtus 1 — Konstanze ! du 1" rief er zum Fenster hinauf, wo sie mit den andern heraussah. ,,Der Wagen soll mein sein ! Du fährst künftig in deinem eigenen Wagen !" 340 Er umarmte den schmunzelnden Geber, be- trachtete und umging sein neues Besitztum von allen Seiten, öffnete den Schlag, warf sich hinein und rief heraus: „Ich dünke mich so vornehm und so reich wie Ritter Gluck. Was werden sie in Wien für Augen machen !" „Ich hoffe", sagte die Gräfin, „Ihr Fuhrwerk wiederzusehn bei der Rückkehr von Prag, mit Kränzen um und um behangen !" Nicht lang nach diesem letzten fröhlichen Auf- tritt setzte sich der vielbelobte Wagen mit dem scheidenden Paare wirklich in Bewegung und fuhr im raschen Trab nach der Landstraße zu. Der Graf Heß sie bis Wittingau fahren, wo Postpferde genommen werden sollten. Wenn gute, vortreffliche Menschen durch ihre Gegenwart vorübergehend unser Haus belebten, durch ihren frischen Geistesodem auch unser We- sen in neuen raschen Schwung versetzten und uns den Segen der Gastfreundschaft in vollem Maße zu empfinden gaben, so läßt ihr Abschied immer eine unbehagliche Stockung, zum mindesten für den Rest des Tags, bei uns zurück, wofern wir wieder ganz nur auf uns selber angewiesen sind. Bei unsern Schloßbewohnern traf wenigstens das letztere nicht zu. Franziskas Eltern nebst der alten Tante fuhren zwar alsbald auch weg; die Freundin selbst indes, der Bräutigam, Max ohne- hin verblieben noch. Eugenien, von welcher vor- zugsweise hier die Rede ist, weil sie das unschätz- bare Erlebnis tiefer als alle ergriff, ihr, sollte man denken, konnte nichts fehlen, nichts genommen oder getrübt sein: ihr reines Glück in dem wahr- 341 haft geliebten Mann, das erst soeben seine förm- liche Bestätigung erhielt, mußte alles andre ver- schlingen, vielmehr das Edelste und Schönste, wovon ihr Herz bewegt sein konnte, mußte sich notwendig mit jener seligen Fülle in eines ver- schmelzen. So wäre es auch wohl gekommen, hätte sie gestern und heute der bloßen Gegen- wart, jetzt nur dem reinen Nachgenuß derselben leben können. Allein am Abend schon bei den Erzählungen der Frau war sie von leiser Furcht für ihn, an dessen liebenswertem Bild sie sich er- götzte, geheim beschlichen worden; diese Ah- nung wirkte nachher, die ganze Zeit als Mozart spielte, hinter allem unsäglichen Reiz, durch alle das geheimnisvolle Grauen der Musik hindurch im Grund ihres Bewußtseins fort, und endlich überraschte, erschütterte sie das, was er selbst in der nämlichen Richtung gelegentlich von sich er- zählte. Es ward ihr so gewiß, so ganz gewiß, daß dieser Mann sich schnell und unaufhaltsam in seiner eigenen Glut verzehre, daß er nur eine flüchtige Erscheinung auf der Erde sein könne, weil sie den Überfluß, den er verströmen würde, in Wahrheit nicht ertrüge. Dies, neben vielem andern, ging, nachdem sie sich gestern niedergelegt, in ihrem Busen auf und ab, während der Nachhall Don Juans verworren noch lange fort ihr inneres Gehör einnahm. Erst gegen Tag schlief sie ermüdet ein. Die drei Damen hatten sich nunmehr mit ihren Arbeiten in den Garten gesetzt, die Männer leiste- ten ihnen Gesellschaft, und da das Gespräch na- türhch zunächst nur Mozart betraf, so verschwieg 342 auch Eugenie ihre Befürchtungen nicht. Keins wollte dieselben im mindesten teilen, wiewohl der Baron sie vollkommen begriff. Zur guten Stunde, in recht menschlich reiner, dankbarer Stimmung pflegt man sich jeder Unglücksidee, die einen gerade nicht unmittelbar angeht, aus allen Kräf- ten zu erwehren. Die sprechendsten, lachendsten Gegenbeweise wurden, besonders vom Oheim, vorgebracht, und wie gerne hörte nicht Eugenie alles an ! Es fehlte nicht viel, so glaubte sie wirk- lich 2u schwarz gesehen zu haben. Einige Augenblicke später, als sie durchs große Zimmer oben ging, das eben gereinigt und wieder in Ordnung gebracht worden war, und dessen vorgezogene gründamastene Fenstergardinen nur ein sanftes Dämmerlicht zuließen, stand sie weh- mütig vor dem Klaviere still. Durchaus war es ihr wie ein Traum, zu denken, wer noch vor wenigen Stunden davorgesessen habe. Lang blickte sie ge- dankenvoll die Tasten an, die er zuletzt berührt, dann drückte sie leise den Deckel zu und zog den Schlüssel ab in eifersüchtiger Sorge, daß so bald keine andere Hand wieder öffne. Im Weggehn stellte sie beiläufig einige Liederhefte an ihren Ort zurück: es fiel ein älteres Blatt heraus, die Ab- schrift eines böhmischen Volksliedchens, das Franziska früher, auch wohl sie selbst, manchmal gesungen. Sie nahm es auf, nicht ohne darüber betreten zu sein. In einer Stimmung, wie die ihri- ge, wird der natürlichste Zufall leicht zum Orakel. Wie sie es aber auch verstehen wollte, der Inhalt war derart, daß ihr, indem sie die einfachen Verse wieder durchlas, heiße Tränen entfielen. 343 Ein Tännlein grünet wo, Wer weiß? im Walde, Ein Rosenstrauch, wer sagt. In welchem Garten? Sie sind erlesen schon — Denk' es, o Seele ! — Auf deinem Grab 2u wurzeln Und zu wachsen. Zwei schwarze Rößlein weiden Auf der Wiese, Sie kehren heim zur Stadt In muntern Sprüngen. Sie werden schrittweis gehn Mit deiner Leiche, Vielleicht, vielleicht noch eh*' An ihren Hufen Das Eisen los wird. Das ich blitzen sehe. 344 BIOGRAPHISCHE NOTIZEN. Jeder Auswahl aus dem reichen Schrifttum der Romantik muss notwendig ein Mangel anhaften: der der Unvollständigkeit. Die Romantik ist grundsätzlich dialektisch, und das bedeutet, daß nichts absolut und losgelöst gilt. Die Briefe, die sich die Menschen damals schrieben, ihre geschlif- fenen Aphorismen, ihre wissenschaftlichen Ar- beiten auch auf den entlegensten Gebieten, die Predigten ihrer Geistlichen, die Selbstbekennt- nisse ihrer Maler und Musiker sind nicht weniger wichtig als ihre Dichtungen. Ein schmales Bänd- chen wie das vorliegende darf und will daher nicht den Anspruch erheben, ein treues Bild der Roman- tik zu geben, sondern muß sich darauf beschrän- ken, Proben aus dem großen Schatz vorzuzeigen, den wirklich für sich zu heben, dem interessierten Leser vorbehalten bleiben muß. Nur mit großem Bedauern haben die Herausgeber auf viele Kost- barkeiten Verzicht geleistet. Absichtlich jedoch sind Hölderlin und Kleist, die großen Zeitgenos- sen der Romantik, unberücksichtigt geblieben, denn ihr Werk gehört in einen andern geistigen Zusammenhang. Wenn das Merkmal der Roman- tik die Auflösung der sprachlichen Form und des geistigen Gehalts war, so lag Hölderlins und Kleists Größe gerade umgekehrt in dem Bemü- hen um neue Absolutheit und Monumentalität. Die nachfolgenden biographischen Daten der in unserer Auswahl vertretenen Dichter mögen schheßUch die vorstehenden allgemeinen Be- trachtungen über die Romantik ergänzen: 345 LUDWIG TIECK geb. 1773 in BerUn, der produktivste der romantischen Dichter, von sei- ner Zeit Goethe an die Seite gestellt, heute sehr 2u Unrecht wenig gelesen. Weich und nachgiebig von Charakter, befreundet mit allen großen Ro- mantikern, vor allem mit Wackenroder und No- valis, deren nachgelassene Werke er bearbeitet und herausgibt. Seine unvergängliche Gabe an das deutsche Volk ist der deutsche Shakespeare, den er mit August Wilhelm Schlegel gemeinschaftlich übersetzt. Veröffentlicht zahlreiche altdeutsche Literaturdenkmäler, mit seinem Drama ,,Geno- veva" regt er Schillers „Jungfrau von Orleans" an. Seine zahlreichen Novellen, Erzählungen, Romane behandeln abenteuerliche, phantastische, spannende Stoffe aus Geschichte, Sage und Le- gende. Überlebt alle seine Freunde und den gan- zen Ablauf der Romantik. Stirbt erst 1853 als Vorleser des königlichen Hauses in Berlin. WILHELM WACKENRODER, geb. 1773 in Berlin, veröffentlicht 1797 „Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders", die zuerst für ein Werk Goethes gehalten werden. Es ist das erste Buch der Romantik und bringt bereits deren wichtigste Themen: Kunst als Religion, Innigkeit des Erlebnisses, Hochschätzung des deutschen Mittelalters, Neigung zum Katholizis- mus, „Durch Worte herrschen wir über den gan- zen Erdkreis, durch Worte erhandeln wir uns mit leichter Mühe alle Schätze der Erde. Nur das Unsichtbare, das über uns schwebt, ziehen Worte nicht in unser Gemüt herab." Stirbt bereits 1798. 346 Sein Erbe wirkt durch die ganze Romantik fort. FRIEDRICH SCHLEGEL, geb. 1772 in Han- nover, der eigentliche Theoretiker der Romantik. Nirgendwo Spezialist, aber hervorragend als Phi- lologe, Historiker, Literaturforscher, Ästhetiker. Zugleich der geistvollste deutsche Essaiist. Ver- heiratet mit Dorothea Veit, der Tochter von Moses Mendelssohn. Zeitweilige Hausgemein- schaft mit Fichte und Schleiermacher. Der letztere verteidigt Schlegels gewagten erotischen Roman „Lucinde" (1796) mit einem Brief buch. „Was sei- nen Geist betrifft", schreibt Schleiermacher über ihn, „so ist er mir durchaus superieur, daß ich nur mit vieler Ehrfurcht davon sprechen kann . . . Was ich aber doch vermisse, ist das zarte Gefühl und der feine Sinn für die HebUchen Kleinigkeiten des Lebens und für die feinen Äußerungen schö- ner Gesinnungen." Schlegel wird später katho- lisch, geht nach Österreich, schließt sich dort den unnachgiebigen Reaktionären an, wird geadelt und stirbt 1829, „fett, bequem und schwelgerisch wie ein Mönch." NOVALIS (Friedrich von Hardenberg), geb. 1772 im Mansfeldischen, seine Erziehung herrn- hutisch-pietistisch. Studiert Bergbauwissenschaft, gleichzeitig literarische, philosophische, wissen- schaftliche Pläne von größtem Ausmaß. Bei ihm alles aphoristisch und fragmentarisch, doch lebt die ganze Romantik von seinen Ideen. „Die Welt muß romantisiert werden... Indem ich dem Gewöhnlichen einen hohen Sinn, dem Gewöhn- 347 liehen ein geheimnisvolles Ansehen, dem Be- kannten die Würde des Unbekannten, dem End- lichen einen unendlichen Schein gebe, so roman- tisiere ich es." Der Tod seiner 14-jährigen Ver- lobten macht ihn selbst 2um todesgezeichneten Elegiker. „Hymnen an die Nacht". Romanfrag- ment ,, Heinrich von Ofterdingen", eine Ver- klärung des Mittelalters, die Kunst als Lebens- form. Aufsatz über die „Christenheit" wird wegen der katholischen Tendenz von den Romantikern zuerst abgelehnt und erst veröffentlicht, als Fried- rich Schlegel bereits selbst katholisch geworden ist. Novalis stirbt 1801 an der Schwindsucht. Goethe nennt ihn einen „Imperator" der Lite- ratur. CLEMENS BRENTANO, geb. 1778 in Ehren- breitstein am Rhein. Sohn eines eingewanderten Kaufmanns aus dem Tessin, Enkel der Jugend- freundin Goethes Sophie Laroche. Kommt als Jenenser Student in den romantischen Kreis. Seine Schwester Bettina wird Gattin Achims von Ar- nim, sein Schwager Savigny ist Begründer der romantischen Rechtsschule. Brentano veröffent- licht 1801 den „Verwilderten Roman Godwi", in den zahlreiche Aphorismen, Gedichte, Theorien über das Wesen des Romantischen, literarische Polemiken eingeflochten sind. Sammelt systema- tisch altdeutsche Lieder und Märchen. Gibt mit Arnim „Des Knaben Wunderhorn" heraus. Zeit- weilig grober Antisemit, später mehr mystisch- katholisch. Beschäftigt sich lange mit einer Stig- matisierten, will katholischer Priester werden, 348 wird aber nicht ordiniert, da er sich von seiner Frau, einer romantischen Hysterikerin, hat schei- den lassen. Unstetes Leben, unglückliche Liebes- erlebnisse. 1817 Generalbeichte in Berlin, danach nur noch wenige weltliche Dichtungen, darunter die Novelle vom Braven Kasperl. Stirbt 1842. JEAN PAUL (Friedrich Richter), geb. 1763 in Wunsiedel am Fichtelgebirge, Sohn einer blut- armen Pfarrers witwe. Kann sein Studium nicht beenden. Sein erster Romanerfolg „Die unsicht- bare Loge", stark beeinflußt vom „Wilhelm Meister", bringt ihn nach Weimar. Schiller und Goethe verhalten sich kühl, Herder wird sein Freund und Förderer. Jean Paul hält sich abseits von den Zirkeln und Cliquen der Romantiker, polemisiert gegen Fichte. Zieht sich nach Bay- reuth zurück, emsiger Arbeiter, daneben ausge- dehnte Korrespondenz, hauptsächlich mit Frau- en. Wird zum beliebtesten Schriftsteller seiner Zeit, — seine größten Romane „Hesperus", „Siebenkäs", „Flegeljahre", „Titan". Wechsel zwischen Idylle und Hymnik, zwischen Ironie und romantischem Idealismus. Hat von allen Roman- tikern am meisten seelische Substanz und kennt nicht die Qual des romantischen Nihilismus. Nei- gung zu barocken Abschweifungen, durch die zuweilen die meist sehr einfache Handlung ver- deckt wird. „Ich konnte nie mehr als drei Wege, glücklich zu werden, auskundschaften. Der erste, der in die Höhe geht, ist, so weit über das Gewölk des Lebens hinaus zu dringen, daß man die ganze äußere Welt mit ihren Wolfsgruben, Beinhäusern 349 und Gewitterableitern von weitem unter seinen Füßen nur wie ein eingeschrumpftes Kindergärt- chen liegen sieht. Der zweite ist, gerade herabzu- fallen ins Gärtchen und da sich so heimisch in die Furche einzunisten, daß . . . man ebenfalls keine Wolfsgruben, Beinhäuser und Stangen sondern nur Ähren erblickt. . . Der dritte, den ich für den schwersten und klügsten halte, ist, mit den beiden | andern zu wechseln." Stirbt 1825. ACHIM VON ARNIM, geb. 1781 in BerUn, nächster Freund und Schwager Brentanos. Ist mit Goethe befreundet, der seine Novellensammlung „eins der bestgeschriebenen deutschen Bücher" nennt. Später Bruch mit Goethe, nachdem die temperamentvolle Bettina Goethes Gattin Chri- stiane grob beleidigt hat. Romane ,, Gräfin Dolo- res" mit vielen eingeschobenen selbständigen No- vellen, „Die Kronenwächter", der in der Hohen- staufen-Zeit handelt und unvollendet bleibt. Zahlreiche dramatische Arbeiten, die jedoch trotz einzelner glänzender Szenen für die Bühne zu wenig geschlossen sind. Starkes Interesse für die Barockdichtung. Brentano über ihn: „Wenn ich Arnim rezensierte, würde ich sein Talent an die Sterne erheben, ich würde alle Ansprüche, die man machen kann, an ihn machen und würde ihn scharf strafen, daß er nicht klassisch ist, daß er nur teilweise ehrlich arbeitet, daß er es ungemein ernst meint und ebenso leichtsinnig arbeitet." Arnim stirbt 1831 auf seinem märkischen Gut, auf das er sich zurückgezogen hat, nachdem er mit gele- gentlichen politischen Plänen keinen Erfolg hatte. 350 ERNST THEODOR AMADÄUS HOFF- MANN, geb. 1776 in Königsberg, juristische Laufbahn, nach der Niederlage Preußens aus dem Staatsdienst entlassen, wird Kapellmeister. Kom- poniert selber im Stile Mozarts, dem zu Ehren er sich seinen dritten Vornamen zulegt. Gleichzeitig schon Novellist, hauptsächlich gespenstische Mo- tive. Immer wiederkehrend: der Doppelgänger. Seine Stärke liegt im Stofflichen eher als im Sprachlichen. Trotzdem bleibt er der populärste Schriftsteller der Romantik. Romane ,, Elixiere des Teufels" mit großem dämonischen Apparat. „Kater Murr", ironischer Musikerroman, in der Form stark von Jean Pauls Technik beeinflußt. Nach den Freiheitskriegen wieder im Staatsdienst, reiche literarische Tätigkeit, vorwiegend Novellen in der Manier der „Nachtstücke". Stirbt 1822 an Tabes. JOSEPH FREIHERR VON EICHENDORFF, geb. 1788 in Oberschlesien, neben Brentano der bedeutendste Lyriker der Romantik, bei dem alle positiven Entdeckungen der Romantik ihre Form finden. Heimweh, das ewige Wandern, überwach- sene Ruinen, Sommernächte. Selbst KathoUk, wendet er sich gegen den ästhetisierenden Katho- lizismus der Romantik. Romane ,, Ahnung und Gegenwart" und ,, Dichter und ihre Gesellen", worin der künstlerische Charakter mehr träume- risch als titanisch geschildert wird. Andrerseits die gegenständlichen Schilderungen von Land- schaften und Naturstimmungen viel dichter als bei den Urromantikern. Von seiner Prosa bleibt 351 nur der „Taugenichts" lebendig, seine Lieder da- gegen werden im Laufe eines Jahrhunderts zu echten Volksliedern. Stirbt 1857, nachdem er selbst noch eine Darstellung der romantischen Literaturgeschichte veröffentlicht hat. EDUARD MÖRIKE, geb. 1804 in Ludwigs- burg bei Stuttgart, der Romantiker des Bieder- meier, quietistisch, zärtlich, „ein Mensch in Schlafrock und Pantoffeln" (Gutzkow), hervor- ragender Kenner und Übersetzer antiker Dichter, wird Pastor, kümmert sich aber wenig um seine Pflichten. Jugendroman „Maler Nolten" nach romantischen Vorbildern, fragmentarisch, außer dem ,, Mozart" nur märchenhafte Prosa. Die Mo- zartnovelle bestimmt für viele Jahrzehnte das (falsche) Bild, das sich das 19. Jahrhundert von der Persönlichkeit Mozarts gemacht hat. Mörikes Lyrik, die zu dem Bedeutendsten des 19. Jahr- hunderts gehört, ist bereits ganz modern. Wieder- auflösung der gegenständlichen Naturstimmung, zuweilen volksHedhaft, meist jedoch seeHsch, re- flektiert. WOLF NOOREM. 352 NACHWORT. „Romantisch" nennt man in der Tagessprache gern Situationen oder Menschen, denen etwas Un- gewöhnliches, Außerordentliches, Überschweng- liches anhaftet, und die in uns erhebende oder begeisternde Gefühle wachrufen. Für den tätigen bürgerlichen Menschen ist im Grunde jeder Künst- ler ein Romantiker, insofern nämlich, als dieser angeblich dem Leben, „wie es wirklich ist", etwas fremd gegenüberstehe, in praktischen Dingen oft versage und sich mit seinen Gedanken dauernd in Regionen aufhalte, die mit den nüchternen sach- lichen Aufgaben und Sorgen des Alltags wenig zu tun haben. Die historische Romantik, nämlich jene unge- mein lebendige und produktive Epoche der deut- schen Geistesgeschichte zwischen 1795 und 1825, ist zweifellos an der Entstehung dieser Auffassung vom Künstlertum wesentlich beteiligt. Wenn man heute die damals geschriebenen Bücher durch- blättert, so fällt sofort eine gewisse Abseitigkeit oder gar „Verstiegenheit" auf. Die Charaktere der romantischen Dichtungen, ihre Sorgen und Lei- den sind ungewöhnlich, und sie pflegen sich dar- über in einer Weise auszusprechen, die wir, wenn sie uns bei einem unsrer Zeitgenossen begegnet, übertrieben oder gar krankhaft finden würden. Auffällig ist auch, daß vielfach wirklich von Menschen am Rande des Wahnsinns und von Abenteuern in düsteren oder gespenstischen Wel- ten die Rede ist. Trotz dieser offenbaren Unnor- malität des romantischen Lebensraumes vermögen 353 uns jedoch jene Erzählungen, Novellen, Märchen seltsam unmittelbar zu berühren und zu packen. Wir lesen sie, wenn wir einmal darüber geraten sind, mit einem viel angespannteren Interesse als die literarischen Erzeugnisse andrer vergangener Epochen. Wir brauchen uns dafür nicht ,, umzu- stellen", wir brauchen nicht „gebildet" zu sein, um an der Lektüre jener alten Bücher eine un- mittelbare Freude zu haben. Was uns sonst nur bei modernen Romanen, die von Menschen unseresgleichen handeln, geschieht, daß wir uns selbst und das Buch vor uns vergessen, und daß wir mit den Schicksalen und Stimmungen eins werden, die vor uns ausgebreitet werden, — das geschieht merkwürdigerweise beim Lesen jener unwirklichen romantischen Geschichten. Diese Tatsache allein würde eine Auswahl der schönsten Stücke aus den romantischen Büchern rechtfertigen. Aber ihre leichte Zugänglichkeit und Eindringlichkeit darf uns nicht darüber täuschen, daß in jener Epoche viel mehr geschah als eine verblüffende Entwicklung der Erzähl- und Fabulierkunst. Vielmehr steht hinter dieser Kunst ein umfassender geistiger Kampf, der die Grenzen der Literatur durchbricht und die ganze seelische Existenz des neuzeitlichen Menschen in Frage stellt, — ein Umwandlungsprozeß, der auch heute noch lange nicht abgeschlossen ist, eine krisen- hafte Zuspitzung des abendländischen Denkens, die nicht nur Bücher hervorbringt, sondern unser Leben bereits grundlegend verändert hat. Die politischen, gesellschafthchen kulturellen Kata- strophen, die unsern Erdteil heute erschüttern, 354 stehen alle im Zusammenhang mit den Ideen, die von den Romantikern erstmalig gedacht und aus- gesprochen wurden. Ein Jahrhundert lang haben sie unterirdisch weitergewirkt, und man glaubte ■sie schon überwunden und abgetan, bis sie dann plötzUch, nun freilich oftmals in häßlich verzerrter und verflachter Form, erneut ans Tageslicht der Verwirklichung drängten. Alle romantische Dich- tung steht im tiefsten Zusammenhang mit der romantischen Philosophie, an die sie sich bewußt und willig anschloß. Dabei hat die Romantik eine Lehre, ein System eigentlich nicht hinterlassen. Denn sie war in keinem Sinne eine Einheit. Sie v/ar keine Schule mit einem festen Programm, sondern eine Be- wegung, die sich unablässig um ihre eigne Defi- nition bemühte und damit nie zu einem Abschluß kam. Kein Romantiker stimmte mit dem andern völlig überein, und jeder Einzelne widersprach sich sogar dauernd selbst. Dies wurde nicht als Mangel, sondern im Gegenteil als das Anzeichen einer wahrhaft philosophischen und poetischen Lebendigkeit aufgefaßt. Damals ging gleichsam ein elektrisches Feuer über Deutschland, — es oszillierte zwischen Berlin und München, zwischen Heidelberg und Bayreuth, und immer wieder entlud es sich knisternd und farbenprächtig im Schnitt- und Mittelpunkt jener Linien, in Jena- Weimar, dem ,,Herz der Welt", wie Jean Paul jenes geistige Zentrum einmal nannte. Alle Roman- tiker waren auf Forschungsreisen in das unbe- kannte Territorium der menschlichen Seele be- griffen, und was sie von diesen Reisen mitbrachten, 355 waren nur unendliche Fragestellungen, nicht aber Ergebnisse. Die Romantik war kein gemütliches Gedankenhäuschen, in dem man es sich Wohlsein lassen konnte, — sie war eine dauernde Aufgabe, die eine niemals vergoltene Treue erforderte. ,,So unendlich reich war diese Zeit", schrieb damals der Däne Henrik Steffens, ,,daß in ihr eine all- seitig bewegte Gegenwart alle bedeutenden Mo- mente der Vergangenheit umfaßte, indem sie zugleich mit der großartigsten Zukunft ge- schwängert war; hoffnungsvoller erschien keine je in der Geschichte." Jede neue Bewegung entsteht zunächst aus der Opposition gegen das Vorhergehende, und auch bei den Romantikern war das über alle indivi- duelle Verschiedenheit hinweg Einende der Wider- stand gegen das Alte. Das Zeitalter der „Auf- klärung" wurde von ihnen als der Erzfeind schlechthin angesehen. Man wehrte sich gegen den männlichen tatkräftigen Optimismus der beiden vorangegangenen Jahrhunderte, in denen die Menschen an den unaufhaltsamen Fortschritt und sich selbst fähig geglaubt hatten, die Welt wie eine exakte Maschinerie von ineinandergreifenden Zahnrädern einrichten zu können, gegen jene Weltanschauung, deren Symbol der Uhrmacher- gott war, in dessen Rechentafel weder der Zufall noch das Wunder Platz hatten. Der bis ins letzte durchdachten Maschine stellte die Romantik den freigewachsenen Organismus gegenüber, dem Hochmut des Alles-Erklären-Wollens die Andacht vor dem unerforschbaren Geheimnis, dem ratio- nalen Menschen die geniale Individualität, dem 356 Glauben an den Fortschritt die Trauer um die versunkene Vergangenheit. Waren das 17. und 18. Jahrhundert männlich, aktiv und optimistisch gewesen, so wurde die Haltung der Romantik weiblich, nachfühlend und pessimistisch. Aller- dings war dieser Umschwung seit langem vor- bereitet: der Pietismus, der witzig-sentimentale Roman der Engländer, Rousseaus Rückwendung zum Natürlichen, der Genialitätskult der Sturm und Drang-Periode, Shaftesburys Verinnerlichung und Herders Entdeckung des Geschichtlichen und Volkstümlichen, — all diese verschiedenartigen Bestrebungen waren schon gegen die rationali- stisch-mechanistische Aufklärung gerichtet ge- wesen. Aber es bedurfte wohl erst einer so ge- waltigen Erschütterung, wie sie die Französische Revolution darstellte, damit das Selbstvertrauen des 18. Jahrhunderts gebrochen wurde. Im Zei- chen des Todes blühte die Romantik auf, durch ihre ganze wechselvolle Entwicklung hindurch ist ihr dieses Signum geblieben. Das Weibliche, Urhafte, das der Erde und dem Tode Verhaftete brach nun durch und gelangte zum Siege. Organismus und Individualität, das sind die beiden Ideale, an denen sich die Romantik immer wieder orientiert. Das, was aus sich selbst heraus entsteht, blüht und vergeht, — das, was nicht durch Willen und Setzung, sondern durch eigne Substanzhaftigkeit und Innerlichkeit ist, — das, was nicht teilt und zerstückelt, sondern vereint und organisiert, wird als das Vollkommene ange- sehen. Man findet es in der Kunst, in der Religion, in der Natur und in den Gestaltungen der Ge- 357 schichte, im klassischen Hellenentum, im deut- schen Mittelalter und schließlich auch im Orient. Eine emsige beglückende Sammeltätigkeit beginnt auf allen Gebieten der Historie, der Philologie, der Volkskunde und der Mythologie. Ariost und Calderon, Shakespeare und Cervantes, die Mystik Jacob Böhmes und die gotische Baukunst werden für die deutsche Bildung neu entdeckt. Man be- trachtet das Vergangene, das schon dem Tode Anheimgefallene nicht mehr als überwundene schlechtere Vorstufen zum eigenen Hochstand, sondern als autonome Vollkommenheiten, mit denen verglichen eher die Gegenwart dürftig und schal erscheint. Man entdeckt auch die künst- lerische Schöpferkraft des namenlosen einfachen Volkes, die Sagen, Legenden, Spruchweisheiten, die sich aus unbekannter Vorzeit erhalten haben. Hier hat das Organische Gestalt, hier ist das Einzelne aufgehoben im Allgemeinen. Aber in dieses eifrige Sammeln mischt sich auch Trauer und Eifersucht, Man weiß, daß man etwas Unzeitgemäßes tut und daß der Siegeszug des atomisierenden Verstandes nicht aufzuhalten ist. Darüber hinaus fühlt man, daß man selbst weit entfernt ist von der blühenden Unbewußt- heit, die man feiert. Alle Romantiker waren klug, für sich selbst viel zu klug. Sie selbst weilten nicht im Paradies der Unbewußtheit und wußten ge- nau, daß der Weg dorthin zurück durch den Cherub mit dem Flammenschwert des Verstandes verwehrt war. Auf allerlei Weise wurde versucht, die Vergangenheit noch einmal zu lebenserfüllter Gegenwart zu machen: Schinkel wollte auf dem 358 eipziger Platz zu Berlin eine gotische Kathe- Idrale bauen, Turnvater Jahn ging halsfrei und |langbärtig umher und sprach ein knorriges Alt- ideutsch eigener Erfindung, alle romantischen ^Dichter versuchten irgendwann, den schlichten Ton der alten Lieder und Märchen nachzuahmen, aber solche Versuche mußten fehlschlagen an der mächtigen Realität einer zielbewußt voranstre- benden bürgerlich-tätigen Welt. Dies wird nun zum Hauptthema romantischer Erzählungskunst, und hier findet sie ihre echtesten Töne. Man berichtet von genialen, ,, poetischen" Charakteren, die ihrer romantischen Berufung folgen müssen und an der Nüchternheit der neuen Welt scheitern, Märchen werden gedichtet, die von nichts anderm handeln als vom Glück der „Waldeinsamkeit", von der Untreue gegenüber dem romantischen Ideal und von der dann unausbleiblichen Kata- strophe. Immer schrieben die Romantiker ihre eigne Gescliichte. Sie hatten dauernd die Hand am eigenen Puls. „Die höchste Aufgabe der Bildung", so heißt es bei Novalis, „ist, sich seines transzendentalen Selbst zu bemächtigen, das Ich seines Ich zugleich zu sein." Weil die Romantiker nicht mehr unbe- wußt sein konnten, waren sie exzessiv bewußt und mußten sich selbst unaufhörlich beobachten. Auf der Suche nach dem, was sie selbst ganz unmittelbar von sich aus waren, traten sie eine Höllenfahrt in das Dunkel des Ichs an, und es war nur folgerichtig, daß dieser Weg niemals zum Ausgangspunkt zurückführte. Ahnungsvoll hatte Novalis einmal an Friedrich Schlegel geschrieben: 359 „Du bist von der Familie des Untergangs", und er hatte damit sagen wollen, daß der Prozeß der unerbittlichen, nie endenden Analyse gleich- bedeutend war mit der Zersetzung der eignen Substanz. Dies war aber nicht nur das persönliche Schicksal Schlegels, sondern das der ganzen Romantik und mit ihr der geistigen Welt Europas. Denn indem man das Unbewußte, das SchUchte: und Organische zum Gegenstand unablässiger Beobachtung machte, half man mit an seiner Auflösung. Immer kritischer wurde man, immer geistvoller und immer hellhöriger für das „Echte", — und doch gab es auf die tausend Fragestellungen immer nur Antworten, hinter denen sich aber- tausend neue Fragen erhoben. Der Verstand, der sich selbst kritisch gegenüberstand, das Gefühl, das sich selbst mißtraute, führten zu jenem Phänomen der „romantischen Ironie". Man lächelte, man spottete über sich selbst, bitter und wehmütig, weil man eben nicht einfach, problem- los und unreflektiert war. Gewiß, vieles in der Romantik war reines Spiel, ein intellektueller Übermut, ein Experimen- tieren mit Gedanken und Ideen, auf deren Konse- quenzen man neugierig war, und die man um so begeisterter aufnahm, je aphoristischer und para- doxer sie klangen. Philosophieren wurde zum Dichten, — Dichten zum Philosophieren, und die Buntheit und Abenteuerlichkeit des Spiels war oft wichtiger als das Ergebnis. Aber dennoch ist das tiefe Wahrheitsethos nicht zu verkennen, das den romantischen Denkprozessen zu Grunde lag. Man stellte die grundlegende Frage danach, was 360 denn der Mensch in seinem tiefsten Innern zuletzt sei, und in dem leidenschaftlichen Bemühen, darauf eine Antwort zu finden, ging man über alle Grenzen hinweg. Die geringeren Geister unter den Romantikern mochten sich damit begnügen, um das Verlorene, Vergangene zu trauern, sie mochten sich sogar über die Wirklichkeit der Vergangenheit betrügen, indem sie sich falsche Bilder vom Mittelalter oder vom Orient, von Volkstümlichkeit oder Genialität zurechtbauten. Die wahre große Romantik fing erst da an, wo jene schönen Dinge als unwiederbringlich ver- loren begriffen wurden, wo es keinen Rückweg in die Idyllik mehr gab, wo man die Tragik des Denkens begriff, das sich nach dem Glauben sehnt und doch nicht glauben kann. „Wenn ich beten könnte", sagt der ganz junge Schlegel von sich, ,, würde ich Gott nicht um Verstand sondern, um Liebe bitten." Aus jener Tragik kam der romantische Geistreichtum, die romantische Schwermut und der immer wieder von den Ro- mantikern geschilderte „Ennui". Die Selbsterkenntnis, die „Bemächtigung des transzendentalen Selbst" ist das fortwirkende Ergebnis der Romantik, das eigentliche Thema aller Philosophie bis auf den heutigen Tag. Hier liegt die weit über die Grenzen der Epoche und des Nur-Literarischen hinausreichende Bedeutung jener drei Jahrzehnte vom Ende der französischen Revolution bis zum Tode Beethovens. Hier be- ginnt die Neueste Zeit, in der wir uns befinden. Im Anfang der Romantik überwiegt das Theo- retische bei weitem die künstlerische Produktion. 361 In seltsamem Mißverständnis wird Goethes „Wil- i heim Meister" als der urromantische Roman auf- i gefaßt. Man stimmt überein mit der Tendenz | dieses epochemachenden Buches, das Leben selbst I zur Kunstform zu machen, aber erst Novalis be- i greift auch dessen tiefe Resignation, die er nicht gelten lassen will. Für ihn ist der ,, Wilhelm Meister" ein Verrat am Poetischen, nämlich weil dieses dem ,, Merkantilen" untergeordnet wird. Sein ,, Heinrich von Ofterdingen" soll eine Art Anti-Meister weiden, — nicht darauf soll es an- kommen, das Leben zur Kunst, sondern umge- kehrt die Kunst, die ,, Poesie" zur Lebensform zu machen. Das Werk bleibt ein großartiger Torso, ebenso wie Tiecks Künstlerroman ,,Sternbald" und später Brentanos „Godwi" oder Hoffmanns „Kreisler". Allerdings entsprach das Fragmen- tarische der Theorie der Romantik. Das „Unend- liche", das man erfassen wollte, ließ sich nicht in die Rundung und Begrenztheit einer geschlosse- nen Form bringen. Einzig Jean Paul hatte den langen Atem für den großen Roman. Nach der Jahrhundertwende, die Wackenroder nicht mehr und Novalis nur um ein Jahr überlebte, entfernten sich Theorie und künstlerische Gestaltung der Romantik von einander. Die Schlegels vertiefen sich in ihre literarhistorischen, philosophischen und philologischen Arbeiten, Tieck dagegen ent- wickelt sich zu einem phantasievollen sprach- begabten Erzähler ersten Ranges, — und gleich- zeitig kommt eine große Anzahl von jungen Dichtern auf, die schon ganz in der romantischen Luft aufwachsen und sich — mehr und mehr 362 inbekümmert um die weltanschaulichen Probleme 1er Neunziger Jahre — zu ihrer künstlerischen leife entwickeln: Brentano, Arnim, Hoffmann, Zhamisso, Eichendorff, Heine, Immermann, Pla- en, Hauff, Uhland, Lenau, und viele andre. Das sonderbare. Abseitige, Gespenstische wird nun um Hauptthema aller romantischen Dichtung, 5ine Antwort auf die großen Fragen ist nicht gegeben worden, — so hält man sich an den Ein- :elfall, an die eigenartige Gestimmtheit, an das ndividuelle ungewöhnliche Schicksal. Und damit zeichnet sich schon der Weg der iveiteren Entwicklung vor: mit der Zeit wird die R.omantik ihres eigenen Gedankenfeuerwerks, hres Fragezwanges und ihrer ins Unendliche strebenden Sehnsucht müde, — sie beginnt nach R.uhe zu suchen. Viele jener Schriftsteller und Dichter, die als Libertiner und Jacobiner begon- nen haben, suchen Zuflucht im Schoß der katho- ischen Kirche oder bei der politischen Reaktion. Andre überlassen sich einer schwermütigen Ironie, iinem düsteren Unglauben, oder aber sie stellen die Unrast ihrer Seele in gespenstischen Bildern siner von dämonischen Kräften beherrschten Welt heraus. Schließlich geschieht auch noch das Letzte: die Romantik verliert ihre Angriffslust und wird zur gemütlichen Idylle, zur innigen Kleinmalerei, die von Titanen nun schon nichts mehr wissen will und daher einem arbeitsamen erfolgreichen Bürgertum höchst willkommen als Erholung und Belustigung für die Mußestunden ist. Dieser letzte Seitentrieb der romantischen Be- 363 wegung, der auf seltsame Weise ihrem ersten zarten Beginn, den liebevollen Kunstphantasien von Wackenroders Klosterbruder, ähnelt, blüht durch das ganze 19. Jahrhundert, und es ist ziem- lich willkürlich, wo man das Ende der Romantik ansetzt, bei Eichendorff oder bei Gottfried Keller, bei Möricke oder bei Wilhelm Raabe. Daneben, jedoch läuft als erregende Erbschaft romantischen Philosophierens der zeitweilig verschwindende, aber immer wieder hervorbrechende Strom des unendlichen Fragens, des quälerischen sich selbst Durchforschens, des Suchens nach dem letzten j festen Kern des Ichs. Der völkische Nationalismus, die Träume von der Wiederherstellung einer mittelalterlichen Gesellschaftsordnung, die Feind- schaft gegen den Rationalismus und gegen den Merkantilgeist, die Sehnsucht nach der umfas- senden Religion, alle jene romantischen Ideen, die heute oft so fatal wörtlich genommen werden, verblassen vor der Aufgabe der Selbsterforschung, für deren Lösung dem Menschen keine andern Werkzeuge gegeben sind als sein wacher Verstand und seine unbestechliche Wahrheitsliebe. 364 INHALTSVERZEICHNIS SEITE -UDWIG TIECK Der blonde Eckbert 5 JflLHELM WACKENRODER Ehrengedächtnis unseres ehrwürdigen Ahnherrn Albrecht Dürers 33 FRIEDRICH VON SCHLEGEL Treue und Scherz 45 MOVALIS Klingsohrs Märchen 56 ZLEMENS BRENTANO Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl 95 'EAN PAUL a. Das Glück eines schwedischen Pfarrers . . . 143 b. Die Doppelrgänger 148 c. Der Traum im Traum 155 \CHIM VON ARNIM Der tolle Invalide auf dem Fort Ratonneau . . . 163 1. T. A. HOFFMANN Rat Krespel 195 fOSEPH VON EICHENDORFF Aus dem Leben eines Taugenichts 228 EDUARD MÖRIKE Mozart auf der Reise nach Prag 258 Biographische Notizen 345 Nachwort 353 365 IM FORUM ERSCHEINEN: VICKI BAUM stud. ehem. Helene Willfüer Roman ANNETTE KOLB Das Exemplar Roman EMIL LUDWIG Napoleon HEINRICH MANN Die kleine Stadt Roman THOMAS MANN Die schönsten Erzählungen Tonio Kroger, Unordnung und frühes Leid, Tod in Venedig, Mario und der Zauberer ALFRED NEUMANN Der Patriot Roman ARTHUR SCHNITZLER Flucht in die Finsternis und andere Erzählungen FRANZ WERFEL Die vierzig Tage des Musa Dagh Roman — Zwei Bände STEFAN ZWEIG Maria Stuart DIE SCHÖNSTEN ERZÄHLUNGEN DEUTSCHER ROMANTIKER , ' Arnim, Brentano, Eichendorff, E. T. A. Hoffmann, Mörike, Novalis, Jean Paul, Schlegel, Tieck, Wackenroti BRIEFE DEUTSCHER MUSIKER , Bach, Beethoven, Brahms, Gluck, Händel, Haydn, ' Mendelssohn, Mozart, Schubert, Schütz, Schumann, Wagner, Weber Herausgegeben von Alfred Einstein JEDER BAND: Hfl. 1.25 366 ^_ University of Toronto to o C-2 to -p Library 0) r-i DO NOT ^ REMOVE / »3 THE // f3 0) -p to CARD 11 FROM Vi CO (D Vi •H +3 THIS \ o POCKET X Acme Library Card Pocket O CO • CD C3 to .1 CD LOWE-MARTIN CO. LIMITED